Die sechste Koalition von 1812 bis 1814…
"Napoleon Bonaparte - Emperor"
Gemälde von Robert-Jacques-François-Faust Lefèvre in »The Wellington Collection« (Apsley House, London, UK).
Bildquelle: ► »art uk« (public art collection in the UK).
"Napoleon"
Colorierte Lithografie von Francois Gernier. Motiv aus dem 120 Tafeln umfassenden Werk »Politisches und militärisches Leben von Napoleon« von A.V. Arnault; Druck C. Motte, Librairie Historiquem (Paris 1822).
Bildquelle: Befreundeter Sammler.
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"In drei Monaten wird es erledigt sein!" hatte Napoleon – seit dem 2. Dezember 1804 selbsterklärter Kaiser von Frankreich und Protektor eines Staaten-Gebildes, das inzwischen halb Europa umfasste – seinen Vasallen versichert, die am 16. Mai 1812 in Dresden zu einer Konferenz zusammengerufen worden waren. Einbestellt waren Kaiser Franz I. von Österreich, durch Napoleons macht-politische Heirat mit Marie-Louise von Österreich inzwischen Schwieger-Vater des Imperators; der Gastgeber, König Friedrich August I. von Sachsen; sowie die Könige Maximilian I. Joseph von Bayern, Friedrich Wilhelm III. von Preussen, Friedrich I. von Württemberg, Joachim Murat von Neapel und Napoleons jüngerer Bruder Jérôme Bonaparte, von diesem zum König des Modell-Staates Westphalen gekrönt; die Großherzöge und Herzöge der deutschen Klein-Staaten, die Marschälle des Kaiser-Reichs und die Generäle der Rheinbund-Truppen. Und obwohl die durch Napoleons Gnade erhobenen bzw. von seiner Gunst abhängigen Monarchen sich von der veranstalteten Heer-Schau ausgewählter Einheiten eigener Armeen und der Parade der zwischen Februar und März neu uniformierten Kaiser-Garde begeistert gezeigt hatten, war die anfänglich zur Schau gestellte Freundschaft und Bewunderung bald nach Eröffnung der Versammlung in Sorge, Angst und – den Protokollen nach – in Ablehnung und offen vorgetragene Feindseligkeit umgeschlagen, denn an diesem Samstag hatten ihre schlimmsten Befürchtungen Bestätigung gefunden: Napoleon verkündete seine Pläne zur Unterwerfung des restlichen Teils des europäischen Kontinents: Die Eroberung Russlands.
Vielen der anwesenden Hoch- und Wohl-Geborenen waren die schlechten Straßen und Wege Russlands bekannt. Die ausgelegten Karten ließen die Frage aufkommen, wie das Okkupations-Heer angesichts der gewaltigen Entfernungen versorgt werden soll; wie die sich mit dem Ein- und weiteren Vormarsch stetig verlängernden Nachschub-Routen gesichert werden können. Einige brachten die spärliche Besiedlung in Erinnerung, was der bislang praktizierten Selbst-Versorgung der Truppen entgegenstand; andere warnten vor den klimatischen Extremen; vor staub-trockenen Steppen im Sommer, vor eisiger Kälte und Schnee-Stürmen im Winter und vom Dauer-Regen verschlammten Wegen in den Zwischen-Zeiten. Darüber hinaus waren rund 250.000 französische und deutsche Soldaten in dem seit 1808 auf der Iberischen Halb-Insel erbittert geführten Krieg gegen Briten, Portugiesen und spanische Guerillas gebunden; in Braunschweig schlugen sich immer wieder die eigentlich miteinander verbündeten französischen und westphälischen Soldaten untereinander; in Preussen und Sachsen zeigten sich insbesondere die Studenten immer renitenter…
Napoleon fegte sämtliche Bedenken der vorgeladenen Hoheiten vom Tisch: Seit über einem Jahr hatte er Informationen über die politische, gesellschaftliche, militärische und wirtschaftliche Lage in Russland eingeholt. Er hatte Reise-Beschreibungen, Wetter-Berichte und Karten-Werke studiert und die Geschichte des Russland-Feldzugs Karls XII gelesen. Französische Agenten, litauische Adelige und polnische Offiziere haben die Stärken der russischen Garnisonen in den mittelalterlich befestigten Städten erkundet und detaillierte Pläne gezeichnet. Die Grenzen zwischen Russland und Ost-Preussen bzw. Polen-Litauen waren weitestgehend ungeschützt; auch hatte man entlang der Marsch-Route in Richtung der russischen Hauptstadt Moskau keine nennenswerten Truppen-Verbände ausmachen können. Seit über einem Jahr waren im besetzten Preussen und im verbündeten Herzogtum von Warschau Depots angelegt und mit Vorräten gefüllt worden, die für eine halbe Million Soldaten über den Zeit-Raum eines Jahres genügen sollten; über 6.000 Fuhr-Werke standen für Transporte bereit. Das auf den Feldern der russischen Ebenen wachsende Getreide lasse Anfang Juli eine reiche Ernte erwarten; für die Pferde war in den ausgedehnten Steppen-Regionen genügend Futter gegeben. Als größten Vorteil stellte Napoleon jedoch Zeit und Geschwindigkeit und die daraus resultierende Überraschung heraus. Er beschrieb die russische Armee als schwerfällig, undiszipliniert und schlecht ausgebildet, dazu unzureichend ausgerüstet und minderwertig bewaffnet und vor allem "misérable" geführt, dazu in den seit geraumen Zeiten währenden Kriegen im Süden gegen das Osmanische Reich -, im Osten gegen aufständische Tataren und im Norden gegen die Schweden verwickelt. Noch bevor Zar Alexander seine europäischen Reserven in Bewegung setzen oder kampf-erfahrene Truppen von den Grenzen heranziehen könnte, ist Moskau gefallen und Russland gewonnen. Spätestens Ende September wird der Zar kapitulieren und noch vor dem Winter wird Napoleon im Triumph in den Kreml-Palast einmarschieren. In knapp sechs Wochen soll der Angriff beginnen.
So der Plan.
Dass es dem weitestgehend allein stehenden Russland noch vor Beginn des Feldzuges gelingen sollte, eine neue Koaltion zu begründen, die letztendlich den Untergang des französischen Kaiser-Reiches herbeiführen sollte, war für Napoleon in Anbetracht seiner gigantischen Streit-Macht unvorstellbar…
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Russland-Feldzug von 1812…

"Napoleon am Lagerfeuer, 1812" Gemälde von Walenty Wańkowicz im »Cyfrowe Muzeum Narodowe w Warszawie National« (Museum Warschau, POL).
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Russisch: "Отечественная война 1812 г." (Vaterländischer Krieg 1812)
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"Alexander I. Pawlowitsch Romanow, Zar von Russland." Gemälde von Baron François Pascal Simon Gérard um 1814 im »Musée national des châteaux de Malmaison et de Bois-Préau« (FRA). Bildquelle: »Joconde« (Collections des musées de France).
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Nach der Niederlage in der Schlacht bei Friedland am 14. Juni 1807 hatte der russische Zar Alexander I. mit Kaiser Napoleon am 7. Juli 1807 den für das russische Offiziers-Korps als auch für große Teile des russischen Adels demütigenden Frieden von Tilsit geschlossen. Zwar beinhaltete der "Freundschafts-Vertrag unter Gleichen" eine von beiden Seiten detailliert abgestimmte Aufteilung der Welt in eine französische und eine russische Interessens- und Einfluss-Zone, doch war für die meisten deutschen bzw. russischen Verwandten des Zaren, die über deutsche Klein- und Kleinst-Staaten herrschten, die grundsätzliche Anerkennung des Rhein-Bundes -, die territoriale Halbierung Preussens (wobei Russland ohne Zögern Napoleons Angebot angenommen hatte, große Teile der im Rahmen der dritten Teilung Polens an Preussen gegangenen Provinz Neu-Ostpreussen zu annektieren) -, vor allem aber das neu gegründete Herzogtum von Warschau nicht akzeptabel. Besonders umstritten waren einige geheime Zusatz-Vereinbarungen, in denen die russischen Pläne, die von Schweden besetzten Teile Finnlands zu erobern, von Napoleon nur gebilligt wurden, so Russland eine "immerwährende" Neutralität erklären und sich von nun an aus sämtlichen Entwicklungen innerhalb Zentral-Europas und an der Adria heraushalten würde (für die Souveränität einiger Klein-Staaten hatte Russland seine mediterranen Handels- und Hafen-Städte im Ionischen Meer an Frankreich abtreten müssen).
"Napoléon reçoit la reine Louise de Prusse à Tilsit." 6. Juli 1807 – Vierter Koalitionskrieg: Monarchen-Treffen in Tilsit – Napoleon empfängt Königin Luise von Preussen. Gemälde von Nicolas Louis Francois Gosse im »Château de Versailles« (Paris, FRA).
6. Juli 1807 – Vierter Koalitionskrieg: Monarchen-Treffen in Tilsit – Luise und Napoleon in Tilsit. Gemälde von Rudolf Eichstaedt im »Ostpreussischen Landesmuseum« (Lüneburg, GER).
Anmerkung
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Obwohl Zar Alexander die von Napoleon angestrebte Komplett-Auflösung des preussischen Staates hatte abwenden können, würden die dafür vom Kaiser diktierten Friedens-Bedingungen das verbliebene preussische König-Reich in absehbarer Zeit komplett ruiniert haben. Mit dem Ziel, die Verhandlungen anstelle ihres diplomatisch als auch rhetorisch nur sehr beschränkt agierenden Mannes fortsetzen und die von Napoleon bestimmten Auflagen abmildern zu können, reiste Königin Luise von Preussen auf Drängen der preussischen Berater nach Tilsit. Und obwohl der triumphierende Sieger von der schönen, patriotischen und vor allem intelligenten Königin fasziniert gewesen war – anerkennend bezeichnete er die von ihrem Volk vergötterte Regentin nach einem etwa einstündigen Gespräch unter vier Augen als "den einzigen Mann Preussens" –, sah er in der preussischen Königin eine Macht, der es gelingen könnte, den zusammengebrochenen Staat und die zerschlagene Armee erneut gegen Frankreich mobilisieren zu können. Napoleon verweigerte Luise jegliche Zugeständnisse: Preussen wurde von einer einflussreichen europäischen Groß-Macht zu einem Puffer-Staat zwischen dem französischen und dem russischen Imperium degradiert. Die preussische Armee wurde nach den Pariser Verträgen vom 8. September 1808 von 240.000 Mann auf 42.000 Soldaten reduziert, wovon im Kriegs-Fall die Hälfte als Hilfs-Korps der französischen Armee zu unterstellen war.
"Treffen des russischen Zaren Alexander (links), des französischen Kaisers Napoleon (Mitte) und des preussischen Königs Friedrich Wilhelm III. (rechts) auf einem Floß im Nemunas bei Tilsit im Jahr 1807." Farbstich von Friedrich Jügel nach einer Zeichnung von Ludwig Wolf in der Sammlung der »Österreichischen Nationalbibliothek« (Wien, AUT).
"Napoleon und Alexander I. beim Treffen in Tilsit." Illustration von Alexei Kiwschenko aus dem Album zum Roman des Grafen L. N. Tolstoi "Krieg und Frieden", 1893. Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
"Adieux de Napoléon Ier et d'Alexandre Ier après l'entrevue de Tilsitt." 9. Juli 1807: Abschied von Napoleon I. und Alexander I. nach dem Treffen in Tilsit. Gemälde von Gioacchino Serangeli im »Château de Versailles« (Paris, FRA).
1809 hatte die russische Armee gemäß den Tilsiter Verträgen ein rund 20.000 Mann starkes Beobachtungs-Korps nach Wolhynien zu entsenden, das nunmehr auf Seiten Frankreichs am Krieg gegen Österreich teilnehmen musste und somit schließlich zum Ausscheiden eines weiteren Gegners Napoleons beitrug.
Die fünfte anti-französische Koalition war damit gescheitert.
Perspektivisches Ziel Napoleons war es, Russland für ein Zweck-Bündnis gewinnen und dessen aggressive Expansions-Bestrebungen vom Baltikum und vom Balkan ablenken und dafür die Idee der Wieder-Auferstehung des Byzantinischen (orthodoxen) Reiches unter Führung von Alexanders Bruder Konstantin Pawlowitsch erwecken und von Konstantinopel aus weit über das Schwarze Meer hinaus hin zum Persischen Golf und Zentral-Asien leiten zu können. Nach dem England bereits seine reichen Besitzungen in der "Neuen Welt" hatte verloren geben müssen, würde der Verlust der orientalisch-indischen Kolonien und Handels-Märkte das gesamte Empire in eine schwere wirtschaftliche und finanz-politische Krise stürzen und in absehbarer Zeit ruinieren. Nötige Spar-Maßnahmen hätten Folgen für den Unterhalt der allmächtigen "Royal Navy"; der britische Einfluss auf Kontinental-Europa wäre gebrochen…
Teil des Tilsiter Vertrages war die Verpflichtung, dass sich Russland der von Napoleon mit Dekret vom 21. November 1806 verhängten Handels-Blockade britischer Waren und Rohstoffe anzuschließen und die alten baltischen Hanse-Häfen zu schließen habe, womit nicht nur die russischen Einkäufer bald erhebliche finanzielle Verluste zu beklagen hatten, sondern auch die Ausfuhr von russischem Getreide, Holz, Pökel-Fleisch und sibirischen Pelzen nicht mehr möglich war. Bereits ein Jahr nach dem Frieden von Tilsit hatte sich der russische Außen-Handel mehr als halbiert. Die damit einhergehenden Zoll- und Steuer-Ausfälle brachten die ohnehin schon defizitäre russische Staats-Kasse in eine gefährliche Schieflage, was wiederum zur Folge hatte, dass Moskau an den Börsen von London, Wien, Brügge und Amsterdam als nur noch bedingt kredit-würdig eingestuft wurde. Der Silber-Rubel verlor bis zu drei Viertel seines Edelmetall-Anteils und entsprechend an Wert. Die Finanzierung der im Norden, Osten und Süden währenden Grenz-Kriege als auch die Anstrengungen zur Verstärkung und Aufrüstung der West-Armee, die sekundär die drohende Wieder-Errichtung eines polnischen Königtums verhindern sollte, primär aber den früher oder später ausbrechenden Entscheidungs-Kampf mit Napoleon auszufechten hatte, waren mit immer größer werdenden Schwierigkeiten verbunden. Zwar hatte der Kaiser dem Zaren im Jahr 1808 als auch im Jahr 1810 den Vorschlag zur Schaffung einer russisch-französischen Allianz eröffnet, die mittels einer Ehe zwischen Napoleon und einer der Schwestern des Zaren besiegelt werden sollte, doch befürchtete Alexander, dass im Ergebnis einer derartigen Beziehung die Krone des russischen Reiches an die hier zu erwartende Erb-Folge bzw. in absehbarer Perspektive direkt an Napoleon fallen könnte. Und war Napoleon infolge der brüskierenden Ablehnung seiner Heirats-Anträge schon europa-weit blamiert, verschlechterte die Nachricht, dass Russland seine Ostsee-Häfen für neutrale Länder wieder geöffnet hatte, die französisch-russischen Beziehungen in der Art, dass Napoleon zur Überzeugung kam, mit Russland einen Gegner ausgemacht zu haben, der ihm ebenso feindlich gesonnenen war, wie das britische Empire.
Eine überraschende Allianz bot sich Napoleon dann mit dem vom österreichischen Außen-Minister Klemens Wenzel Lothar von Metternich Ende März 1810 angetragenen Vorschlag einer Heirat mit Marie-Louise von Habsburg, Tochter des amtierenden Kaisers Franz I. von Österreich. Und so Metternich darauf zielte, das verbliebene Staaten-Gebilde Österreichs territorial zu erhalten bzw. weitere existenzielle Gefährdungen abzuwenden, so sah der französische Kaiser in diesem Zweck-Bündnis vor allem die Perspektive, das Habsburger Kaisertum seiner Monarchie unter- und das Habsburger Reich dauerhaft in sein Imperium einzuordnen. Schon am 1. April 1810 fand in Saint-Cloud eine zivile und am 2. April 1810 eine kirchliche Trauung statt (am 7. Dezember 1811 wurden in Paris Vereinbarungen zwischen Napoleon und dem Haus Habsburg, vertreten durch Botschafter Karl Philipp zu Schwarzenberg, getroffen, auf deren Grundlage schließlich am 14. März 1812 der Pariser Vertrag über die Französisch-Österreichische Union geschlossen wurde).
"Le cortège du mariage de Napoléon Ier et Marie-Louise traversant le jardin des Tuileries" 2. April 1810: Der Hochzeitszug von Napoleon I. und Erzherzogin Marie-Louise durch den Garten der Tuilerien. Gemälde von Etienne Barthelemy Garnier im »Château de Versailles« (Paris, FRA).
8. November 1810 – Europäische Kontinentalsperre: Öffentliche Verbrennung der englischen Waren auf dem Fischerfeld bei Frankfurt a. Main. Gemälde von Johann Carl Wilck im »Historisches Museum Frankfurt« (Frankfurt a. M., GER)
Anmerkung
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Der Schmuggel von qualitativ hochwertigen Gütern aus britischen Manufakturen konnte seitens der französischen Zoll-Behörden trotz hoher Strafen nie unterbunden werden, waren doch Stoffe, Gewürze, Tabak, Früchte oder Kaffee aus den britischen Kolonien inzwischen auch in Frankreich und den Rheinbund-Staaten begehrte Luxus-Güter. Offiziell wurde die beschlagnahmte Konterbande in spektakulären Verbrennungen vernichtet. Beispielsweise wurden in Frankfurt am Main am 8. November Waren im Wert von 800.000 Gulden verbrannt. Da viele französische Zöllner jedoch selbst am lukrativen Handel beteiligt waren, endeten in den fünf großen Verbrennungen auf dem Frankfurter Fischerfeld bis zum Ende des Jahres 1810 tatsächlich aber nur zu etwa zehn Prozent der beschlagnahmten Güter in den Flammen; die fehlenden Mengen waren durch minderwertige Produkte ersetzt worden.
Im März 1810 hatte der französische Außen-Minister Jean-Baptiste Nompère de Champagny dem Kaiser einen geheimen Bericht vorgelegt, aus dem hervorging, dass die britische Regierung (zu der Zeit einziger aktiver Gegner des Napoleonischen Imperiums) Russland als den zuverlässigsten Verbündeten für den weiteren Kampf gegen das Kaiser-Reich eingestuft hatte. Ab dem Spät-Sommer 1810 wurden dann im Schwarzen Meer und in der Ostsee mehr und mehr Schiffs-Konvois ausgemacht, die zwar alle möglichen neutralen Fahnen zeigten, in russischen Häfen jedoch größtenteils britische Güter landeten. Da es für Frankreich nach der Vernichtung seiner Kriegs-Flotte im Ergebnis der Schlacht von Trafalgar bzw. in Anbetracht der daraus resultierenden britischen Vorherrschaft auf den Welt-Meeren nicht möglich war, seinen gefährlichsten Gegner zur See gegenübertreten zu können -, die bei einem direkten Angriff auf die britischen Inseln angesichts der vor sämtlichen französischen Häfen patrouillierenden Kriegs-Schiffe zu erwartenden Verluste den Ausgang der gesamten Operation gefährden würden (zumal die britische Flotte auch im Fall einer glücklichen Landung vorhanden wäre), blieb zur Sicherung der französischen Vormacht auf dem Kontinent nur die Option, jeden potentiellen Alliierten des britischen Empires in der Art nachhaltig zu bezwingen, dass England keine Allianz-Partner mehr ausmachen könnte und im Ergebnis isoliert wäre. Ein Krieg mit der letzten verbliebenen Groß-Macht wurde damit unvermeidlich.
Am 31. Dezember 1810 führte Russland den Frei-Handel ein. Napoleon sah in dieser Entscheidung einen Bruch des Tilsiter Abkommens, doch konnte er nicht verhindern, dass britische und russische Kaufleute wieder ins Geschäft kamen und in kürzester Zeit enorme Gewinne machten. Infolge zwischenzeitlich geschlossener Steuer-Schlupflöcher -, aufgrund energischer Maßnahmen gegen die auf allen Ebenen etablierte Korruption -, vor allem aber durch das Wirken einer effektiver arbeitenden Steuer-Verwaltung begannen sich auch die Schatz-Kammern des Zaren wieder zu füllen. Und als sich darüber hinaus Ende des Jahres 1810 auch noch Berichte bestätigten, dass die russische Regierung Schutz-Zölle und Luxus-Steuern für importierte Waren und Güter – insbesondere für Weine und Liköre, Stoffe und Duft-Wässer aus Frankreich – erhob und gleichzeitig den Schmuggel britischer Kolonial-Waren von den Häfen in Riga, Reval und St. Petersburg nach Schwedisch-Pommern und Oldenburg-Bremen-Lübeck und von dort aus über Frankfurt am Main hinein nach Frankreich unterstützte, war Napoleon außer sich: Am 1. Januar 1811 annektierten französische und westphälische Soldaten überraschend das seit Oktober 1808 zum Rhein-Bund gehörige jedoch laut dem Frieden von Tilsit souveräne Herzogtum Oldenburg samt dem zugehörigen Fürstentum Lübeck. Herzog Peter von Oldenburg ging am 27. Februar 1811 ins russische Exil, was das angespannte Verhältnis zwischen Russland und Frankreich weiter verschärfte; war doch Herzog Peter der Adoptiv-Sohn der russischen Zarin Katharina II., Schwieger-Vater der Tochter des Zaren Paul I., über seine Frau Onkel des Zaren Alexander und damit enger Verwandter der Zaren-Familie und aufgrund lang-jähriger Dienste als russischer Offizier auch eng mit dem Zaren-Reich verbunden. Die Besetzung von Oldenburg-Bremen wurde nun von russischer Seite als Bruch des Tilsiter Friedens bewertet.
Einstweilig wurden erst einmal sämtliche verfügbaren Einheiten der gefürchteten französischen Zoll-Brigaden, die bis dahin die Kontinental-Sperre in den holländischen und deutschen Hafen-, Küsten- und Messe-Städten -, an der Rhein-Grenze sowie an Elbe und Weser durchzusetzen hatten, nach Osten verlegt und deutlich verstärkt.
Le Personnel des Douanes impériale - Die Amtsmannschaften der kaiserlichen Zoll-Brigaden. Motive aus dem monumentalen Postkarten-Werk "Les Uniformes du 1er Empire" von Eugène Louis Bucquoy. V.l.n.r.: Contrôleur de Brigades (1807), Lieutenant (Tenue de Campagne, 1813), Brigadier (Douanier à Cheval, 1812) (Quelle: eigene Sammlung)
Am 19. April 1811 fasste Napoleon dann den Entschluss, seine wiederaufgenommenen Planungen zur Invasion Britanniens erneut abzubrechen und mit den Vorbereitungen eines Feldzuges gegen Russland zu beginnen.
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Waren die Vorbereitungen des Kaisers zu Beginn des Jahres 1811 noch auf das strategische Ziel gerichtet, Russland zu einem Angriff auf das verbündete Herzogtum Warschau zu provozieren und die russische Armee mit vereinten Kräften an der Weichsel vollständig zu vernichten, in dem er die Bestrebungen seiner polnischen Verbündeten zur Schaffung eines neuen König-Reiches unterstützen würde, so hatten seine Planungen im Früh-Sommer 1811 bereits erste Merkmale eines Offensiv-Krieges angenommen: Unter Berücksichtigung der Forderungen seiner polnischen Verbündeten, die zwischen 1772 und 1795 an Österreich, Preussen und Russland verlorenen Gebiete der untergegangenen polnisch-litauischen Adels-Republik (Rzeczpospolita) wieder zurückzugewinnen, dabei jedoch nicht zu riskieren, dass die preussischen "Verbündeten" im Norden oder die angeheirateten österreichischen "Verwandten" im Süden die Gelegenheit zu einem überraschenden Flanken-Angriff nutzen, sollte die russische Armee bereits mit dem Überschreiten der polnisch-russischen Grenze durch einen schnell und massiv geführten Gegen-Angriff zerschlagen werden. In beiden Fällen konnte Napoleon sich als Bewahrer des Friedens und Protektor seines Staaten-Bundes inszenieren und ging davon aus, dass es ihm in dieser Position weitaus leichter fallen würde, im Rahmen der anschließenden Friedens-Verhandlungen mit dem Zaren den Grenz-Verlauf zwischen dem französischen und dem russischen Imperium neu abzustecken. Nach seinen Vorstellungen sollte die Grenze wieder dem Lauf des Dnjepr vom Schwarzen Meer hinauf nach Smolensk und von dort aus über die Düna nach Riga an der Ostsee folgen. Weiter in das Landes-Innere Russlands vorzudringen, war zu diesem Zeit-Punkt nicht geplant; die Kampf-Handlungen sollten in diesen Planungen nur in den östlichen Teilen der ehemaligen Großfürstentümer von Litauen und Kiew stattfinden.
Schon Anfang des Jahres 1811 hatte Marschall Michel Ney in Boulogne, Haupt-Quartier des "Corps d’observation de l’Océan", die Order bekommen, die dort für die Invasion Englands in Ausbildung befindlichen bzw. bereit stehenden Einheiten unauffällig in das Rhein-Main-Gebiet zu verlegen. Schon am 15. Februar bezog Ney in Mainz sein neues Haupt-Quartier, wo er den offiziellen Befehl durchzusetzen hatte, den um Frankfurt und entlang der Rhein-Grenze "ausufernden" Schmuggel zu unterbinden, dabei die Ausbildung neuer Rekruten voranzubringen und sein Corps marsch-bereit zu halten. Ein ebenfalls mit Datum vom 15. Februar 1811 unterzeichnetes Dekret befahl ein außerordentlich umfangreiches Aufrüstungs-Programm, in dessen Ergebnis aus dem Observations-Corps eine zweite oder neue "Grande Armée" wiedererstehen sollte. Als dann im Sommer 1811 aus Warschau die Meldung eintraf, dass der russische Zar dem polnischen Kron-Rat das vollkommen überraschende als auch verlockende Angebot unterbreitet hat, Litauen wieder freigeben und der Wieder-Errichtung eines groß-polnischen König-Reiches zustimmen zu wollen, so die polnischen Magnaten die russischen Sicherheits-Interessen akzeptieren und einen von Russland vorgeschlagenen König wählen würden, fürchtete Napoleon, dass sich seine polnischen Verbündeten mit der Wieder-Herstellung ihres vermeintlichen Großmacht-Status zufrieden geben könnten, was nicht nur die Ablösung des von ihm eingesetzten "Duc de varsovie" (frz. Herzog von Warschau; in Person der König von Sachsen) zur Folge haben würde, sondern auch, dass in dieser Konstellation ein vom Kreml gelenkter Satelliten-Staat entsteht. Darüber hinaus bestätigten sich dann auch noch Berichte, dass die seit fast genau 100 Jahren vor sich hin werkelnde russische Waffen-Fabrik in Tula zeitgemäß modernisiert worden war und die Produktion qualitativ als auch quantitativ erheblich gesteigert hatte – zusammen mit den Lieferungen aus der St. Petersburger Gewehr-Fabrik erhielt die russische Armee jährlich 60.000 neue Musketen – und Woche für Woche neue Rekruten für die russische West-Armee ausgehoben wurden, die Monat für Monat neue Regimenter aufstellte und grenznah über eine Linie von über 450 Kilometern mit Haupt-Quartieren in Waukawysk (heute Wolkowysk, Belarus), um Wilna (heute Vilnius, Litauen) und in Wolyn in der Nähe von Luzk (heute Ukraine) konzentrierte.
Napoleon sorgte sich, dass seine Plan-Spiele weitaus früher in Erfüllung gehen konnten, als von ihm vorgesehen. Eilends überarbeitete er seine Vorbereitungen zum geplanten "Zweiten polnischen Feldzug", der nun zum Präventiv-Krieg erklärt wurde. Neue strategische Ziel-Setzung war die vollständige militärische Vernichtung -, die größtmögliche politische Entmachtung und eine umfängliche territoriale Neuordnung Russlands binnen Jahres-Frist.
"Das alles ist Dein! C'est pour toi! Все это для тебя!"
20. März 1811 – Tuilerien-Palast, Paris: Geburt von Napoleon François Charles Joseph Bonaparte, Sohn von Napoleon I. und Marie-Louise (Tochter von Kaiser Franz I. von Österreich; Napoleons zweitem macht-politischen Ehe-Bund).
Postkarte mit einem Motiv nach einem Gemälde von Oskar Rex.
"Kaiser Napoleon I. und sein Stab" (rechts Marschall Ney)
Neben seinen Planungen zur Feldzugs-Logistik tauchte Napoleon immer wieder unangekündigt in den Garnisonen, Sammel- und Ausbildungs-Lagern seiner Armee auf und inspizierte die Truppen.
Gemälde von Emile-Jean-Horace Vernet »Rijksmuseum« (Amsterdam, NL).
"Einzug Napoleons in Düsseldorf am 3. November 1811"
Colorierte Lithographie von Johann Petersen in der Sammlung des »Stadtmuseums Düsseldorf« (Düsseldorf, GER).
"Patrouille sur la Vistule" (Patrouille an der Weichsel).
Gemälde von Mariusz Kozik.
Bildquelle: ► Mariusz Kozik auf »facebook«.
"Légion de la Vistule, Lancier, 1808."
Aquarellierte Zeichnung von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993).
Bildquelle: ► eigene Sammlung.
"Napoleon und Daru."
Gemälde von Charles de Steuben für die Privat-Sammlung des Zaren Alexander III., Nowotsarskoje-Selo-Palast (heute Alexander-Palast, Moskau).
Bildquelle: ► »varvar« (russische Künstler-Community).
Pierre Antoine Daru, General-Inspekteur der Armee, Staats-Sekretär im Minister-Rat und General-Intendant des Militär-Haushalts im Kriegs-Ministerium, gehörte zu den angesehensten Diplomaten Frankreichs und engagiertesten Beamten im Planungs-Stab Napoleons. Obwohl er Napoleon wiederholt vor einem Offensiv-Krieg gegen Russland gewarnt hatte, war er in führender Position an den Planungen beteiligt. Zwischen 1812 und 1814 diente er dem Kaiser-Reich als Minister für Äußeres und für die Militär-Verwaltung.
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Im August 1811 bekam Marschall Louis-Nicolas Davout in seinem Haupt-Quartier in der Festung von Magdeburg von Napoleon die Order, im Groß-Raum zwischen den Mündungen der Elbe bei Hamburg und der Weichsel bei Danzig (heute Gdańsk, Polen), eine Armee von rund 150.000 französischen Soldaten und etwa 50.000 Mann der als "Nordische Legion" bezeichneten Armee der polnischen Alliierten zusammenzuziehen. Offiziell verkündete Aufgabe dieses Verbandes war es, die Kontinental-Sperre an der Ostsee gegen englische Blockade-Brecher und organisierte Schmuggler-Banden durchzusetzen, um so die gewinnbringenden Handels-Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und dem russischen Zaren-Reich zu beenden. Insgeheim hatte Davout jedoch den Befehl, die Weichsel in der Defensive jederzeit sichern und in der Offensive auch überschreiten zu können. Diese Armee, die am 14. November 1811 einstweilig die – wohl auf Irreführung zielende – Bezeichnung "Corps d’observation de l’Elbe" (Beobachtungs-Armee an der Elbe) erhalten hatte, wurde am 16. Januar 1812 wieder zur "Grande Armée" erhoben; ein Titel, den bereits das für die Invasion Britanniens vorgesehene Heer im Jahr 1805 verliehen bekommen hatte.
"Marschall Louis-Nicolas Davout" (1770-1823)
Gemälde von Pierre Gautherot im »Château de Versailles« (Paris, FRA).
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Ende Januar 1812 besetzten Einheiten der "Grande Armée" handstreich-artig Schwedisch-Pommern. Die Gefangennahme sämtlicher bis dahin zur Neutralität verpflichteten schwedischen Soldaten hatte zur Folge, dass der schwedische Kronprinz Jean Baptiste Bernadotte – ein ehemaliger Marschall Napoleons, der am 25. Juni 1810 vom kinderlosen schwedischen König Karl XIII. adoptiert -, vom schwedischen Reichs-Rat am 21. August 1810 als Regent bestätigt und am 5. November 1810 offiziell zum Kronprinz erhoben worden war – voller Empörung den von Karl XIII. am 6. Januar 1810 in Paris mit allen gegen Schweden kriegführenden Mächten geschlossenen Frieden -, die allen Seiten erklärte Neutralität und die von Napoleon auch Schweden auferlegte Kontinental-Sperre in Frage stellte. Napoleon, der in Bernadotte nicht den zukünftigen König Schwedens sondern noch immer einen von ihm hochdekorierten Marschall Frankreichs und damit ihm als Kaiser unterstehenden Offizier sah, schätzte die Situation vollkommen falsch ein. In gewohnter Manier ging er davon aus, Schweden zum Verbündeten gewinnen und in den Krieg gegen seinen östlichen Nachbarn hineinziehen zu können, in dem er die Bestrebungen einiger Mitglieder des Reichs-Rates zur Wieder-Erlangung der Ostsee-Vormacht unterstützte und die Rück-Übertragung der 1809 an Russland verlorenen finnischen Besitzungen versprach, so Schweden der "Grande Armée" ein Hilfs-Korps von 30 bis 40.000 Mann zur Seite stellen würde. Die Besetzung Schwedisch-Pommerns war damit Pfand und Druck-Mittel zugleich.
Jean Baptiste Bernadotte (1763-1844)
Marschall von Frankreich, ab 1810 Prinz-Regent -, 1818 dann als Karl XIV. Johann König von Schweden bzw. als Karl III. Johann auch König von Norwegen.
Gemälde von Lars Svensson Sparrgren im »National-Museum« (Stockholm, SWE).
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Mit Datum vom 27. Januar 1812 ergingen dann an sämtliche mit Frankreich verbündeten Potentaten – insgesamt bestand das Imperium zu dieser Zeit aus einem Gebilde von vierzwanzig europäischen Einzel-Staaten – von Napoleon in Paris formulierte Weisungen, die jeweiligen landeseigenen Heeres-Kontingente, die ihnen gemäß der mit Napoleon getroffenen Vereinbarungen zugestanden worden waren und die sie im Kriegsfall oder laut Artikel 38 der Rheinbund-Akte der französischen Armee zu unterstellen hatten, bis zum 15. Februar zu mobilisieren und über konkret benannte Marsch-Etappen hin zu den jeweiligen Sammel-Räumen zu führen. Polen, das auf die Rück-Eroberung der im Rahmen der polnischen Teilungen verlorenen Gebiete hoffte, bot für den Angriff weitere 45.000 Mann auf. Österreich und Bayern setzten je 30.000 Soldaten in Marsch. Westphalen knapp 28.000 Hessen und Rheinländer. Preussen hatte mit rund 20.000 Mann die Hälfte der ihm gelassenen Armee aufzubieten. Württemberg und Baden stellten zusammen ebenfalls 20.000 Soldaten, weitere 20.000 kamen aus Berg, Frankfurt und Nassau, Würzburg, Hohenzollern, Mecklenburg-Schwerin und den sächsische Herzogtümern (insgesamt hatte der Rheinbund etwa 130.000 Mann zu stellen). Joachim Murat, König von Neapel, kommandierte 10.000 Mann. Auch die Schweiz hatte 12.000 Mann zu entsenden. Dazu Italiener, Portugiesen und Spanier, Holländer und Belgier; selbst das Fürstentum Liechtenstein mobilisierte den auferlegten Anteil von 40 Soldaten. Die 21.000 Mann des sächsischen Feld-Heeres hatten sich bereits Mitte März 1812 im Zeithainer Lager gesammelt, waren Ende März dem Ober-Kommando des französischen Generals Jean-Louis-Ebenezer Reynier unterstellt worden und auf Napoleons Befehl in Richtung der Memel-Njemen-Grenze aufgebrochen.
Eskortiert von den Jägern zu Pferd seiner Garde verließ Napoleon am 9. Mai 1812 Paris, passierte am 11. Mainz und am 13. Frankfurt.
Am 16. Juli traf er in der sächsischen Residenz-Stadt Dresden ein, wo er von seinen versammelten Vasallen erwartet wurde.
"Rassegna data in Milano dal Principe Eugenio li 18 Febbrajo 1812 alla milizia Italiana."
Besichtigung der italienischen Armee, die Prinz Eugen am 18. Februar 1812 in Mailand durchführte.
Colorierte Lithografie von Roberto Focosi um 1845
Bildquelle: Befreundeter Sammler.
"Revue von Lebus."
Heerschau der königlich-württembergischen Armee am 22. April 1812.
Aquarell von Christian von Martens.
Bildquelle: Nachlass der Familie von Martens in der Sammlung des »Landesarchivs Baden-Württemberg« (Stuttgart, GER).
"Napoleons Art zu reisen."
Illustration von Baron Felicien de Myrbach-Rheinfeld in Band III »From Life of Napoleon Bonaparte« von William Milligan Sloane, The Century Co., New York, 1896; online komplett verfügbar in der ► "HathiTrust Digital Library".)
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"Gekrönte Freunde Frankreichs! Die Dinge in Europa nahmen eine entscheidende Wendung. Als Oberhaupt des Rheinbundes befehle ich zum Wohle der Allgemeinheit, meine Armee zu verdoppeln und sie in die Lage zu versetzen, unter meinem Kommando Lorbeeren auf dem Feld der Ehre zu ernten. Ich erkläre Ihnen meine Absichten: Ich wünsche die Wiederherstellung Polens. Ich möchte es aus einer unpolitischen Existenz befreien und auf die Ebene eines mächtigen Königreichs erheben. Ich möchte die Barbaren bestrafen, die meine Freundschaft verachten. Schon sind die Ufer des Pregel und der Weichsel mit französischen Adlern bedeckt. Meine Herren! Meine Verbündeten! Meine Freunde! Es ist und bleibt mein Plan. Ich will und werde die alten Tyrannen Europas besiegen. Ich habe mein Wort gehalten und jetzt sage ich: Noch in sechs Monaten werden die beiden nördlichen Hauptstädte Europas [in Russland galt Moskau als alte Hauptstadt; die Zaren-Residenz St. Petersburg war Regierungs-Sitz] die Sieger Europas in ihren Mauern sehen."
Napoleon vor den in Dresden versammelten Fürsten.
"In drei Monaten wird es erledigt sein!" hatte Napoleon seinen Vasallen versichert, die am 16. Mai 1812 in Dresden zu einer Konferenz zusammengerufen worden waren. Einbestellt waren Kaiser Franz I. von Österreich, durch Napoleons macht-politische Heirat mit Marie-Louise von Österreich inzwischen Schwieger-Vater des Imperators; der Gastgeber, König Friedrich August I. von Sachsen; sowie die Könige Maximilian I. Joseph von Bayern, Friedrich Wilhelm III. von Preussen, Friedrich I. von Württemberg, Joachim Murat von Neapel und Napoleons jüngerer Bruder Jérôme Bonaparte, von diesem zum König des Modell-Staates Westphalen gekrönt; die Großherzöge und Herzöge der deutschen Klein-Staaten, die Marschälle des Kaiser-Reichs und die Generäle der Rheinbund-Truppen. Und obwohl die durch Napoleons Gnade erhobenen bzw. von seiner Gunst abhängigen Monarchen sich von der veranstalteten Heer-Schau ausgewählter Einheiten eigener Armeen und der Parade der zwischen Februar und März neu uniformierten Kaiser-Garde begeistert gezeigt hatten, und Napoleon bekannt dafür war, in Vorbereitung eines Feldzuges auch kleinste Details der Bewaffnung und Ausrüstung, der Marsch-Routen und vor allem der Versorgung seiner Heere zu berücksichtigen, war die anfänglich zur Schau gestellte Freundschaft und Bewunderung bald nach Eröffnung der Versammlung in Sorge, Angst und – den Protokollen nach – in Ablehnung und offen vorgetragener Feindseligkeit umgeschlagen, denn an diesem Samstag hatten ihre schlimmsten Befürchtungen Bestätigung gefunden: Napoleon verkündete seine Pläne zur Unterwerfung des restlichen Teils des europäischen Kontinents: Die Eroberung Russlands.
Vielen der anwesenden Hoch- und Wohl-Geborenen waren die schlechten Straßen und Wege Russlands bekannt. Die ausgelegten Karten ließen die Frage aufkommen, wie das Okkupations-Heer angesichts der gewaltigen Entfernungen versorgt werden soll; wie die sich mit dem Ein- und weiteren Vormarsch stetig verlängernden Nachschub-Routen gesichert werden können. Einige brachten die spärliche Besiedlung in Erinnerung, was der bislang praktizierten Selbst-Versorgung der Truppen entgegenstand; andere warnten vor den klimatischen Extremen; vor staub-trockenen Steppen im Sommer, vor eisiger Kälte und Schnee-Stürmen im Winter und vor den vom Dauer-Regen verschlammten Wegen in den Zwischen-Zeiten. Darüber hinaus waren rund 250.000 französische und deutsche Soldaten in dem seit 1808 auf der Iberischen Halb-Insel erbittert geführten Krieg gegen Briten, Portugiesen und spanische Guerillas gebunden; in Braunschweig schlugen sich die eigentlich miteinander verbündeten kaiserlich-französischen und königlich-westphälischen Soldaten untereinander und mit Ausdauer; in Preussen und Sachsen zeigten sich insbesondere die Studenten immer renitenter…
Napoleon fegte sämtliche Bedenken der vorgeladenen Hoheiten vom Tisch: Seit über einem Jahr hatte er Informationen über die politische, gesellschaftliche, militärische und wirtschaftliche Lage in Russland eingeholt. Er hatte Reise-Beschreibungen, Wetter-Berichte und Karten-Werke studiert und die Geschichte des Russland-Feldzugs Karls XII. gelesen. Französische Agenten, litauische Adelige und polnische Offiziere haben die ungefähren Stärken der russischen Garnisonen in den mittelalterlich befestigten Städten erkundet und detaillierte Pläne gezeichnet. Die Grenzen zwischen Russland und Ost-Preussen bzw. Polen-Litauen waren weitestgehend ungeschützt; auch hatte man entlang der Marsch-Route in Richtung der russischen Hauptstadt Moskau keine nennenswerten Truppen-Konzentrationen ausmachen können; insgesamt schätze man die Stärke der grenz-nah weit verteilten Armee auf etwa 120 bis 150.000 Mann (ein Umstand, der Napoleons Wunsch nach einem schnellst-möglich herbeizuführenden Vernichtungs-Schlag entgegenstand). Die dann von Napoleon bezüglich der Versorgung der - für diese Epoche - wahrlich größten Armee präsentierten Zahlen beeindruckten die versammelte Hörerschaft im höchsten Maß (und sind noch heute erstaunlich):
Nach einem Bericht von Marschall Louis-Alexandre Berthier, Chef des General-Stabs, waren Ende Februar 1812 bereits 11.042 französische Offiziere, 344.871 Unteroffiziere und Soldaten sowie 7.998 Offiziere und 284.169 Soldaten und Unteroffiziere nicht-französischer Herkunft mobilisiert; dazu kamen noch etwa 30.000 Mann, die für die rückwärtigen Dienste vorgesehen waren.
Aufgeteilt in einem Garde-, zehn Armee- und vier Kavallerie-Corps standen in der ersten Linie summa-summarum etwa 380.000 Mann mit rund 1.400 Feld- und Belagerungs-Geschützen bereit. Die zweite Linie wurde von den etwa 35 bis 40.000 Mann der Sicherungs- und Sicherstellungs-, Transport- und Nachschub-Truppen gebildet, die der Invasions-Armee im Abstand von maximal drei Tages-Märschen zu folgen und etappen-weise Werkstätten und Depots anzulegen hatten. Zu diesem "Großen Fuhr-Park der Armee" wurden u.a. die Handwerker in den Reparatur- und Instandsetzungs-Truppen -, die Fuhr-Männer und Pack-Knechte in den Transport-, Versorgungs- und Nachschub-Einheiten und die über 3.700 Offiziere und Beamten der Feld-Gendarmerie und des Feld-Kommissariats, der Feld-Post und der Zahlmeisterei, den sanitäts-, veterinär-medizinischen und sonstigen Dienste gerechnet (darüber hinaus wurden zwischen Mai und Juni im Grenz-Gebiet noch etwa 5 bis 10.000 Soldaten angeworben, die im Ergebnis der Eingliederung Litauens im Jahr 1795 als nunmehr russische Staats-Bürger der Armee des Zaren zu dienen hatten, desertiert waren und als Grenzer entlang des Memel-Njemen-Ufers Verwendung fanden). Zur Deckung der Nachschub-Linien -, zum Schutz der bereits vorhandenen Magazine und der in Russland geplanten Depots -, als operative Reserve – vor allem aber zum Ersatz der zu erwartenden Verluste – folgten in der dritten Linie das IX. und XI. Armee-Corps, zusammen etwa 95 bis 100.000 Mann, deren Gesamt-Stärke infolge steter Zu- und Abgänge jedoch erheblichen Schwankungen unterworfen war. Insgesamt verfügte die zur Eroberung Russlands aufmarschierte "Grande Armée" über – die für damalige Zeiten unvorstellbare Zahl von – 612.000 Soldaten (wobei hier die über 70.000 Soldaten, die als Landes- oder Festungs-Besatzungen in Deutschland standen, nicht eingerechnet sind, und die 100.000 Mann der französischen National-Garde nicht außerhalb Frankreichs eingesetzt werden durften).
Obwohl die hervorragend qualifizierten Offiziere in Napoleons "État-major général" und die auserlesenen Beamten des "Maison de l'empereur" in den Feldzügen der vergangenen zwanzig Jahre eine Vielzahl von Erfahrungs-Werten hatten sammeln und in Tabellen erfassen können, mit denen Berechnungen zur etappen-weise Bewegung von fünf bis sechs Corps der französischen Armee über Distanzen von 500 Kilometern innerhalb von 10 bis 15 Tagen möglich waren, so stand der kaiserliche Planungs-Stab bei der logistischen Vorbereitung der Invasion Russlands vor gigantischen Dimensionen mit vielen unbekannten Werten und damit vor entsprechend enormen Herausforderungen. Schon für Napoleons Defensions-Planungen hatte die General-Intendantur unter Guillaume-Mathieu Dumas im Jahr 1811 ein ausgeklügeltes Konstrukt von Verzweigungen entwickelt, die Lieferungen von Waffen und Munition und aller Art von Ausrüstungs-Stücken aus allen Teilen des Imperiums hin zum Rhein und von dort über fünf Versorgungs-Linien weiter bis zur Weichsel lenkten. Seit über einem Jahr waren im besetzten Preussen und im verbündeten Herzogtum von Warschau Depots angelegt und mit Vorräten gefüllt worden, die für eine halbe Million Soldaten über den Zeit-Raum eines Jahres genügen sollten, denn mit seinen Studien zur Landes-Kunde war Napoleon schnell zu Erkenntnis gelangt, dass die bislang vollzogene Methode der Versorgung einer Armee aus dem eroberten Land in den dünn besiedelten Weiten Russlands bis zur Ernte nicht praktikabel war; zumal jeder Reise-Bericht die Selbst-Versorgung empfahl.
Allein das Königreich Preussen hatte vom 1. März bis zum 12. Juni insgesamt 20.000 Tonnen Weizen (was etwa 25 Mio. 1kg-Brote ergibt), 20.000 Tonnen Roggen, 60.000 Tonnen Hafer, zwei Millionen Flaschen Bier, zwei Millionen Flaschen Brannt-Wein, 64.000 Tonnen Heu, 35.000 Tonnen Stroh, 44.000 Stück Rindvieh, 15.000 Pferde und 3.600 Transport-Wagen bereitzustellen. Rechnerisch sollte diese Menge genügen um rund 500.000 Mann und 150.000 Pferde hundert Tage versorgen zu können. Zusätzlich zu diesen regulären Auflagen wurden nach offiziellen Erhebungen der Königsberger Provinz-Regierung noch im Juni 1812 allein in Ost-Preussen 1.629 Fuhrwerke und 7.546 Pferde von der französischen Armee requiriert und förmlich quittiert.
Tatsächlich verlangten schon die rund 1.000 Offiziere des Großen Haupt-Quartiers und des hier zugehörigen "Maison de l'empereur" etwa 2.000 Reit- und Zug-Tiere für die umfangreiche Bagage. Rund 95.000 Pferde führten die Kavalleristen aller Waffen-Gattungen ins Feld, die bis zum Herbst hier auch ihr Futter finden sollten. Für die Geschütze sowie die Pulver- und Munitions-Wagen der Erst-Ausstattung waren 18.000 Pferde nötig; weitere 12.000 Pferde waren für die Werkzeug- und Geräte-Wagen des Artillerie-Fuhrparks, der Pionier- und der beiden Pontonier-Bataillone erforderlich. Zusammen mit den Zug-Tieren der Transport-Einheiten der einzelnen Armee-Corps und dem "Bataillon des Train de la Garde" sowie der 26 Equipage- bzw. Train-Bataillone der Armee, die mit über 6.000 Transport-Wagen – erfasst waren 7.848 Fuhr-Werke aller Art – eine Lade-Kapazität von knapp 10.000 Tonnen pro Tour besaßen, gehen Schätzungen davon aus, dass die "Grande Armée" von mindestens 200.000 Pferden begleitet wurde (erwähnenswert dabei Herden von weit mehr als 50.000 Stück Schlacht-Vieh, die teilweise auch als Zug-Tiere Verwendung finden sollten, jedoch mangels Futter und Pflege rasch abmagerten und zum größten Teil schon in den ersten zwei Wochen am Straßen-Rand verendeten).
Gemäß Napoleons Angriffs-Plänen hatte der Aufmarsch der für den Angriff vorgesehenen Regimenter, Divisionen und Armee-Corps in die grenznahen Bereitstellungs-Räume bereits begonnen. Der Einmarsch selbst sollte kurz vor Beginn der Ernte-Zeit erfolgen; der Beginn des Krieges gegen das russische Kaiser-Reich war damit auf die Mitte des Monats Juni bestimmt. Der Kaiser stellt heraus, dass das auf den Feldern der russischen Ebenen wachsende Getreide Anfang Juli eine reiche Ernte erwarten lasse; für die Pferde sollte in den ausgedehnten Steppen-Regionen genügend Futter gegeben sein. Auf dem Papier war die Erst-Versorgung der Armee bis zur Ernte für 40 Tage gesichert; in Danzig standen zwei Transport-Einheiten bereit, die mit Beginn der Invasion abgehen und unmittelbar hinter dem Artillerie-Train zwei Millionen Wochen-Rationen Zwieback und 150.000 Doppel-Zentner Mehl (15.000 Tonnen) nach Wilna zur Einlagerung und/oder Verteilung expedieren sollten.
Als größten Vorteil stellte Napoleon jedoch Zeit und Geschwindigkeit und die daraus resultierende Überraschung heraus. Er beschrieb die russische Armee als schwerfällig, undiszipliniert und schlecht ausgebildet, dazu unzureichend ausgerüstet und minderwertig bewaffnet und vor allem "misérable" geführt, dazu in den seit geraumen Zeiten währenden Kriegen im Süden gegen das Osmanische Reich -, im Osten gegen aufständische Tataren und im Norden gegen die Schweden verwickelt. Noch bevor Zar Alexander seine europäischen Reserven in Bewegung setzen oder kampf-erfahrene Truppen von den Grenzen heranziehen könnte, ist Moskau gefallen und Russland gewonnen. Spätestens Ende September wird der Zar kapitulieren und noch vor dem Winter wird Napoleon im Triumph in den Kreml-Palast einmarschieren. In knapp sechs Wochen soll der Angriff beginnen.
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"Train de la Grande Armée" Fuhrwerke der Train-Bataillone. Illustrationen von Dmytro Zgonnik für ► »HäT«-Modell-Figuren. Nontage; v.o.n.u.: "French Pontoon" "French Baggage Wagon" "French Ammunition Caisson" "French Field Forge" (Schmiede) "French Wurst Wagon" (Chirurgen) "French Light Ambulance" "French Heavy Ambulance"
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Während des Treffens erreichte Napoleon die Nachricht, dass der russische Zar überraschend in Wilna (heute Vilnius, LIT) eingetroffen war und eine Erklärung für die in Dresden tagende Konferenz als auch für die Truppen-Aufmärsche vor der russischen West-Grenze verlangte. Wahrscheinlich um den unmittelbar bevorstehenden Angriff vor der Welt und in der Geschichte legitimieren zu können, entsandte der Kaiser seinen verdienten General und erfahrenen Diplomaten Louis Marie de Narbonne-Lara zum Zaren: Ultimativ forderte Narbonne im Namen Napoleons von Alexander die Schaffung einer Sicherheits-Zone, die den größten Teil des damaligen europäischen Territoriums Russlands umfasste. Gegen die Herausgabe der im Rahmen der polnischen Teilungen von Russland annektierten Gebiete und der Abtretung weiträumiger Gebiete um Smolensk und St. Petersburg, die als unabhängige Herzogtümer eine neutrale Puffer-Zone zwischen beiden Groß-Mächten bilden und später als Entschädigung für verlorene Ländereien an Preussen gehen sollten, ließe sich der Kaiser vom Friedens-Willen des Zaren überzeugen.
Zehn Tage später kehrte Narbonne zurück und überbrachte nicht nur die von Napoleon erwartete Ablehnung seines Ultimatums, sondern auch die Gegen-Forderung Alexanders, der verlangte, die aufmarschierte Invasions-Armee umgehend wieder hinter die Weichsel zurückzuziehen.
"Ich werde nicht zuerst mein Schwert ziehen. Ich möchte nicht, dass Europa mich für das Blut verantwortlich macht, das in diesem Krieg vergossen werden wird ... Ich bin immer noch bereit, mich auf alles zu einigen, um den Frieden zu wahren ...", ließ Zar Alexander übermitteln.
Nicht erwartet hatte der Kaiser, dass der Zar auch die im Fall eines Angriffs zu erwartende russische Verteidigungs-Strategie vorstellig machte: Kämpfend, jedoch verlustreichen Schlachten ausweichend, würde sich die russische Armee immer weiter in Richtung Osten zurückziehen. Die "Große Armee" würde nachsetzen aber nur verbranntes Land erobern; sich in den Weites des russischen Reiches zerstreuen, dort zerschmelzen und schließlich einfach verschwunden sein: "Ich greife nicht an, aber ich lege auch die Waffen nicht nieder, solange ein einziger fremder Soldat auf russischem Boden steht", prophezeite der Zar.
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Zar Alexander I. von Russland (um 1817) Gemälde von K.A. Shewelkin nach dem ► Original von Francois Pascal Simon Gerard im► »Château de Malmaison« (Rueil-Malmaison, FRA). Bildquelle: ► »Hermitage« (St. Petersburg, RUS).
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Zwei Wochen später, am 29. Mai, bestieg Napoleon eine nach seinen Vorgaben extra für den Russland-Feldzug gefertigte Reise-Kutsche und verließ Dresden über die Post-Straße nach Polen in Richtung Osten. Seine Route führte über Posen nach Thorn (heute Poznań bzw. Toruń, beides POL), wo der Kaiser am 2. Juni eintraf. Am 4. Juni erreichte er Willenberg (heute Wielbark), dem Stand-Ort des "Großen Haupt-Quartiers"; etwa 270 Kilometer vom Grenz-Fluss Njemen entfernt. Von dem am 28. Mai in Bukarest besiegelten Friedens-Schluss zwischen Russland und dem Osmanischen Reich ahnte er nichts. Auch wusste er nicht, dass das schwedische Kabinett eine völlig überraschende Entscheidung getroffen hatte, und der schwedische Prinz-Regent, der ehemalige französische Marschall Jean Baptiste Bernadotte, bereits am 5. April 1812 mit Russland im geheimen Vertrag von St. Petersburg eine Allianz eingegangen war, und Russland, Britannien und Schweden kurz vor dem Abschluss eines Bündnisses waren, aus dem die sechste Koalition gegen Frankreich hervorgehen sollte…
"Zusammenkunft der Monarchen zu Dresden im Mai 1812."
Colorierte Lithographie von Adolph Göhde; Verlag J. G. Walde.
Bildquelle: befreundeter Sammler.
"Napoleon verlässt Dresden"
Gemälde von Joseph Brodowski, lt. Galerie und Auktionshaus »DESA Dzieła Sztuki« in Privat-Besitz.
"Napoleon in Polen" (Napoleon vor dem Gast-Hof Paprotnia)
Obwohl Napoleon tatsächlich nie in dem noch heute erhaltenen Gast-Hof von Sochaczew (etwa 30 Kilometer westlich von Warschau an der Post-Straße nach Posen gelegenen) abgestiegen ist, vermittelt das Gemälde von Andrzej Novak-Zempliński, lt. der »PanAm Historical Foundation« in der »Otto Richter Library« (University of Miami), einen anschaulichen Eindruck von Napoleons "Berline". Ausgestattet mit ein einigen Extras – u.a. einer Bar, einer kleinen Bibliothek und einem Sekretär, einem Tresor, diversen Toiletten-Artikeln und einer Kleider-Truhe, Kohle-Becken als Sitz- und Fuß-Heizung – gelangte Napoleon mit dem vom Pariser Kutschen-Fabrikanten Jean Pierre Binder gefertigten leichten Reise-Wagen von Paris bis Moskau und wieder zurück und schließlich bis nach Waterloo (siehe dazu ► »Napoleon’s Military Carriage«).
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Obwohl Napoleon bekennender Atheist war und für die vielen seltsamen Verheißungen, die seine erste, von Aberglauben erfüllte Frau Joséphine von der weit über Paris hinaus bekannten Kartenlegerin Marie Anne Lenormand brachte, nur Hohn und Spott übrig hatte, war er der Legende nach von der spektakulären und gleichsam allgemein ängstigenden Erscheinung eines Kometen, der erstmals im Frühling des Jahres 1811 am süd-westlichen Horizont gesichtet worden war und der im Spät-Sommer über allen Teilen Zentral-Europas strahlend leuchtete, derart begeistert, dass er in dem in Richtung Nord-Osten ziehenden Schweif-Stern ein Omen zu erkennen glaubte, das in dieser Dimension und in Bezug auf seine Planungen zur Unterwerfung Russlands einen noch glänzenderen Sieg in Aussicht stellte, als die "Sonne von Austerlitz". Ähnlich beeindruckend muss das weltliche Schau-Spiel gewesen sein, dass sich dem einfachen Land-Volk und der wachsenden Zahl "aufmerksamer Reisender" bot, die seit dem Frühling 1812 augenscheinlich ein besonderes Interesse am Geschehen in den dünn besiedelten Regionen nahe des westlichen Ufers der Memel in Ost-Preussen bzw. des Njemen, wie der Grenz-Fluss zwischen dem (damals) zum Herzogtum Warschau gehörenden Litauen und dem russischen Kaiser-Reich heißt, zeigten: Waren die Nächte vor wenigen Wochen noch von den Strahlen der drohenden göttlichen Vernichtung erhellt, so ließ die stetig zunehmende Zahl der Wach- und Lager-Feuer auf eine immer größer werdende weltliche Vernichtungs-Macht schließen. Über eine Distanz von mehr als 400 Kilometern – von Tilsit (heute Sowetsk bei Kaliningrad) im hohen Norden bis hinunter nach Lublin im Süden (mit der Dritten Teilung Polens Österreich -; seit dem Frieden von Schönbrunn dem Herzogtum Warschau zugesprochen) – wuchs in den bis dahin stillen Wäldern am östlichsten Rand des Napoleonischen Imperiums eine Streit-Kraft heran, die bis dahin nicht vorstellbar war.
Insgesamt vierzehn Armee-Korps bezogen ihre von Napoleon befohlenen Bereitstellungs-Räume. Davon bildeten neun Armee- und das Garde-Korps die vom Kaiser für den Offensiv-Krieg vorgesehenen Verbände, zwei weitere Korps sollten die Flanken-Deckung übernehmen und zwei Korps waren als Reserve vorgesehen und noch im Aufbau.
Das I. Corps unter Marschall Louis-Nicolaus Davout verfügte über fünf Divisionen Infanterie und einer (jedem Korps beigegebenen) Division Kavallerie mit insgesamt über 70.000 Soldaten, die bis auf vier Regimenter überwiegend von französischen Einheiten gestellt wurden. Das II. Corps unter Marschall Charles Oudinot bestand neben einer Kavallerie-Division aus drei Infanterie-Divisionen, zählte etwa 37 bis 40.000 Mann, dabei das Schweizer Kontingent (wobei die nominell von 12.000 Schweizern gebildete 9te Infanterie-Division tatsächlich nur 6. bis 7.000 Mann zählte). Die Württemberger stellten eine der drei Infanterie-Divisionen des III. Corps unter Marschall Michael Ney, der mit der Kavallerie-Division insgesamt rund 44.000 Mann kommandierte. Napoleons Stief-Sohn Eugène de Beauharnais, Vize-König von Italien, führte die 44.000 Soldaten des IV. Corps, das überwiegend aus französischer und italienischer Infanterie sowie einigen Spaniern und Kroaten bestand (der leichten italienisch-französischen Kavallerie-Division wurden noch im ersten Monat der Invasion die vier bayerischen Chevaulegers-Regimenter des VI. Corps beigegeben). Der polnische Fürst Józef Antoni Poniatowski führte etwa 36.000 seiner Lands-Leute im V. Corps. Die Masse des bayerischen Kontingents stellte mit zwei Infanterie-Divisionen bzw. achtundzwanzig Bataillonen Infanterie und sechzehn Schwadronen Kavallerie das VI. Corps mit über 26.000 Mann, die von Marschall Laurent de Gouvion Saint-Cyr kommandiert wurden. Das VII. Corps unter General Jean-Louis-Ebenezer Reynier zählte achtzehn Bataillone Infanterie und sechzehn Schwadronen Kavallerie mit insgesamt 20.000 Sachsen; das VIII. Corps des Königs Jérôme Bonaparte von Westphalen verfügte über sechzehn Infanterie-Bataillone und sechzehn Schwadronen leichter Kavallerie mit insgesamt 28.000 Hessen, Rheinländern und Nieder-Sachsen, die insgeheim von dem militärisch als ausgesprochen begabt beschriebenen General Dominique Joseph Vandamme befehligt wurden. Das IX. Corps unter Marschall Claude-Victor Perrin (gen. Victor), das für die Sicherung der rückwärtigen Verbindungen und als Reserve gedacht war, befand sich im Früh-Sommer 1812 noch in der Aufstellung. Dieser Verband, der zur dritten Welle zählte und zu dessen Bildung Einheiten des Rhein-Bundes (Sachsen, Hessen, Darmstadt, Baden, Berg), aus Polen und neue Formationen aus frisch ausgehobenen französischen Rekruten zusammengeführt wurden, verfügte schließlich über drei Infanterie-Divisionen mit insgesamt vierundfünfzig Bataillonen und sechzehn Schwadronen leichter Kavallerie, wobei die Gesamt-Stärke von etwa 50.000 Mann aufgrund täglicher Zu- und Abgänge erheblichen Schwankungen unterlag. Preussen hatte zwanzig Bataillone Infanterie mit rund 14.000 Mann und sechzehn Schwadronen Kavallerie mit etwa 4.000 Mann sowie die Artillerie mit 2.000 Mann und 60 Geschütze für die "Grande Armée" abzustellen, die vom General der Infanterie Julius von Grawert (ab 29. August dann von General-Leutnant Johann David Ludwig von Yorck) kommandiert wurden. Zusammen mit der aus Polen und Litauern, Bayern und Westphalen formierten 7ten Infanterie-Division unter General Charles Louis Dieudonné Grandjean bildeten sie das X. Corps. Und obwohl es Napoleon am 24. Februar gelungen war, den preussischen König Friedrich Wilhelm III. zu einem Bündnis-Vertrag gegen Russland zu drängen, der für den Fall des Vertrags-Bruches faktisch die Auflösung des preussischen Rest-Reiches vorsah, hatte der Kaiser bezüglich der Zuverlässigkeit der preussischen Truppen – insbesondere gegenüber dem neuen preussischen Offiziers-Corps – erhebliche Zweifel. Er beauftragte diesen Verband mit der Deckung der nördlichen Flanke seiner Armee; das Ober-Kommando erhielt Marschall Étienne (Jacques-Joseph-Alexandre) MacDonald. Gleich dem bereits genannten IX. Corps war auch das XI. oder offiziell als Reserve bezeichnete Corps unter Marschall Charles Pierre François Augereau während des Aufmarsches noch in der Aufstellung. Zur Bildung wurden überwiegend Rekruten-Bataillone der leichten französischen Infanterie -, die sog. Fürsten-Division mit den Regimentern der Herzöge von Sachsen, von Anhalt-Lippe und von Schwarzburg, Waldeck und Reuss sowie die rund 12.500 Mann umfassende neapolitanische Infanterie-Division herangezogen bzw. neu formiert. Gleichsam ist auch hier die Gesamt-Stärke von etwa 40 bis 45.000 Mann infolge dauernder und bald schnell steigender Ersatz-Anforderungen nur als Orientierungswert zu sehen. Das kaiserlich-österreichische "Auxiliar-Corps" unter General Carl Philipp Fürst zu Schwarzenberg stellte mit 24.000 Mann Infanterie in drei Divisionen, 6.000 Mann Kavallerie und 2.000 Mann Artillerie mit 60 Geschützen das XII. Corps. Napoleon, der wenig auf die Kampf-Moral der Österreicher gab, ließ diesen Verband zur Deckung der südlichen Flanke am Grenz-Fluss Bug aufmarschieren. Für die von Napoleon schnellst-möglich angestrebte Entscheidungs-Schlacht waren sämtliche Regimenter der schweren Schlachten-Kavallerie zu einem Groß-Verband zusammengefasst worden, mit deren Führung der Kaiser den für seine Verdienste als Kavallerie-General zum König von Neapel erhobenen Marschall Joachim Murat beauftragte. Die über 40.000 Reiter waren in vier Kavallerie-Korps zu je drei Divisionen organisiert.
Die Elite der Elite wurde von den über 56.000 Mann der Alten und Jungen Garde des Kaisers gestellt (von denen tatsächlich jedoch nur 47.000 Mann über die russische Grenze marschierten). Den Ober-Befehl hatte Marschall Jean-Baptiste Bessières, dem auch die fünf Brigaden des Kavallerie-Korps der Garde unterstanden. Die 1te Division mit zehn Bataillonen der Alten Garde kommandierte Marschall François Joseph Lefebvre; die 2te und 3te Division, die aus zwanzig Bataillonen Junge Garde bestand, wurde von Marschall Édouard Mortier geführt. Diesem Verband war auch die als 4te Division geführte "Weichsel-Legion" mit rund 50.000 Polen und zeitweilig auch die etwa 2.000 Mann der italienischen Garde angegliedert. Dazu die Garde-Artillerie, die über eine Artillerie-Reserve von 120 Geschützen unter Brigade-General Jean Barthélemot de Sorbier und das Regiment der Garde-Artillerie zu Pferd unter General Jean-Jacques Desvaux de Saint-Maurice verfügte.
… siehe dazu ergänzend: WIKIPEDIA
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Kayserliche Infanterie.
Kayserliche Kavallerie.
Königl. ital. Infanterie.
Königl. ital. Kavallerie.
Bayrische Truppen.
K&K Infanterie.
Hand-Colorierte Stiche nach Vorlagen von Wilhelm A.W. von Kobell. Bildquelle(n): ► Eigene Sammlung.
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Für die Invasion hatte Napoleon fünf Angriffs-Spitzen vorgesehen, deren Aufmarsch- bzw. Bereitstellungs-Räume sich über eine gut 350 Kilometer lange Linie verteilten, die sich von Tilsit (heute Sowetsk bei Kaliningrad, RUS) im Norden entlang der Memel-Njemen-Grenze nach Kowno (heute Kaunas, LIT), Piloni (heute Piliuona, LIT) und Grodno (heute Hrodna, BLR) bis hinunter nach Buczyska und Drogiczin (heute Bużyska und Drohiczyn, POL) am Grenz-Fluss Bug zog.
Im Zentrum stand die vom Kaiser als Ober-Befehlshaber persönlich geführte Haupt-Streitmacht der "Grande Armée", deren Kern-Truppe die von Marschall Jean-Baptiste Bessières kommandierte und Napoleon direkt unterstehende Kaiserliche Garde bildete. Als strategische und letztlich entscheidende Reserve hatte die Garde bislang nur selten ins Schlacht-Geschehen eingreifen müssen, was den Gardisten den Status der "Unsterblichen" gab. Auch Napoleon hatte nicht die Absicht, die in über 12 Jahren aufgebaute Elite der Elite in Russland zu riskieren, er wusste aber, dass allein der Aufmarsch der legendären Alten Garde genügte, den jeweiligen Gegner erheblich einzuschüchtern und bestenfalls davonzujagen. Schlag-kräftigster Verband des Zentrums war das I. Corps mit über 70.000 Mann unter Kommando von Marschall Louis-Nicolas Davout, das die Avant-Garde der Haupt-Armee stellte. Zur Unterstützung von Davout die rund 44.000 Mann des IV. (italienischen) Corps unter Kommando von Eugène de Beauharnais, Vize-König von Italien, sowie die 26.000 Mann des VI. (bayerischen) Corps unter Kommando von General Laurent de Gouvion Saint-Cyr, die als operative Reserve der Haupt-Armee folgten. Als Avant-Garde die rund 10.000 Reiter des III. Reserve-Kavallerie-Corps unter Kommando von General Emmanuel de Grouchy.
Nach den Marsch-Plänen des Kaisers sollte dieser Groß-Verband mit Ausnahme des IV. (italienischen) Corps, das südlich von Wilna über Smorgon (heute Smarhon, BLR; 75 km östlich von Wilna) vorzurücken hatte, von Wilna aus über die Etappen Witebsk und Smolensk direkt auf die russische Haupt-Stadt Moskau marschieren.
Ebenfalls der Haupt-Armee unterstellt, doch mit der Deckung der linken (nördlichen) Flanke betraut, waren die rund 40.000 Mann des II. Corps unter Marschall Charles Nicolas Oudinot, der nach Napoleons Plänen nördlich von Wilna die Straße nach St. Petersburg, der bevorzugten Residenz des Zaren, besetzen sollte. Dazu die 40.000 Mann des III. Corps unter Marschall Michel Ney, dessen Verband bis zur Aufstellung der Reserve-Corps bzw. der Errichtung der litauischen Armee die Sicherung der Brücke(n) über die Memel-Njemen-Grenze und des Nachschubs übernehmen -, anschließend Oudinot folgen und bei Bedarf auch als operative Reserve eingesetzt werden sollte.
Die Avant-Garde der Haupt-Armee führte Reiter-General und Marschall Joachim Murat, König von Neapel: Ihm unterstanden das I. Reserve-Kavallerie-Corps mit 11.000 Reitern unter General Étienne Marie Antoine Champion de Nansouty und das II. Reserve-Kavallerie-Corps mit 10.000 Reitern unter General Louis-Pierre Montbrun; beide Verbände sollten über die Etappen Wilna und Polozk auf Witebsk und Smolensk vorgehen und dabei operativ die Flanken unterstützen.
Ein von Generalstabs-Chef Berthier im Februar 1812 ausgefertigter Personalstands-Bericht gibt die Stärke der Haupt-Armee mit 248.777 Soldaten und 9.625 Offiziere an, die sich über 332 Bataillone und 216 Eskadronen verteilten; allein Napoleons Stab zählte 1.009 Offiziere.
Mit der Deckung der rechten (südlichen) Flanke der Haupt-Armee hatte der Kaiser seinen jüngeren und von ihm zum König von Westphalen erhobenen Bruder Jérôme betraut. In weiser Voraussicht gab er dem militärisch vollkommen unbegabten und auch weitestgehend desinteressierten Kommandeur den erfahrenen General Dominique Joseph Vandamme als Berater zur Seite (was von Beginn an zu erheblichen Konflikten führte). Der von Jérôme geführte Verband bestand aus dem VIII. (westphälischen) Corps mit etwa 28.000 Mann und dem V. (polnischen) Corps unter General Józef Poniatowski mit 36.000 Mann; dazu das IV. Reserve-Kavallerie-Corps mit 9.000 Reitern unter Kommando von General Victor de Fay de La Tour-Maubourg.
Der Flanken-Schutz des linken (nördlichen) Flügels oblag den 27.000 Mann des X. Corps unter Marschall Étienne MacDonald, der im Baltikum mit der Etappe über den befestigten Hafen von Riga die Residenz-Stadt St. Petersburg erobern sollte. Die Sicherung der Flanken des rechten (südlichen) Flügels sollten die 20.000 Mann des VII. (sächsischen) Corps unter General Jean-Louis-Ebenezer Reynier übernehmen; noch weiter südlich waren die 24.000 Mann des XII. bzw. "kaiserlich-österreichischen Auxiliar-Corps" unter General Carl Philipp Fürst zu Schwarzenberg beauftragt, die unübersichtlichen Grenz-Gebiete entlang der verschlungenen Ufer des Bug in Galizien (auch als Prypjat-Sümpfe bekannt) zu überwachen und gegen russische Armeen abzuschirmen, die möglicherweise vom Kriegs-Schauplatz gegen das Osmanische Reich ab- und herangezogen werden könnten.
Erwähnenswert noch das "Große Haupt-Quartier" des Kaisers, der "Train d'artillerie et Train du génie", der "Train des Équipages", der "Service sanitaire et vétérinaire" und andere Dienste sowie die erstmals hinter den Truppen aufgefahrenen Wagen des Proviant- und Fourage-Konvois; alles zusammen noch einmal etwa 15.000 Mann.
An Reserven – bzw. im Früh-Sommer 1812 größtenteils nur auf dem Papier – verfügte der Kaiser noch über das in Ost-Preussen bei Marienburg (heute Malbork, POL) im Aufbau befindliche IX. Corps unter Kommando von Marschall Claude Victor-Perrin (gen. Victor) mit 30.000 überwiegend französischen "Conscrits" (Wehr-Pflichtigen), die bis Anfang August um weitere 20.000 Rekruten aus den Rheinbund-Staaten verstärkt wurden und insgesamt drei Infanterie- und eine Kavallerie-Division bilden sollten. Der Groß-Raum Berlin-Brandenburg war zum Sammel-Punkt der 50.000 Mann bestimmt, die das XI. (Reserve-) Corps unter Marschall Charles-Pierre François Augereau bilden sollten (General Jean-Pierre Augereau, jüngerer Bruder des Marschalls und Brigade-Kommandeur, überwachte bis zu seiner Abkommandierung als Adjutant in den Stab von Marschall Davout die Aufstellung des Corps; Marschall Augereau selbst blieb bis 1813 in seinem Haupt-Quartier in Berlin).
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Mo., 1. Juni: Hafen-Stadt Danzig (West-Preussen; heute Gdańsk, POL).
General Jean Baptiste Eblé, Kommandeur des "Corps des Pontonniers du Génie", erteilt den Befehl zum Abmarsch in Richtung Osten.
Dieser – rund 1.500 Mann starke und den Genie-Truppen zugeordnete – Verband, war mit Dekret vom 18. Floréal des Jahres III (nach dem franz. Revolutions-Kalender der 7. Mai 1795) aus den beiden bereits bestehenden Kompanien Rhein-Schiffer errichtet und per Dekret vom 12. Floréal AN XI (2. Mai 1803) reglementiert worden. U.a. wurde nunmehr auch den technischen Truppen die Einführung des "Gribeauval-Systems" befohlen, womit bspw. sämtliche genormten Typen von aufliegenden Transport-Fuhrwerken mit starrer Hinter-Achse (Munitions-, Geräte- oder Bagage-Wagen etc.) von der als Vorder-Achse verwendbaren Artillerie-Protze gezogen und damit lenkbar wurden. Auch bestimmte die Reform die Ausmusterung der seit des niederländischen Krieges von 1672 genutzten "Nacelles" (franz.: Kinder-Wannen, wie die französischen Soldaten die aus Kupfer-Blech gefertigten Gondeln zur Überquerung größerer Wasser-Hindernisse spöttisch nannten). Die genieteten und gelöteten Wannen wurden durch hölzerne und damit leichtere Flach-Kähne ersetzt, die in Anlehnung an das österreichische Modell "Avantgarde-Ponton" gebaut wurden.
Nach Plänen dieses Typs fertigten die Boots-Bauer der Danziger Werft zwischen April und Mai 1813 insgesamt 120 Stück, von denen jede der zwölf Pontonier-Kompanien, die seit Mai in der alten Hanse-Stadt gesammelt wurden und die zusammen die beiden "Bataillons de Pontonniers" bilden, je zehn Stück erhalten haben (wobei das 1te Bataillon noch über eine 7te Kompanie "Technik und Werkzeug" verfügte).
Erste Etappe des Konvois, der sich mit 120 sechs-spännigen "Haquets" für die Pontons, 48 vier-spännigen Takelage-Wagen, 54 Proviant- und Fourage-Wagen, 8 Feld-Schmieden sowie gut 100 Rüst-, Werkzeug- und Bagage-Wagen über eine Länge von rund fünf Kilometern erstreckt und sich mit einer Geschwindigkeit von etwa 20 bis 30 Kilometern pro Tag bewegt (insgesamt werden die rund 400 Fuhr-Werke von knapp 2.000 Pferden gezogen) - ist Elbing (heute Elblag, POL). Die westlich vor der Stadt verlaufenden Flüsse Nogat und Elblag bieten General Eblé beste Gelegenheit, sich vom praktischen Können seiner Pontoniere im Rahmen der zwischen dem 3. und 4. Juni angesetzten Manöver zu überzeugen.
General Jean Baptiste Eblé (1758-1812)
Gemälde von Jean-Baptiste Paulin Guérin im »Musée de l’Armée« (Hotel des Invalides, Paris, FRA).
Bildquelle: ► »Napoléon & Empire«.
"Système Gribeauval - Artillerie francaise - Equipage de pont de Bateaux"
Boot vom Typ Avantgarde, Modell An 11 (Länge ca. 620 cm, Breite 144 cm, Gewicht ca. 600 kg, Trag-Kraft 4.400 kg. Gesamt-Gewicht 1.700 kg, gezogen von 6 bis 8 Pferden).
Illustration aus »Études sur le passé et l'avenir de l'artillerie« (Band IV: Histoire des progrès de l'Artillerie, Teil 2) von Ildephonse Favé, Paris 1863; online komplett verfügbar in der ► »Bayerischen Staatsbibliothek« (München, GER).
Detail-Ansicht eines Bootes vom Typ Avantgarde
Ausschnitt aus dem Stich "Das Armeekorps des Vizekönigs überschreitet bei Pilony den Njemen am 30. Juni 1812" nach einer Zeichnung von Albrecht Adam aus dem »Tagebuch des russischen Feldzugs von 1812 …«.
Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
Neben dem "Corps des Pontonniers" der Armee verfügte auch jedes Corps der "Grande Armée" über mindestens eine Pontonier-Kompanie, die in der Lage sein musste, innerhalb von etwa sechs Stunden eine Brücke von etwa 300 Fuß Länge mittels der mitgeführten Grund-Ausstattung von Pontons, Tauen und Bohlen zu "werfen". Die Stärke einer Kompanie bewegte sich zwischen 80 und 100 Soldaten und Sergeanten mit 4 Offizieren.
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Pontonniers bei der Montage einer Ponton-Brücke. Illustration von Richard Hook in »Artillery Equipments of the Napoleonic Wars« von Rerence Wise (Men-at-Arms, Band 96; Osprey-Publishing, 1979). |
Pontonnier vom "Corps des Pontonniers" (1813) und Conducteur vom "Train de Pontonniers" (1812). Aquarellierte Zeichnung(en) von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993). Bildquelle: ► eigene Sammlung. |
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Sa., 13. Juni: Sensburg (Ost-Preussen; heute Mrągowo, POL).
"Sensburg - Quartier Général le 13 Juin."
Das Haupt-Quartier des IV. Corps (Eugène de Beauharnais) erreicht Sensburg.
Hand-Colorierter Stich nach einer Vorlage von Albrecht Adam, lt. Auktions-Haus »OneBid« (Warschau, POL) seit 2017 in Privat-Besitz.
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So., 14. Juni: "Haupt-Quartier des Vizekönigs Eugène in Rastenburg" (Ost-Preussen; heute Kętrzyn, POL)
Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
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Mi., 16. Juni: Vor der Memel-Njemen-Grenze; im Raum zwischen Königsberg, Kowno und Grodno.
Von seinem am 12. Juni bezogenen Haupt-Quartier in Königsberg erteilt der Kaiser eine Reihe von Befehlen an seine Heer-Führer: Marschall Joachim Murat, der mit der Masse des XIII. (Kavallerie-Reserve) Corps bei Gumbinnen (Ost-Preussen, heute Gussew, RUS) steht, erhält die Order, sein Haupt-Quartier zusammen mit dem I. Reserve-Kavallerie-Corps 50 Kilometer weiter nach Osten zu verlegen und von Wilkowischken (Herzogtum Warschau, heute Wyłkowyszki, POL; ca. 70 Kilometer westlich von Kaunas) aus die Memel-Njemen-Grenze im Groß-Raum Kowno-Preny (heute Prienai, LIT) mit der 1ten leichten Kavallerie-Division unter Jean Pierre Joseph Bruguière zu sichern. Dem II. und III. Reserve-Kavallerie-Corps wird mit Haupt-Quartieren bei Kalwarja (heute Kalvarija, LIT) und Treuburg (Olecko, POL) die Sicherung der verschlungenen und über 100 Kilometer langen Ufer-Linie zwischen Meresh, Olita und Grodno (heute Merkinė und Alytus, beides LIT, und Hrodna, BLR) und damit der Aufmarsch-Raum des V. Corps (Poniatowski) befohlen; dem IV. Reserve-Kavallerie-Corps wird der Abschnitt von Grodno bis Belostok (heute Białystok, POL) zugewiesen, der als Übergang für das VIII. Corps (König Jérôme von Westphalen) vorgesehen ist.
"Marschall Joachim Murat" (1767-1815)
Gemälde von Jean-Baptiste Joseph Wicar im »Musée des Beaux-Arts« (Lille, FRA).
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Mi., 17. Juni: Vor der Memel-Njemen-Grenze; im Raum zwischen Tilsit, Suwałki und Warschau.
Die zwanzig Infanterie- und vier Kavallerie-Regimenter des I. Corps (Davout), die in, um und östlich der etwa einen knappen Tages-Marsch von der Grenze entfernt gelegenen Kloster-Stadt Marijampole und Kalwarja (beides LIT; ca. 70 Kilometer westlich von Kaunas) in Quartier liegen, werden zum Appell befohlen und treten entlang der Chaussee nach Kowno an. Während das kaiserliche Haupt-Quartier von Königsberg nach Gumbinnen verlegt wird, nutzt Napoleon die Zeit zur Inspektion. Das I. Corps, das neben der Garde als schlag-kräftigste Kern-Truppe der "Grande Armée" gilt, ist als Avant-Garde vorgesehen und entsprechend ausgerüstet und bewaffnet; Napoleon zeigt sich zufrieden. Kurz nachdem er mit den Offizieren seines General- und Hof-Stabes in Richtung Gumbinnen aufgebrochen ist, ergeht an die einzelnen Regimenter des Corps der Befehl, alle Vorräte an Lebensmitteln, Heu und Stroh und sämtliche Horn- und Zug-Tiere, die in den umliegenden Dörfern des jeweils zugewiesenen Quartier-Bezirks zu finden sind, "gegen Quittung" zu requirieren und zu den Versorgungs-Stäben zu schaffen; die Soldaten haben sich für mindestens acht Tage zu proviantieren und die Marsch-Bereitschaft herzustellen.
Zeitgleich erreicht dieser Befehl sämtliche Verbände und Einheiten, die für die geplante Invasion inzwischen etwa auf die Linie Tilsit-Suwałki-Warschau vorgezogen wurden und somit nur noch zwei bis drei Tages-Märsche von der Grenze entfernt sind.
Innerhalb von drei Tagen sind sämtliche Städte und Dörfer im abgelegenen Grenz-Gebiet vollkommen ausgeplündert;
"La billet - Aus der Franzosenzeit" (Szene aus der Mühle in Wepritz; heute Wieprzyce, POL)
Gemälde von Ernst Henseler; lt. »invaluable« im Juni 1992 bei »Sotheby's« versteigert.
"French troops retreating through and plundering a village"
Colorierter Stich aus der Bilder-Serie »Historische, militärische und Marine-Anekdoten über persönliche Tapferkeit, Heldenmut und besondere Ereignisse, die den Armeen Großbritanniens (1803–1815) und seinen Verbündeten im letzten lange umkämpften Krieg widerfuhren, der mit der Schlacht von Waterloo endete« u.a. von Clark, Deighton und Rigaud, veröffentlicht von Edward Orme, 1819.
Bildquelle: ► »National Army Museum« (London, UK), online komplett verfügbar in der ► »SPL-Collection«.
"Plündernde Franzosen"
Postkarte No. 4 aus der Serie »Война 1812« (Krieg von 1812) mit Motiven von Alexander Petrowitsch Apsitis.
Bildquelle: ► WIKIMEDIA.
Ohne Titel (Französischer Proviant-Zug)
Aquarellierte Bleistift-Zeichnung von Albrecht Adam, ähnlich dem Motiv "Auf der Straße nach Lianvawitschi" (Ljachawitschy, 14. August 1812).
Bildquelle: Befreundeter Sammler.
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Do., 18. Juni: Napoleon, sein General-Stab, die Adjutanten und Ordonnanz-Offiziere des "Maison militaire" schlagen in Gumbinnen (Ost-Preussen, heute Gussew, RUS; rund 130 Kilometer westlich der Memel-Njemen-Grenze) das Haupt-Quartier auf.
Sa., 20. Juni: In voller Übereinstimmung mit Napoleons Aufmarsch- und Zeit-Plänen beziehen das I. Corps (Davout) mit Haupt-Quartier bei Wilkowischken -, das II. (Oudinot) mit Haupt-Quartier bei Gumbinnen -, das III. Corps (Ney) mit Haupt-Quartier bei Kalwarja und das VIII. Corps (König Jérôme von Westphalen) mit Haupt-Quartier bei Nowogrod (Nowogród, POL) die vorgesehenen Bereitstellungs-Räume.
So., 21. Juni: Am Ufer des Njemen nahe Kowno (heute Kaunas, LIT).
Der Ausritt, den Napoleon nach dem Mittags-Tisch am Ufer des Njemen in Begleitung von General Jean Baptiste Eblé und einer kleinen Gruppe ausgewählter Offiziere unternimmt, könnte auf den ersten Anschein den Eindruck eines heiteren Sonntags-Ausflugs erwecken. Doch für Napoleon, einigen Schilderungen nach an diesem Tag getarnt mit polnischer Tschapka und polnischem Mantel, ist die früh-sommerliche Idylle Nebensache. Er betrachtet die ihn umgebende Fluss-Landschaft zwischen der Nemunas-Insel vor dem Dörfchen Aleksotas im Nord-Westen und dem Dorf Panemune im Süd-Osten einzig in Abwägung taktischer Vorteile und möglicher Schwach-Stellen, und General Eblé, der sein organisatorisches, ingenieur-technisches und artilleristisches Talent seit 1791 wiederholt bewiesen hat, ist der Kommandant des Ponton-Trains der "Grande Armée".
Mit Blick von der etwa 63 Meter über dem Fluss gelegenen Höhe des sog. Jiesia-Hügels sind sich beide einig, dass die gegenüberliegende Halb-Insel Šančiu beste Voraussetzungen für die Anlage eines gut zu verteidigenden Brücken-Kopfes bietet. Das daran anschließende Land ist weitestgehend eben und gut einsehbar; der Anmarsch gegnerischer Truppen wäre rechtzeitig auszumachen; zwei oder drei auf der Höhe platzierte Artillerie-Batterien würden genügen, die Passage samt der jenseitigen Land-Zunge zu decken.
Am Nachmittag beginnt es zu regnen.
Napoleon gibt Eblé den Befehl, die beiden "Bataillons de Pontonniers" in die Nähe des Ufers zu ziehen und sämtliche Vorkehrungen zu treffen, um innerhalb der nächsten drei Tage (und auch in den hier in der Zeit der Sommer-Sonnenwende noch schwach dämmernden "Weißen Nächte") drei Brücken über den etwa zweihundert Meter breiten Grenz-Fluss "werfen" zu können (tatsächlich wurden Ponton-Brücken zuerst ufer-seitig vormontiert, dann mittels Seilen und unter Ausnutzung der Strömung zum anderen Ufer geschwenkt, Stück für Stück verankert und abschließend beplankt).
Aus dem inzwischen nach Wilkowischken (Herzogtum Warschau, heute Wyłkowyszki, POL; ca. 70 Kilometer westlich von Kaunas) verlegten Haupt-Quartier gehen noch am Abend die bereits in Gumbinnen vorbereiteten Marsch-Befehle an die einzelnen Stäbe der Armee-Corps. Mit den Befehlen veröffentlicht das Haupt-Quartier eine ebenfalls von Napoleon vorbereitete Erklärung an sämtliche Corps und Divisionen, Regimenter und Einheiten, die als "Bulletin Nr. 1" am kommenden Tag allen Soldaten und Offizieren der "Grande Armée" verlesen werden wird:
"Soldaten! Der zweite polnische Krieg hat begonnen! Der erste endete mit Friedland und Tilsit. In Tilsit schwor Russland ewiges Bündnis mit Frankreich und Krieg mit England - heute bricht es seine Eide! Es will sich über sein sonderbares Betragen nicht früher erklären, als bis die französischen Adler wieder über den Rhein zurück, und also unsere Bundesgenossen seiner Willkür preisgegeben sein werden. Ein unvermeidliches Schicksal reißt Russland mit sich fort, es kann seinem Lose nicht entrinnen. Sollte es wähnen, wir seien entartet? Wären wir nicht mehr die Soldaten von Austerlitz? Es stellt uns zwischen Entehrung und Krieg: die Wahl kann nicht zweifelhaft sein. Vorwärts also! Vorwärts über den Niemen! Tragen wir den Krieg in sein Gebiet! Der Zweite polnische Krieg wird für Frankreichs Waffen ruhmreich wie der erste sein. Aber der Friede, den mir schließen werden, wird seine Bürgschaft in sich tragen und dem verhängnisvollen Einfluss den Russland seit 50 Jahren auf die Angelegenheiten Europas ausübt, ein Ziel setzen."
Unvorstellbar, dass der Kaiser auf den Tag genau drei Jahre später alles verloren haben wird…
"Napoleon zu Pferd"
Gemälde von Jan B. Rosen in der Sammlung der Galerie »CONNAISSEUR« (Krakau, POL).
"Ostwärts"
Gemälde von Wojciech Kossak, lt. Auktionshaus »Agra-Art« seit 2015 in Privat-Besitz.
"Napoleon bei der Rekognoszierung 1812"
Наполеонъ на рекогносцировкѣ 1812 год. Napoleon à la reconnaissance 1812.
Postkarte No. 926 der "Edition Richard", St. Petersbourg; nach einem Motiv von Viktor Mazourovsky.
21. Juni 1812: Napoléon befiehlt den Einmarsch nach Russland.
Post-Karte nach einem Gemalde von Emanuel Bachrach-Barée aus der Kollektion "Moderne Meister" Serie XVII von Tuck´s Post Card.
Connoisseur-Serie Napoléon I. No. 1266.
Bildquelle: ► Eigene Sammlung.
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Mo., 22. Juni: St. Petersburg, Winter-Palast (RUS, über 700 km nord-östlich von Kowno).
In der Haupt-Residenzstadt der russischen Zaren an der Newa überreicht der französische Botschafter in Russland, Jacques-Alexandre Lauriston, dem Chef des Außen-Ministeriums, Graf Nikolai Iwanowitsch Saltykov, die aus Paris eingegangene Urkunde seiner Abberufung; eine Reaktion auf eine Reihe von Spionage-Skandalen, für die nach Ansicht Frankreichs sämtlich der russische Botschafter in Paris, Alexander Borissowitsch Kurakin, verantwortlich ist. Die französische Regierung erklärt die Aktivitäten der russischen Diplomaten zu feindlichen Handlungen und geht lt. der Text-Passage im Lettre de rappel davon aus, dass sich "Frankreich von diesem Zeitpunkt an im Kriegszustand mit Russland befindet" (womit Napoleon dem russischen Reich den Krieg erklärt und entgegen der allgemeinen Darstellung die diplomatischen Konventionen des 19. Jahrhunderts erfüllt hat).
"Le Général Lauriston" (... vor dem Triumph-Bogen des Winter-Palastes in St. Petersburg; rechts das Reiter-Standbild von Peter dem Großen)
Colorierter Holz-Stich von Henri Félix Emmanuel Philippoteaux nach der Gravur von Jean-Jules-Henri Geoffroy, lt. »antique-prints« in Privat-Besitz.
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Mo., 22. Juni: Vor der Memel-Njemen-Grenze; im Raum zwischen Tilsit, Suwałki und Warschau.
Am selben Tag wird Napoleon über größere russische Truppen-Bewegungen bei Belostok (heute Białystok, POL; etwa 250 km südlich von Kowno) informiert, die auf die Mobilisierung der 2ten (russischen) West-Armee unter General Pjotr Iwanowitsch Bagration schließen lassen. Und so sehr Napoleon anfänglich darüber erbost ist, dass seine Aufklärung im Dreieck zwischen Grodno, Brest und Slonim (heute Hrodna, Bjeraszje und Slanimas, alles BLR) zwar eine ganze Reihe von Garnisonen erfasst hat, die zusammen etwa zwei bis drei Divisionen ergeben könnten, so sehr erfüllen ihn die dann genannten Stärke-Schätzungen von etwa 45 bis 55.000 Mann mit Sorge: Unter Berücksichtigung der Einstellung russischer Generalstabs-Offiziere, die zum Erreichen eines strategischen Ziels an einer Stelle das taktische Opfer Tausender einfacher Soldaten an anderer Stelle für gerechtfertigt halten, könnte dieser Verband innerhalb von vier bis fünf Tagen Warschau erreichen. Beträchtliche Teile der "Grande Armée" wären dann über Wochen in hinhaltende Gefechte verwickelt, was nicht nur sämtliche zeitlichen und logistischen Planungen über den Haufen werfen würde, sondern der Masse der russischen West-Armee die zum Sammeln nötige Zeit verschafft.
Napoleon erklärt die Mobilisierung der 2ten West-Armee als Beginn der von ihm gefürchteten russischen Offensive und leitet eine erste Änderung an seinem Feldzugs-Plan ein, der jedoch keine größeren Folgen auf den Gesamt-Ablauf haben sollte: Bis genauere Informationen über Standorte, Bewegungen und vor allem Stärken weiterer russischer Armeen vorliegen – auch um einen Vorstoß der russischen Armee abfangen zu können –, befiehlt Napoleon dem im Anmarsch befindlichen und der rechten (südlichen) Flanke zugeteilten V. (polnischen) Corps unter Führung von Fürst Józef Antoni Poniatowski den Halt und dem IV. Corps unter Kommando seines Stief-Sohnes, Eugène de Beauharnais, halbe Marsch-Geschwindigkeit. Das kaiserlich-österreichische "Auxiliar-Corps" unter General Carl Philipp Fürst zu Schwarzenberg mit Haupt-Quartier in Lemberg (heute Lwiw, UKR) erhält Order, sich bei Lublin zu sammeln.
Ausgenommen davon das VIII. (westphälische) Corps unter Napoleons Bruder Jérôme, der Anweisung hat, der Haupt-Armee "eng zu folgen" und von Nowogrod auf Augustowo (Augustów, POL; knapp 60 km westlich von Grodno) marschiert.
"An der Westgrenze - Juni 1812"
Gemälde von Alexander Jurjewitsch Awerjanow in der Sammlung des »Verteidigungs-Ministeriums der Russischen Föderation« (Moskau, RUS).
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Für den Marsch auf Moskau hat Napoleon die rund 480.000 Mann seiner "Grande Armée" in der klassischen Drei- (mit den Corps der Flügel-Sicherung fünf) Kolonnen-Formation gruppiert. Diese Unterteilung hat den Vorteil, dass sich die einzelnen Corps nicht in einem endlos langen "Heer-Wurm" bewegen, sondern sich im Ideal-Fall – gleiche Geschwindigkeit und vergleichbare Weg-Etappen vorausgesetzt – stets auf gleicher Höhe befinden; somit die Möglichkeit haben, sich gegenseitig unterstützen -, schnell entfalten bzw. am Ziel-Ort sofort eine Umfassung einleiten zu können.
Die mittlere Kolonne mit der Garde (Bessières) und dem I. Corps (Davout) – insgesamt rund 120.000 Mann und Haupt-Stoßrichtung auf Smolensk-Moskau – führt der Kaiser persönlich. Diesem Verband zugehörig das IV. Corps unter Kommando von Eugène de Beauharnais, Napoleons Stief-Sohn und von diesem zum Vize-König von Italien erhoben, und das VI. Corps (Saint-Cyr); als Avant-Garde das III. Reserve-Kavallerie-Corps (Grouchy); zusammen noch einmal etwa 90.000 Soldaten, die ebenfalls auf Smolensk-Moskau angesetzt sind, taktisch auch im Groß-Raum Minsk-Mogilew oder Witebsk (alles BLR) operieren sollen. Die rechte (südliche) Flanke decken die 58.000 Soldaten vom V. (Poniatowski) und das VIII. Corps unter Napoleons Bruder, Jérôme Bonaparte, König von Westphalen; die 20.000 Sachsen des VII. Corps (Reynier) und die 24.000 Österreicher des XII. "Auxiliar-Corps" unter General Schwarzenberg übernehmen die Flügel-Sicherung. Den südlichen Flanken-Truppen voran das IV. Reserve-Kavallerie-Corps (Latour-Maubourg). Haupt-Richtung hier sind die Etappen von Belostok (heute Białystok, POL) über Grodno, Mir auf Minsk-Mogilew (heute Hrodna, Mir, Minsk und Mahiljou, alles BLR) und zusammen mit der mittleren Kolonne weiter auf Smolensk-Moskau oder Brjansk, so aus dieser Richtung Überraschungen heraufziehen würden. Die linke (nördliche) Flanke übernimmt das II. Corps (Oudinot) mit Marsch-Ziel Dünaburg-Polozk (heute Polazk, BLR); ihm folgt das III. Corps (Ney), das bis zur Aufstellung der Reserve-Corps bzw. der Errichtung der litauischen Armee mit der Sicherung der Brücke(n) über die Memel-Njemen-Grenze beauftragt ist. Die Flügel-Sicherung hat das X. Corps (MacDonald), das den strategisch wichtigen Hafen von Riga besetzen und anschließend auf St. Petersburg marschieren soll. Das von Murat geführte I. und II. Reserve-Kavallerie-Korps bildet mit rund 20.000 Reitern die Avant-Garde der "Grande Armée" und im Fall von plötzlichen Vorstößen der russischen Armee die schnelle Eingreif-Truppe.
"Feldzug der französischen Armee nach Moskau"
Karte von Samuel John Neele nach einer Vorlage Sir Robert Ker Porter, erschienen bei Longman, Hurst, Rees, Orme & Browne am 4. Juni 1813.
Bildquelle: Sammlung der ► »Library of Congress« (Washington, DC; USA).
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Di., 23. Juni: Memel-Njemen-Grenze bei Kowno (über 1.700 km östlich von Paris).
Seit Sonntag haben Sappeure verschiedenster Regimenter in den sog. Jiesios-Wäldern Bäume geschlagen und entästet, zu Pflöcken gespitzt und griff-bereit am linken Ufer der Memel aufgestapelt. Klafter-weise türmt sich ungehobeltes Bau-Holz. Insgesamt 120 Pontons wurden samt den zur Beplankung vorgesehenen Bohlen von den heranbefohlenen Mannschaften des "Corps des Pontonniers du Génie" am Ufer aufgefahren und mit Busch-Werk abgetarnt; jeweils 40 Gondeln sind für eine Brücke vorgesehen.
Am Nachmittag wird auf dem Jiesia-Hügel ein Zelt aufgeschlagen. Und als am späten Abend Napoleon auf der Anhöhe eintrifft, ist alles bereit: Auf seinen Befehl und unter Kommando von General Eblé beginnen Pontoniere und Pioniere vom 1ten und 2ten Bataillon des französischen Genie-Corps in Abständen von etwa 300 Metern mit dem Bau von drei Ponton-Brücken hinüber zum etwa 100 Toisen (rund 200 Meter) entfernten östlichen Ufer und damit hinein in das russische Kaiser-Reich (andere Quellen berichten, dass Napoleon bereits seit Sonnen-Aufgang vor Ort ist, das Zelt aber erst am Abend verlässt; beim Anblick eines Feld-Hasen hatte sein ansonsten ruhiger Schimmel-Hengst Marengo gescheut und den Kaiser abgeworfen, der darauf einige Moment wie gelähmt im Schlamm lag).
Noch immer regnet es in Strömen.
Napoleon kann und will keine Zeit mehr verlieren. Jeder Tag, den seine Armee wartend verbringt, ist ein Tag, den die russische Armee zum Sammeln der im Hinterland der Grenze verstreuten Verbände nutzen kann. Und so sehr Napoleon darauf hofft, dass sich die russische Armee schnellst-möglich zu einer Entscheidungs-Schlacht stellt, so sehr ist er in den nächsten fünf Tagen darauf angewiesen, seine komplette Armee ungestört über den Fluss bringen zu können.
Mit Einbruch der Dunkelheit erreicht die Avant-Garde des I. Corps (Davout) den Fluss. Obwohl nach wie vor Lager-Feuer oder offene Laternen strengstens verboten sind, dürften die russischen Grenz-Patrouillen durch den Lärm, der während der Montage-Arbeiten der drei Ponton-Brücken vom Ufer hallt, längst auf die Anwesenheit der französischen Armee aufmerksam geworden sein und die Passage(n), über die in wenigen Stunden Zehntausende Soldaten in Russland einmarschieren werden, nach Wilna gemeldet haben.
Gegen 22:00 Uhr setzt eine Pionier-Kompanie über den Fluss, die die Aufgabe hat, auf dem östlichen Ufer die Winden zu verankern, mit denen die Köpfe der Ponton-Konstruktionen über den Fluss gezogen werden sollen.
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Mi., 24. Juni: Memel-Njemen-Grenze bei Kowno (über 1.100 km westlich von Moskau).
Wohl kurz nach Mitternacht haben die Pontoniere aus je vierzig Pontons drei schwimmende Brücken vormontiert; ein vierter Übergang, in stabiler Joch-Bauweise ausgeführt, soll innerhalb der nächsten Tage etwa vier Kilometer weiter nördlich nahe Aleksotas entstehen und bis zur Fertigstellung eines von Napoleon vorgesehenen Viadukts als provisorische Verbindung zwischen dem Imperium und den neuen Ost-Provinzen dienen.
Obwohl das I. Corps unter Marschall Davout von Napoleon an die Spitze der großen Invasions-Armee gestellt wurde, überlässt der Kaiser, stets um kleine Aufmerksamkeiten bedacht, seinem polnischen Verbündeten, Marschall Józef Antoni Poniatowski die Ehre, eine polnische Einheit als erste Abteilung der Avant-Garde hinüber und damit in das bis 1795 noch als Teil-Republik zum König-Reich Polen gehörende Litauen einrücken zu lassen. Drei Voltigeur-Kompanien unter Hauptmann Soltyk vom 13ten (polnischen) Infanterie-Regiments – 2te Brigade der 16ten Infanterie-Division im V. Corps (Poniatowski) – sind die ersten, die mit Booten den Fluss überqueren; sie haben die Aufgabe, die drei Brücken-Köpfe und die Pontoniere während des mühsamen Einschwenkens der Brücken zu decken. Noch immer regnet es in Strömen. Über Nacht ist es wieder empfindlich kalt geworden, und Napoleons Stabs-Offiziere, die in ihren Mänteln gehüllt auf der zum "Napoleon-Hügel" erklärten Jiesia-Höhe Mühe haben, das Geschehen im Nebel auf dem gegenüberliegenden Ufer mit ihren Fern-Rohren zu durchschauen, werden sprichwörtlich im letzten Augenblick auf einen Reiter-Pulk aufmerksam, der aus östlicher Richtung auf die drei polnischen Kompanien heran-gallopiert. Umgehend befiehlt Davout der dienst-habenden Wache, der 1ten Eskadron des elitären Regiments Chevau-légers Lanciers Polonais, den Gegen-Angriff.
Die gefürchteten polnischen Lanzen-Reiter verlieren keine Zeit und jagen kurzerhand durch den Fluss. Knapp zehn Minuten später sind die übermütigen Reiter – einer Quelle nach Husaren in weißen Soutanen vom Regiment Elisabethgrad, anderen Schilderungen nach Kosaken vom hier stationierten Bug-Regiment des 2ten Infanterie-Korps – vertrieben.
Gegen 4:00 Uhr morgens ziehen sich drei Ponton-Konstruktionen in Abständen von je 300 Metern über den Grenz-Fluss. Und während die ersten der insgesamt 17 Bataillone der 1sten Infanterie-Division unter General Charles Antoine Morand – rund 14.000 Soldaten – "Pas cadencé" (ohne Gleich-Schritt) den Fluss überqueren, auf dem jenseitigen Ufer sofort in die Linien-Formationen übergehen, dabei stetig weiter vorrücken und die Halb-Insel besetzen, marschieren am westlichen Ufer zwischen den Dörfern Aleksotas und Panemunė die acht Infanterie-Divisionen des I. Corps (Davout) und des II. Corps (Oudinot) in 16 Bataillons-Kolonnen auf. Hinter ihnen das I. und II. Reserve-Kavallerie-Corps (Nansouty und Montbrun), und auf der Straße aus Richtung Mariampol (heute Marijampolė, LIT) kommend die kaiserliche Garde und das III. Corps (Ney).
"Schema der Übergänge bei Kowno"
Darstellung aus "Der Vaterländische Krieg 1812" von Peter Andrejewitsch Nive.
Bildquelle: ► Archiv des Museums »Denkmal des Vaterländischen Krieges von 1812« (Borodino, RUS).
"Napoleon En Campagne"
Gemälde von Eduard Detaille, lt. »mutualart« in Privat-Besitz.
"Переправа черезъ рѣку Нѣманъ" (Überquerung des Neman-Flusses)
Nach der Aufklärung zogen die Franzosen über drei über den Neman gebaute Brücken nach Russland.
Postkarte No. 2 aus der 24-teiligen Reihe "Erinnerung an 1812 - Napoleon in Russland" der »Edition I. E. Selin Moskau«; nach einem Motiv von Iwan Matsjewitsch Abajew.
"1er Régiment de Chevau-Légers Lanciers de la Garde Impériale (Lanciers Polonais)"
Illustration von Alexander Yezhov für »Zvezda«-Modell-Figuren "Polish Liveguard Uhlans".
Bildquelle: ► Blog von Alexander Yezhov auf »tumgir«.
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Soldaten des 13ten (polnischen) Linien-Infanterie-Regiments (v.l.n.r.): 1) "Tambour du 13e Régiment. Tambur-Major de la Garde Nationale. Tambur-Major et Sergent du 1er Régiment."; (Tafel XI von Jan V. Chelminski in »L’Armee Polonaise du Duchie de Varsovie«, Verlag J. Leroy et Cie Éditeurs, Paris 1913; online komplett verfügbar bei ► »archive.org«. 2) "Grenadier, 13th Infantry Regiment"; Illustration von Michael Roffe in »Armies of the Napoleonic Wars« von Chris McNab; Osprey Publishing 2009. 3) "Grenadier 13. Pułku Piechoty Księstwa Warszawskiego"; Tafel 49 aus »Wojsko Polskie 1807-1814 - Księstwo Warszawskie« (Die polnische Armee 1807-1814 - Das Fürstentum Warschau). 4) "Grenadier, 13th Line Infantry Regiment"; Illustration aus »An Illustrated Encyclopedia of Uniforms of the Napoleonic Wars« von Digby Smith; Lorenz Books, First Edition 2016. 5) "Tambour du 13e Regiment"; Illustration von René North nach Malibran and Chelminski, Postkarte Nr. 5, Serie 15 aus der Reihe "1792-1815"; "Porte-Fanion"; Aquarellierte Zeichnung von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993).. (Abb. 2 bis 6 eigene Sammlung) Die weißen Uniformen erinnern an die österreichische Armee: Tatsächlich erbeutete das 13te polnische Infanterie-Regiment, das in Galizien gegründet wurde, nach der Eroberung der Festung Zamosc im Jahr 1809 in den Depots einen großen Posten von Monturen der kaiserlichen Armee, die das Regiment fortan auch als Zeichen der galizischen Herkunft trug. |

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"Übergang über den Nieman 1812" Переходъ черезъ Нѣманъ. 1812 г. Passage de Nieman 1812. Postkarte No. 929 der "Edition Richard", St. Petersbourg; nach einem Motiv von Viktor Mazourovsky. |
"Übergang der französischen Armee über den Nemen (Krieg von 1812)" Переход армии Наполеона через Неман Postkarte. Veröffentlichung des Kunst-Verlages. Nach einem Motiv von Viktor Mazourovsky. |
"Am Ufer des Nieman" Colorierter Druck nach einer Zeichnung aus dem Skizzen-Buch von Oltn. Christian Wilhelm von Faber du Faur im Staatlichen Militärhistorischen Museum »Schlachtfeld Borodino« (bei Moskau, RUS).
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"Napoleons Armee überquert den Njemen." Illustration von Baron Felicien de Myrbach-Rheinfeld in Band III »From Life of Napoleon Bonaparte« von William Milligan Sloane, The Century Co., New York, 1896. |

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"Übergang der napoleonischen Armee über den Neman" Unbekannter Künstler. Illustration aus dem Buch »1812 - Panorama Borodino«; Autoren-Kollektiv I.A. Nikolaeva, N. A. Kolosov, P.M. Volodin; Kunst-Verlag Moskau, 1985. Bildquelle: ► WIKIPEDIA. |
"The boasted crossing of the Niemen, at the opening of the campaign in 1812, by Napoleon Bonaparte" Colorierter Stich nach der Skizze eines Offiziers von John Heaveside Clark in der Sammlung der »British Library« (London, UK). |
"Passage du Niémen 1812" Stich von Beyer und Doherty nach einer Vorlage von Denis Auguste Marie Raffet in der Sammlung des »Musée Carnavalet - Histoire de Paris« (Paris, FRA). |
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Wohl gegen Mittag -, im Licht der durch die Wolken brechenden Sonne und in der schlagartig aufkommenden Hitze, passiert Napoleon an der Spitze seiner Garden die Grenze. Kaum hat der Kaiser den Schilderungen nach das östliche Ufer betreten, verdunkelt sich der Himmel wieder bedrohlich; Wind frischt auf und Donner grollt, Stark-Regen und hühnerei-große Hagel-Körner gehen über die Soldaten nieder. Im nächsten Moment bricht über eine Strecke von gut fünfzig Meilen das bis dahin stärkste Unwetter über die inzwischen vollkommen durchnässten Soldaten herein. Nicht wenige der vom Aber-Glauben erfüllten Männer sehen in den grell zuckenden und krachend einschlagenden Blitzen ein schreckliches Omen; eine der drei Ponton-Brücken wird von einem Einschlag (teilweise oder ganz) zerstört.
"Der Marsch der großen französischen Armee über die Nemuna am 24. Juni 1812 um 16:42 Uhr."
Info-Tafel der Stadt-Verwaltung von Kaunas auf dem "Napoleon-Hügel" am Ufer des Njemen nach dem Stich "Passage du Niemen par l'armée française" von Giuseppe Pietro Bagetti; siehe dazu »Images d’Art« (Kunstwerke aus französischen Museen).
Bildquelle: ► »Kas vyksta Kaune« (Was passiert in Kaunas; Online-Community und Nachrichten-Portal der Stadt Kaunas).
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Am frühen Nachmittag erreicht die Avant-Garde des I. Corps (Davout) Zigmory (heute Žiežmariai, LIT; etwa 40 km östlich von Kowno; knapp 60 km westlich von Wilna). Die Klein-Stadt ist Standort einer Einheit des 1ten Regiments der Bug-Kosaken. Schilderungen, die Kosaken hätten versucht, die Ponton-Brücken in Brand zu setzen, sind wenig wahrscheinlich; denn obwohl der Himmel seit dem Vormittag immer wieder aufreißt und der Regen nur noch in kurzen Schauern fällt, ist das Holz nass, und vor, auf und hinter den Brücken bewegen sich inzwischen Tausende Soldaten.
Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Rahmen der Heeres-Folge verpflichteten Baschkiren, Mescherjaken, Treptjaren, Kalmücken und Tataren waren gleich den Don-, Schwarzmeer-, Orenburger, Ural-, Astrachaner und Bug-Kosaken in den Grenz-Gebieten des Riesen-Reiches angesiedelt und als irreguläre Reiterei mit Patrouillen-Diensten betraut worden. Zusammen mit dem 2ten und 3ten Regiment mit Haupt-Quartier in Sokoly (35 km westlich von Belostok, heute Białystok, POL) bildet das 1te Bug-Kosaken-Regiment unter Kapitän Alexander Nikolaewitsch Chechensky die von General Denis Davydov kommandierte Bug-Abteilung, die wiederum als Teil des von Reiter-General Matwei Iwanowitsch Platow geführten Kosaken-Korps mit dem Schutz der Ost-Grenze zu Österreich und zum Herzogtum Warschau betraut ist. Operativ stellt das 1te Bug-Kosaken-Regiment die Vorhut des 2ten (russischen) Infanterie-Korps unter General Alexey Matveevich Vsevolozhsky mit Haupt-Quartier in Orzhishki (zwischen Jonava und Wilna). Dieser Verband, der mit fast 15.000 Mann durchaus in der Lage gewesen wäre, den Bau der Ponton-Brücken mit seinen 78 Feld-Geschützen empfindlich zu stören -, die etwa zweitausend Meter breite Halb-Insel komplett abzuriegeln und den Einmarsch zumindest bis zum Eintreffen von Verstärkungen aufzuhalten, ist bereits im vollen Rückzug auf Wilna (heute Vilnius, BLR), dem Haupt-Quartier der 1ten (russischen) West-Armee.
Davout hat freien Weg. Am Abend steht sein Haupt-Quartier bei Rumshishki (heute Rumšiškės, LIT; 25 km süd-östlich von Kowno) an der Straße nach Wilna. Ihm folgen das I. und II. Reserve-Kavallerie-Corps (Nansouty und Montbrun).
Bei Janau (heute Jonava, LIT; etwa 30 km nord-östlich von Kowno) hat das II. Corps (Oudinot) weniger Glück: Um ein Ausweichen der russischen Armee von Wilna nach Norden auf Dünaburg (heute Daugavpils, LVA) oder St. Petersburg zu verhindern, hat Marschall Charles Nicolas Oudinot Befehl, mit seinem Verband die Brücke über die Neris (bzw. poln. Wilia) zu sichern, die jedoch bei seinem Eintreffen in Flammen steht. Für Infanterie und Artillerie ist der Fluss zu tief, auch hat der starke Dauer-Regen der vergangenen Tage den ansonsten behäbigen Lauf in einen reißenden Strom verwandelt.
Oudinot erteilt seiner Avantgarde-Kavallerie den Befehl, eine Furt auszumachen; die corps-eigenen Pontoniere und eine Kompanie vom 2ten Bataillon erhalten die Order, an die Spitze der Kolonne vorzurücken und eine weitere Ponton-Brücke zu errichten.
Verschiedenen Schilderungen nach spielt sich an diesem Tag und an diesem Schauplatz das erste Drama des Feldzuges ab: Mit der Ankunft der Lanciers Polonais und der Chasseurs a Cheval der Garde trifft auch der Kaiser überraschend am Ufer der Neris ein. Nach kurzer Einweisung in die Lage – und hier teilen sich die Quellen – erkundigt sich Napoleon nach der Möglichkeit ob oder er erteilt den Lanciers den Befehl, dass der Fluss mit den Pferden zu überqueren sei. Umgehend reiten die tapferen, ihrem Kaiser blind ergebenen Polen am Ufer auf. Die Pferde schnauben, sträuben sich, folgen schließlich widerstrebend ihren Reitern, um dann so schnell wie möglich das gegenüberliegende Ufer zu erreichen. Etwa in der Mitte des Flusses werden die ersten Reiter von der Strömung erfasst; andere verschwinden in plötzlichen Wirbeln. Als der Befehl zum Rückzug kommt, haben bereits zwanzig bis dreißig Übermütige ihren Gehorsam mit dem Leben bezahlt.
"Marschall Nicolas Charles Oudinot (1767-1847)"
Gemälde von Robert Lefèvre im »Château de Versailles« (Paris, FRA).
"Napoleon und sein Stab überqueren den Fluss Neris"
Gemälde von Wojciech Kossak, lt. Online-Galerie »pinakoteka« seit 2018 in Privat-Besitz.
"Napoleon nad rzeką" (Die Überquerung des Flusses Neris)
Gemälde von Wojciech Kossak im »National Museum Warschau« (Polen).
"Napoleon an der Spitze seiner Garde"
Gemälde von Wojciech Kossak, lt. »MutualArt« seit März 2022 in Privat-Besitz.
Kossaks viertes Gemälde zum Thema "Überquerung der Neris" war bis zum Zweiten Weltkrieg im Polnischen Armeemuseum in Warschau zu sehen und gilt seit der Plünderung als verschollen.
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Kurz vor Mitternacht geht die Nachricht vom Beginn der Invasion im Haupt-Quartier der 1ten (russischen) West-Armee in Wilna ein. Der russische Zar Alexander, der an diesem Abend auf einem festlichen Empfang weilt, den der ehemalige General Levin August von Bennigsen auf seinem luxuriösen Gut nahe Wilna gibt, sieht keinen Grund, den vergnüglichen Ball zu verlassen; er erteilt lediglich die Weisung, die Armee in Alarm-Bereitschaft versetzen zu lassen und für den kommenden Tag den Obersten Kriegs-Rat einzuberufen.
Die "Grande Armée" zieht sich inzwischen von Žeimis, etwa 50 Kilometer westlich von Kowno, über die Njemen-Memel-Grenze und von hier aus netz-artig nach Šėta, 50 Kilometer nördlich -, nach Skaruliai, rund 40 Kilometer nord-östlich -, und Žiežmariai, etwa 30 Kilometer östlich von Kowno (alles LIT).
Bewegungen der französischen und russischen Truppen bis zum August 1812 (Schlacht von Smolensk am 17. August 1812)
Stecher und Hersteller bislang unbekannt; russische Version in der ► russischen Online-Bibliothek »Runivers«.
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Mi., 24. Juni: "Haupt-Quartier des Vizekönigs Eugène in Kalwari." (heute Kalvarija, LIT)
Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
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Do., 25. Juni: Hinter der Memel-Njemen-Grenze zwischen Tilsit und Kowno.
Mit der Meldung, dass die Divisionen der 2ten (russischen) Armee nicht in Richtung Westen bzw. auf die Grenz-Stadt Belostok und damit auf Warschau vorstoßen, erhält das IV. (italienische) Corps unter Kommando von Eugène de Beauharnais bei Piloni (heute Piliuona, LIT) den Befehl, über den Njemen zu gehen, anschließend Wilna südlich zu umgehen und mit Ziel auf die Kreis-Hauptstadt Vialejka (heute Wilejka, BLR) auf Witebsk-Smolensk zu marschieren.
Am frühen Morgen erteilt Marschall Étienne Jacques Joseph MacDonald, Ober-Kommandeur des X. Corps, der 7ten Infanterie-Division unter General Charles Louis Dieudonné Grandjean den Befehl, über die Memel-Brücke bei Tilsit in Russland einzumarschieren. Erste Etappe der insgesamt 16 Bataillone ist das über 60 Kilometer entfernte Niemeksen (etwa 100 Kilometer nord-westlich von Kowno; heute Nemakščiai, LIT), das ohne Feind-Kontakt am Abend erreicht wird. Die Avant-Garde stößt bis Rossien (auch Rosiena oder Rossieny, heute Raseiniai, LIT) vor, womit die linke (nördliche) Flanke der "Grande Armée" gegen eine Umgehung gesichert ist.
Gleichzeitig mit MacDonald überqueren bei Kowno die Divisionen des von Marschall Michel Ney kommandierten III. Corps die Grenze. Erste Etappen-Ziele hier sind Kormelo, Skoruly, Kirgaliczky und Jewie (auch Wewien; heute Karmėlava und Skaruliai, Kazokiškės und Vievis, alles LIT). Und obwohl die Infanterie auf den vom Dauer-Regen der vergangenen Tage vollkommen aufgeweichten Wegen noch relativ gut vorankommt, zeigen sich bei der Artillerie und den nachfolgenden schweren Versorgungs-Wagen immer größere Schwierigkeiten: Erst zertrampelt, dann zerfahren, versinken die Fuhr-Werke bald bis zu den Achsen im Schlamm; mehr und mehr Zug-Pferde bleiben stecken, viele sind bereits vollkommen entkräftet zusammengebrochen, müssen ausgespannt und zurückgelassen werden. Auch die schwere Remonte der Kavallerie kommt auf den üblen Wegen nicht voran; die anfänglich belächelten kleinen leichten Pferdchen, auf denen die russischen Kosaken um die französischen Kolonnen kreisen, haben offensichtlich keine Schwierigkeiten.
Während Davout die Masse des I. Corps bei Zyzmory (Zigmory, heute Žiežmariai, LIT; knapp 50 Kilometer östlich vor der ehemaligen litauischen Hauptstadt Wilna) sammelt, zieht Murat das I. und II. Reserve-Kavallerie-Corps (unter den Generälen Nansouty und Montbrun) von Jekatani nahe Kowno vor und übernimmt mit dem Marsch-Ziel Wilna die Angriffs-Spitze (heute wahrscheinlich Jėgainės bzw. Vilnius, LIT). Beide Kavallerie-Verbände werden im weiteren Tages-Verlauf im Groß-Raum der Provinz-Hauptstadt in erste Scharmützel mit den Nachhuten der russischen Armee verwickelt. Besondere Erwähnung finden die Zusammen-Stöße in der Nähe von Barbrishki, Pabartshki und nördlich bei Rumshishki (heute Babriškis, Papartėliai und Rumšiškės) und Jewie (heute Vievis) östlich des russischen Haupt-Quartiers. Alle Geplänkel haben einzig den Zweck, den Vormarsch der französischen Einheiten solange aufzuhalten, bis die in Richtung Wilna liegenden Brücken gesprengt, verbrannt oder sonstwie zerstört sind. Auch hier müssen die corps-eigenen Pontoniere Ersatz schaffen, und Napoleon, der die erste große Schlacht mit der russischen Armee vor Wilna erwartet und erhofft, drängt zur Eile.
Besondere Aufmerksamkeit erhält das 1te (russische) Infanterie-Korps unter dem General Ludwig Adolf Peter zu Sayn-Wittgenstein, das – mit vorgeschobenen Haupt-Quartier bei Rossien (über 70 km nord-westlich von Kowno) und damit eigentlich prädestiniert, dem X. Corps Macdonalds den Weg zu verlegen – sich überraschend in süd-östliche Richtung wendet und damit direkt auf Wilna und die weit gezogenen Kolonnen der aufmarschierenden "Grande Armée" marschiert. Umgehend erhält Marschall Charles Nicolas Oudinot Befehl, mit den rund 40.000 Mann seines II. Corps von Janau rund 35 Kilometer weiter nach Vilkomir (heute Ukmergė, LIT) vorzustoßen und dort dem russischen Verband den Weg zu verlegen.
"Marschall Étienne Jacques Joseph MacDonald" (1765-1840)
Gemälde von Jean Sébastien Rouillard im »Château de Versailles« (Paris, FRA).
"General Ludwig Adolf Peter zu Sayn-Wittgenstein" (1768-1842)
Gemälde von George Dawe in der »Sammlung des Staatlichen Historischen Museums Moskau« (RUS).
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Do., 25. Juni: Wilna (heute Vilnius, LIT; etwa 90 Kilometer östlich der Memel-Njemen-Grenze).
Zar Alexander, der Mitte April 1812 mit den Offizieren seines Obersten Militär-Rates zu einer ausgedehnten Inspektions-Reise zu den Standorten der West-Armee aufgebrochen war und am 22. April das Ober-Kommando an sich gezogen hatte, wird in Wilna, dem Haupt-Quartier der 1ten (russischen) West-Armee, von einem Offizier des Reiter-Generals Wassili Wassiljewitsch Orlow-Denissow über die Entwicklungen an der Memel-Njemen-Grenze um Kowno informiert. Und obwohl Alexander von Napoleons Bestrebungen seit einem Jahr bestens informiert ist – jeden 1. und 15. Tag des Monats legte der französische Kriegs-Minister dem Kaiser die Stärke-Meldungen der gesamten französischen Armee in allen Details vor, die über Agenten im französischen Haupt-Quartier an Oberst Alexander Ivanovitsch Chernyshev in der russischen Botschaft in Paris und von dort direkt nach St. Petersburg gingen –, wird seine Reaktion beim Bekanntwerden der Dimensionen der Invasion von verschiedenen anwesenden Zeit-Zeugen später als eine Mischung von Betroffenheit und Bestürzung, Fassungslosigkeit und Empörung beschrieben. Als noch während des Lage-Berichts ein weiterer Offizier eintrifft, der mit der Kurier-Post aus St. Petersburg auch eine Abschrift der vom französischen Botschafter überreichten Urkunde überbringt, kehrt sich die Lähmung in Taten-Drang: Alexander Semenovich Schischkow, Marine-Offizier, Schriftsteller und seit dem 21. April 1812 als Staats-Sekretär und Chef der Staats-Kanzlei vom Zaren beauftragt, Gesetze und Dekrete, Proklamationen und sämtliche im Namen des Zaren verfasste Schreiben zu formulieren, erhält die Order, eine ganze Reihe von Reskripten und Aufrufen aufzusetzen. So ergeht u.a. an den Vorsitzenden des Staats-Rates und des Minister-Komitees in St. Petersburg, Feld-Marschall Graf Nikolai Iwanowitsch Saltykow, die Erklärung:
" ... Ich habe alle Mittel zur Erhaltung der Welt ausgeschöpft ... Alle meine Bemühungen waren erfolglos. Kaiser Napoleon ist fest entschlossen, Russland zu ruinieren ... Der plötzliche Angriff macht deutlich, dass die in jüngster Zeit bestätigten friedliebenden Versprechungen falsch waren. Und deshalb habe ich keine andere Wahl, als die Waffen zu erheben und alle Mittel anzuwenden, die mir die Vorsehung gegeben hat, um Gewalt mit Gewalt abzuwehren ... Ich werde meine Waffen nicht niederlegen, bis kein einziger feindlicher Krieger mehr in MEINEM Königreich ist."
Einige Passagen finden sich in dem mit gleichem Datum veröffentlichten Aufruf an das russische Volk wieder:
" ... Das Mutterland ist in Gefahr. Ein bewaffneter Sturm verdunkelt unseren Himmel. Am 13. (25. Juni [greg.]) wurde der Neman unerwartet von den Truppen Bonapartes überschritten. Die Stunde der Bewährung ist gekommen! Ich hoffe, dass ein jeder tapfer seine Pflicht für Russland erfüllen wird."
Zu einem letzten Versuch der diplomatischen Einigung entsendet der Zar noch am selben Tag seinen General-Adjutanten, Polizei-Minister und Mitglied des Staats-Rates, General Alexander Dmitrijewitsch Balaschow, mit einem Schreiben zum Kaiser, das gleichsam anbietet und ultimativ fordert, den Konflikt unter der Bedingung des sofortigen Abzugs der französischen Truppen friedlich zu lösen.
Napoleon wird das Friedens-Angebot am 30. Juni ablehnen: "Wenn ich etwas nehme, betrachte ich es als das Meine!"
Der einberufene Kriegs-Rat teilt sich in der anschließenden Tagung schnell in eine emotionale und eine rationale Partei: Während die jungen Offiziere fordern, die russischen Korps bei Troki (heute Trakai, LIT; ca. 20 km westlich von Wilna) zu sammeln und sich Napoleon zu einer Schlacht zu stellen, die feindlichen Armeen noch während des Aufmarsches zu zerschlagen und in pathetischen Worten zu Helden-Mut und Helden-Tod aufrufen, mahnen die älteren, kriegs-erfahrenen und entsprechend besonnenen Generäle an, dass es dem russischen Mutterland nicht hilft, so seine tapferen Söhne plan- und sinnlos in den Tod rennen.
"Kaiser Alexander I." (Gemälde um 1814)
Der Stern des St. Andreas-Ordens und die Medaille "In Erinnerung an den Vaterländischen Krieg" lassen darauf schließen, dass das Gemälde den Zaren nach 1814 zeigt (das Pferd "Eclipse" hatte Napoleon dem Zaren 1808 in Erfurt geschenkt; auf diesem Schimmel ritt Alexander 1814 durch Paris).
Gemälde von Franz Krüger in der »Militär-Galerie des Winter-Palastes« (Museum Eremitage, St. Petersburg, RUS).
Alexander Semenovich Schischkow (1754-1841)
Gemälde von Orest Kiprensky in der »Staatlichen Tretjakow-Galerie« (Moskau, RUS).
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Bereits 1808 hatte die russische Militär-Führung begonnen, Strategie-Konzepte für den erwarteten Krieg mit Napoleon zu entwickeln. Auch hier war die grundsätzliche Frage, ob dieser Krieg defensiv oder offensiv geführt werden sollte, lange Zeit strittig. Letztendlich setzte sich ein von General und Kriegs-Minister Michael Andreas Barclay de Tolly skizzierter Verteidigungs-Plan durch, der die Verdoppelung der West-Armee und der Bau von Festungen entlang der westlichen Dwina (Düna) und des Dnjestr vorschlug und schwerpunktmäßig die Sicherung der Verbindungen auf die Residenz St. Petersburg im Norden -, die Korn-Kammern um Schytomyr im Süden und die Hauptstadt Moskau in Zentral-Russland zum Inhalt hatte. Sollte der Feind im Norden oder im Süden angreifen, sah der Defensiv-Plan einen Gegen-Angriff auf der jeweils gegenüberliegenden Flanke vor; sollte sich der Angriff auf das Zentrum richten, waren parallel einhergehende Flanken-Angriffe vorgesehen. Detaillierte Konzepte für die hier aufzunehmenden operativ-taktischen Manöver waren jedoch weder abgestimmt noch ansatzweise entworfen worden.
Am 19. März 1812 war Barclay de Tolly zum Oberbefehlshaber der 1ten West-Armee ernannt worden; Anfang April hatte er das Kommando übernommen. Dieser Verband war zwischen Rossien und Grodno garnisoniert worden und bestand aus sechs Infanterie-Korps (1tes bis 6tes mit Stand-Orten bei Rossien, Orzhishki, Trakai, Varėna, Šventininkai und Lyda), drei Kavallerie-Korps (1tes bis 3tes bei Vilkomir, Smarhon und Lebeda), dem "Fliegenden" Kosaken-Korps unter Ataman Matwei Iwanowitsch Platow zwischen Rossien und Grodno, vier Pionier- und zwei Pontonier-Kompanien; zusammen etwa 120 bis 130.000 Soldaten mit 590 Geschützen. Befehlshaber der 2ten West-Armee, die das Grenz-Gebiet von Grodno über Wolkowysk (heute Waukawysk, BLR) und Belostok (heute Białystok, POL) bis nach Brest im Süden bzw. die Ufer des Bug zu decken hatte, war seit August 1811 General Pjotr Iwanowitsch Bagration in Pruschany. Dieser Verband, der schon im Russisch-Türkischen Krieg (1806-1812) und während des fünften Koalitions-Krieges als Hilfs-Kontingent der französischen Armee (Juli 1809 bis März 1810) aktiv gewesen -, 1810 als "Podolsker Armee" oder Süd-Armee in Barclay de Tollys Verteidigungs-Konzept integriert und im März 1812 in die 2te West-Armee umbenannt worden war, verfügte über zwei Infanterie-Korps (7tes und 8tes bei Novyi Dvor und Waukawysk), ein Kavallerie-Korps (4tes bei Selwa), eine Kosaken-Abteilung entlang des Bug, zwei Pionier-, eine Mineur- und eine Ponton-Kompanie; insgesamt 45 bis 48.000 Soldaten mit 168 Geschützen; im Anmarsch die gerade errichtete 27te Infanterie-Division mit weiteren 13.500 Soldaten. Weiter südlich, mit Haupt-Quartier in Dubno und dort mit der Deckung von Wolhynien zwischen Lutschesk und Tarnopol (heute Luzk und Ternopil, alles UKR) gegen Österreich betraut, die im Mai 1812 gegründete und noch im Aufbau befindliche Beobachtungs- (bzw. Reserve- oder 3te West-) Armee unter General Alexander Petrowitsch Tormassow mit der 9ten, 15ten und 18ten Infanterie- sowie der Grenadier-Division (sämtlich von unterschiedlicher Struktur und Gliederung), der 5ten und 11ten Kavallerie-Division und zehn irreguläre Kosaken-Regimenter; zusammen etwa 45.000 Mann mit 168 Geschützen. Im Norden und im Juni 1812 noch in der Phase des Aufbaus und der Umstrukturierung das am 26. Oktober 1810 gegründete Finnische Korps unter dem General-Gouverneur von Finnland Fabian (Fjodor Fedorovich) Gotthard von Steinheil (russ. auch Steingel oder auch Steingal), von dem zwei Drittel nach Tollys Plan im Frühjahr auf die Åland-Inseln verlegt worden waren und – inzwischen mit den Schweden abgestimmt – in Schwedisch-Pommern landen sollten. Dieses Expeditions-Korps umfasste die 6te und 21te Infanterie-Division, das finnische Dragoner-Regiment und das Don-Kosaken-Regiment Loshchilin sowie drei Pionier-Kompanien; alles in allem etwa 22.000 Soldaten mit 102 Geschützen.
Was Tollys Verteidigungs-Konzept nicht vorgesehen hat, war ein parallel eingeleiteter Angriff mit weit überlegenen Kräften über alle drei strategisch wichtigen Routen zugleich, womit sämtliche angedachten taktischen Reaktionen ihren Zweck verloren. Und da sich in der gegenwärtigen Situation Napoleons Hauptangriffs-Richtung nur vermuten jedoch nicht sicher bestimmen lässt, ist es wohl General Barclay de Tolly, der seinen militärisch weitestgehend unerfahrenen Ober-Kommandierenden davon überzeugt, dass ein Angriff auf den vierfach überlegenen Feind in der aktuellen Situation nur in einer katastrophalen Niederlage enden und die Lösung einzig im Zusammenschluss aller gegebenen und verfügbaren Kräfte liegen wird. Diese Vereinigung kann jedoch nur durch einen schnellst-möglich einzuleitenden und dann konvergierend ausgeführten Marsch hin zu einem Ziel tief im Hinterland erfolgen, was faktisch den Rückzug bedeutet. Mit Hinweis auf die bereits gesichteten französischen Avant-Garden drängt er den Zaren, Wilna sofort zu verlassen und aufzugeben.
Der Befehl, die 1te und 2te West-Armee umgehend auf Minsk zurückzuziehen und dort die Vereinigung zu suchen, ist schon am Abend hinfällig, als nördlich und südlich von Wilna größere Verbände der "Grande Armée" ausgemacht werden, die sich bereits zwischen den beiden russischen West-Armeen schieben. Teile der 1ten West-Armee – die 3te Kavallerie-Brigade unter General Ivan Semyonovich Dorokhov mit dem Sumsker- und den Mariupol-Husaren sowie das Kosaken-Korps von General Platow – sind bereits abgeschnitten; beide Verbände schließen sich der 2ten West-Armee an.
Im Ergebnis des Tages erhält Platow den Befehl, sein Kosaken-Korps in der Nähe von Grodno zu konzentrieren, alles, was nicht in die Hände des Feindes fallen darf, über Novogrudok nach Minsk zu verschaffen und an der Flanke und im Rücken des Feindes zu operieren; Dorokhov erhält nun auch offiziell den Befehl, sich der 2ten West-Armee anzuschließen, die jetzt über Minsk in Richtung Orsсha am Dnjepr zurückzugehen und operativ den Zusammenschluss zu suchen hat. Die Festungen an der Beresina, am Dnjepr und der westlichen Dwina werden in Alarm-Bereitschaft versetzt, und um der Gefahr zu entgehen, in Wilna eingeschlossen zu werden, ist die 1te West-Armee gezwungen, umgehend in nord-östliche Richtung über Sventsiany (heute Švenčionys, LIT) auszuweichen. Als Rückzugs-Ziel wird das befestigte Lager von Drissa bestimmt (gut 250 Kilometer nord-östlich von Wilna), das innerhalb von zwei Wochen erreicht werden soll.
"General Michael Andreas Barclay de Tolly"
Porträt-Studie von George Dawe für das Gemälde in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
Bildquelle: ► Internet-Projekt »Das Jahr 1812«.
Die russische Armee um 1812 (v.o.n.u.): ♦ Garde- und Linien-Infanterie ♦ Garde-Kavallerie ♦ Linien-Kavallerie ♦ Kosaken ♦ Tataren und Kalmücken u.a. ♦ Artillerie ♦ Miliz
Uniformen-Tafeln von Louis de Beaufort und Charles Lavauzelle aus "La Campagne de Russie. Napoléon 1812" von Jean Tranié und Juan-Carlos Carmigniani; Verlag Charles Lavauzelle, Paris 1981.
Bildquelle: Eigene Sammlung.
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Fr., 26. Juni: Östlich der Memel-Njemen-Grenze zwischen Ponewiesch, Wilna und Grodno.
Mit dem Übergang der Dragoner und Kürassiere und der Arrière-Garde am dritten Tag der Invasion stehen sämtliche von Napoleon bestimmten Kern-Truppen der ersten Welle auf russischem Boden. Die zweite Welle wird von der scheinbar unendlichen Kolonne Tausender Train- und Bagage-Wagen gebildet, die – überladen mit Pulver und Munition, Mehl, Zwieback und Pökel-Fleisch – keinesfalls den Anschluss an die Armee verlieren dürfen. Und während der Kaiser seine Divisionen für die von ihm erwartete Schlacht vor Wilna ordnet, zeichnet sich hinter ihm das das erste, sehr ernste Problem des Feldzuges ab: Die Artillerie kommt nicht voran.
Infolge der starken und bis auf wenige Momente ununterbrochenen Regen-Fälle der vergangenen fünf Tage hat sich die gesamte Gegend in einen einzigen Morast verwandelt. Seit drei Tagen – und nur unter größten Anstrengungen -, unter Hinnahme Dutzender entkräfteter und bald Hunderter toter Zug-Tiere und trotz allem viel zu langsam – versuchen die erschöpften Artilleristen und Train-Soldaten ihre Gespanne voranzubringen; doch kaum bewegt sich ein Geschütz, steckt das voranfahrende Stück wieder fest; die nachfolgende Batterie ist zum Halt gezwungen, und der gesamte Konvoi beginnt erneut zu versinken.
Der Rück-Stau zieht sich über Kilometer und wird zunehmend Ziel der Kosaken...
Schon in den ersten Tagen sterben über 10.000 Pferde. Die Ochsen vor den Tross-Fuhrwerken, eigentlich als Schlacht-Vieh für den Winter gedacht, finden auf den längs des Weges vermuteten Weide-Flächen einzig verschlammtes Heide-Kraut; fressen nasses Grün-Zeug und verenden in Massen. Auch unter den Soldaten breiten sich Hunger und Durst aus: In den Bächen und Flüssen ist das Wasser aufgewühlt und ungenießbar, und nach einer Woche sind die für acht Tage befohlenen Marsch-Rationen aufgebraucht. In den ärmlichen Hütten in der Umgebung ist nichts holen. Was die Kosaken nicht fortgeschafft oder verbrannt haben, wurde bereits von der eigenen Avantgarde-Kavallerie geplündert.
Entsprechend verärgert reagiert der Kaiser auf die Nachricht, dass es den Kosaken unter General Matwei Iwanowitsch Platow gelungen ist, ungestört sämtliche Vorräte der russischen Armee aus den Magazinen der Grenz-Stadt Grodno herauszuschaffen. Für Napoleon bekommen die Proviant- und Fourage-Lager der russischen West-Armee in Wilna höchste Priorität.
Noch höhere Priorität hat damit das Vorankommen der Artillerie.
"French Infantry Command Group"
Illustration von Alexander Yuryevich Awerjanow für »Zvezda«-Modell-Figuren.
"Am Ufer des Njemen am 30. Juni."
Stich nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...".
Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
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Auf einer Linie von fast 400 Kilometern – zwischen Rossien im Norden und Novyi Dvor im Süden – haben die acht Infanterie-Korps der russischen West-Armeen befehlsgemäß und gleichsam beschämt den Rückzug eingeleitet. Durch die Vorstöße der französischen Armee-Corps ist eine geschlossene Front nicht mehr herzustellen; die gegenseitige Flanken-Deckung ist nicht möglich; das 1te (russische) Infanterie-Korps unter General Ludwig Adolf Peter zu Sayn-Wittgenstein, das eigentlich mit der Deckung der Straße nach St. Petersburg betraut war, steht bei Kiejdany (auch Kedahnen, heute Kėdainiai, LIT; zwischen Rossien und Jonava) bereits unmittelbar vor der Gefahr, von der 7ten Infanterie-Division des X. Corps (MacDonald) nördlich und vom II. Corps (Oudinot) südlich umfasst und damit eingeschlossen zu werden. Darüber hinaus klafft durch den Rückzug des 6ten Infanterie-Korps unter General Dmitry Sergeyevich Dokhturov zwischen der 1ten und 2ten West-Armee inzwischen ein Riss von gut 150 Kilometern, und tatsächlich wäre die 2te West-Armee in einer weitaus gefährlicheren und nahezu unhaltbaren Lage gewesen, so Napoleon den Anmarsch seines rechten (südlichen) Flügels nicht erheblich verlangsamt und sein Bruder Jérôme den Vormarsch seines Corps nicht noch von sich aus verzögert hätte (in einem mit Datum vom 15. Juni verfassten Schreiben stellt Napoleon diese Situation heraus und weist Jérôme und Poniatowski in diesem Fall an, russische Truppen süd-östlich von Grodno gemeinsam mit dem VII. Corps (Reynier) und dem österreichischen "Auxiliar-Corps" nach Möglichkeit in den Flanken anzugreifen und bestenfalls einzuschließen).
Der anfängliche Plan, die einzelnen russischen Korps mit Beginn des Rückzugs von Etappe zu Etappe zusammenzuführen, um dann mit zunehmend geballterer Macht gezielt zurückzuschlagen, war angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der "Grande Armée" vom Tisch. Jetzt galt es, die eigenen Truppen möglichst ohne größere Verluste vom Feind abzuziehen und die Armee zu retten.
Eugène de Beauharnais, Vize-König von Italien und Stief-Sohn Napoleons, nimmt mit den 44.000 Soldaten seines IV. Corps in Marijampole (ca. 70 Kilometer westlich von Kaunas) sein Haupt-Quartier.
"Eugéne De Beauharnais, Prinz von Venedig, Vize-König von Italien, Kanzler des Französischen Kaiser-Reiches" (1753-1818)
Eugène de Beauharnais war der Sohn von Joséphine und Alexandre Vicomte de Beauharnais, der als Präsident der National-Versammlung 1794 unter der Guillotine starb. 1796 heiratete der junge General Bonaparte die reiche Witwe, womit Eugène Napoleons Stief-Sohn und von diesem 1797 adoptiert -, zum Offizier und persönlichen Adjutanten im Italien-Feldzug ernannt wurde. Am 7. Juni 1805 erhob Napoleon Eugène zum Vize-König von Italien, gab ihm jedoch nur die Befugnisse eines Militär-Gouverneurs.
Gemälde von Johann Heinrich Richter in der »Hermitage« (St. Petersburg, RUS).
"Hauptquartier des Vizekönigs Eugène in Marijampolė am 26. Juni."
"Biwak der Königlich-Italienischen Garde in Marijampolė am 26. Juni."
Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
Bildquelle(n): ► »Фонд Связь Эпох« (Stiftung Portale der Jahrhunderte, Moskau).
"Biwak der Königlich-Italienischen Gardes d´Honneur vor Marijampolė am 26. Juni."
Lithografie nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...".
Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
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Sa., 27. Juni: Vor Wilna (heute Vilnius, LIT; rund 900 km westlich von Moskau).
Das I. Corps (Davout) – die Speer-Spitze von Napoleons Haupt-Armee – steht einen halben Tages-Marsch südlich von Wilna; nördlich der Stadt das II. Corps (Oudinot); zwischen beiden, auf der Straße längs der Neris (bzw. poln. Wilia) auf Skoruly (Skaruliai, LIT), das III. Corps (Ney); sämtlich zur Schlacht formiert jedoch nicht bereit: Nach sieben Tagen fortwährender Märsche -, nach fünf Tagen Regen und drei Tagen ohne ausreichende Verpflegung sind Napoleons Truppen in der Art erschöpft, dass der Kaiser seinen Marschällen nachgibt und einen Ruhe-Tag gewährt, der jedoch alles andere als friedlich verläuft: Wie Mücken-Schwärme umkreisen Kosaken-Patrouillen die Marsch-Blöcke und nutzen jede Gelegenheit, der Invasions-Armee Schaden zuzufügen.
Schilderungen nach nähern sich am Nachmittag aus Richtung der Stadt einige Hundert litauische Studenten, die die rot-weißen Fahnen des ehemaligen Großfürstentums von Litauen schwingen und die Nachricht überbringen, dass die russischen Truppen, Offiziere und Generäle geordnet -, russische Adelige und polnische Kollaborateure aber auch die dem Zaren nachgereisten Höflinge panisch die Stadt in Richtung Osten verlassen. Garde-Kosaken unter der Führung des Generals Wassili Wassiljewitsch Orlow-Denissow decken den Abzug. Verwirrung kommt auf, als am Abend Meldungen eingehen, dass Einheiten des 3ten, 4ten und 5ten (russischen) Infanterie-Korps, die sich auf Wilna zurückgezogen hatten, sich bei Rikonti (heute Rykantai, LIT; knapp 15 km westlich vom Stadt-Zentrum von Wilna) sammeln. Umgehend trifft Napoleon Vorkehrungen zur Schlacht, und der Ruhe-Tag hat bei Einbruch der Dämmerung sein Ende. Als er dann im Morgengrauen des 28. Juni vor Ort eintrifft, findet er den Weg nach Wilna frei.
Barclay de Tolly hat die ihm verbliebenen Infanterie-Korps bei Niémenczin (heute Nemenčinė, LIT; etwa 20 km nord-östlich von Wilna) gesammelt und den Rückzug auf Sventsiany (heute Švenčionys, LIT) eingeleitet.
"Blick auf Vilnius vom Berg Tauros" (um 1872)
Die südlich von Wilna gelegene Höhe ist heute ein Stadt-Park im Zentrum von Vilnius.
Gemälde von Joseph Marševskis im »Litauischen Kunst-Museum« (Vilnius, LIT).
"Hauptquartier des Vizekönigs Eugène in Michalsky am 27. Juni." (heute Mikalinės, LIT)
Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
Bildquelle: ► »Фонд Связь Эпох« (Stiftung Portale der Jahrhunderte, Moskau).
"Biwak Sr. Königl. Hoheit des Kronprinzen Wilhelm von Württemberg bei Eve, den 28. Juni 1812." (wahrscheinlich Panevėshy bei Kaunas, LIT)
Friedrich Wilhelm, neben Marschall Ney Befehshaber des III. Corps, erkrankte im Sommer 1812 an der Ruhr und nahm am weiteren Feldzug nicht mehr teil.
Lithografie nach einer Vorlage von Christian Wilhelm von Faber du Faur, gefertigt von E. Emminger, gedruckt von C. Friedrich Autenrieth.
Bildquelle: ► »Landesarchiv Baden-Württemberg« (GER).
"Zwischen Kirgaliczky & Suderwa den 30. Juni 1812" (heute wahrscheinlich Kargliskiai oder Kazokiskis a.d. Wilia und Sudervė bei Kaunas, LIT)
Colorierte Lithografie von Christian Wilhelm von Faber du Faur aus "Blätter aus meinem Portefeuille im Laufe des Feldzugs 1812 in Russland an Ort und Stelle gezeichnet" in der Sammlung der »Universitätsbibliothek Tübingen« (GER).
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So., 28. Juni: Wilna.
Bei Sonnen-Aufgang machen die französischen Vorposten – Ulanen vom 8ten (polnischen) Ulanen-Regiment unter dem Kommando von Oberst Fürst Dominick Radziwill im II. Corps (Oudinot) – hinter Wilna eine Rauch-Säule aus, die schnell dunkler und dichter wird und darauf schließen lässt, dass die abziehenden russischen Garnisons-Truppen die Fourage-Lager am städtischen Hafen in Brand gesetzt haben. Bald stehen auch einige Mühlen in Flammen. General Étienne Marie Antoine Champion de Nansouty, Kommandeur des I. Reserve-Kavallerie-Corps, erteilt der 1ten leichten Kavallerie-Division unter Jean Pierre Joseph Bruguière den Befehl, umgehend nach Wilna aufzubrechen und zu retten was zu retten ist. Kurz vor der Stadt wird das der Avant-Garde zugeteilte "Königlich-Preussische kombinierte Husaren-Regiment Nr. 2" (je zwei Eskadronen des 3ten (Brandenburgischen) und des 5ten (Pommerschen)) unter Führung von Oberst Johann Wilhelm von Czarnowsky überraschend von einem größeren Kosaken-Streiftrupp attackiert, der sich zwar mit dem Eintreffen des 6ten polnischen Ulanen-Regiments wieder zurückzieht, den preussischen Husaren jedoch einige Verluste an Toten und Blessierten zugefügt hat.
Obwohl es den Einwohnern mit Hilfe der preussischen und polnischen Reitern relativ schnell gelingt, die brennenden Hafen-Magazine mit dem Wasser der Neris zu löschen und der eingelagerte Hafer augenscheinlich nur oberflächlich angebrannt ist, wollen die Pferde das verräucherte Getreide nicht fressen; die Kavallerie ist gezwungen, die Pferde im bereits abgegrasten Umland weiden zu lassen.
Nach einem heftigen Unwetter am Mittag wird Napoleon vor der ehemaligen Hauptstadt des Groß-Fürstentums Litauen von einem Spalier jubelnder und Fähnchen schwingender Bürger begrüßt und als Befreier gefeiert. Vor den Toren wird der Kaiser vom Magistrat mit dem Zeremoniell der symbolischen Schlüssel-Übergabe feierlich empfangen. Und obwohl Napoleon nach Schilderungen damaliger Zeitungs-Blätter (»Litauischer Kurier«) den Nachmittag damit verbringt, die Sonnen-Strahlen auf einer Bank vor dem Paców-Palast – zwei Tage zuvor noch Quartier von Zar Alexander – zu genießen und ungezwungen mit dem ihn umgebenden Stadt-Volk plaudert, ist er alles andere als entspannt: Seine Hoffnung, bereits hier Gelegenheit zu bekommen, die Masse der russischen West-Armee schnellst-möglich stellen und zu einer entscheidenden Schlacht zwingen zu können, hat sich nicht erfüllt; Barclay de Tolly ist mit dem 2ten, 3ten, 4ten und 5ten Infanterie-Korps entkommen, und der Kaiser muss feststellen, dass er über Stärken, Positionen und Bewegungen größerer Verbände der russischen Armee noch immer nur vage Informationen hat. Jetzt zielt Napoleon darauf, wenigstens die 2te West-Armee unter General Bagration abfangen zu können, nur ist weder das IV. (italienische) oder das V. (polnische), das VI. (bayerische) oder das VIII. (westphälische) Corps verfügbar; die Verbände haben noch nicht einmal die Grenze überschritten.
Mit dem Befehl an Davout, mit zwei Infanterie-Divisionen des I. Corps – die 1te, 2te und 3te Division unterstellt der Kaiser seinem linken (nördlichen) Flügel und damit dem Befehl Murats – umgehend nach Süd-Osten abzuschwenken, der 2ten russischen Armee bei Minsk den Weg zu verlegen und Bagration solange aufzuhalten, bis der rechte (südliche) Flügel unter Führung seines Bruders Jérôme im Anmarsch ist, kommt es zur zweiten größeren Änderung des Feldzugs-Planes.
Dann widmet sich Napoleon den Meldungen, die ihn aus Richtung der etwa 75 Kilometer nördlich gelegenen Stadt Vilkomir (heute Ukmergė, LIT) erreicht haben: Auf der Chaussee nach Dünaburg (heute Daugavpils, LVA) – etwa auf Höhe des Dörfchens Deweltowo (heute Deltuva, LIT) – ist der mit dem Vor-Trapp und der Flanken-Deckung beauftragte General Horace-François Sébastiani, Kommandeur der 2ten (leichten) Kavallerie-Division im II. Reserve-Kavallerie-Corps (Montbrun), am Vormittag auf einen größeren russischen Verband gestoßen und in das erste heftige Gefecht des Feld-Zuges verwickelt worden.
Bald steht fest, dass es sich bei den ausgemachten russischen Truppen um Einheiten der von General Jakow Petrowitsch Kulnew kommandierten Nachhut des 1ten Infanterie-Korps unter General Ludwig Adolf Peter zu Sayn-Wittgenstein handelt, das eigentlich den Weg von der Düna nach St. Petersburg zu decken hatte, jetzt aber auf Vilkomir (heute Ukmergė, LIT) ausgewichen ist, und wahrscheinlich den Zusammenschluss mit dem in nord-östliche Richtung ausweichenden 2ten Infanterie-Korps sucht.
Mit dem 23ten und 25ten Jäger-Regiment, den Husaren-Regimentern Grodno und Nezhinskiy sowie einer berittenen Batterie von 6 Geschützen – zusammen knapp 6.000 Mann – war es General Kulnew gelungen, die über 10.000 Kürassiere und Chevauxlegers des eiligst zusammengezogenen französischen Kavallerie-Corps solange aufzuhalten, bis Wittgenstein den Fluss Sventa überquert hatte.
Tatsächlich hatte Marschall Oudinot bereits am 25. Juni von Napoleon den Befehl erhalten, dem sich aus dem Groß-Raum Rossien (heute Raseiniai, LIT) auf Vilkomir zurückziehenden Verband Wittgensteins den Weg zu verlegen. Da jedoch die gesamte Artillerie des II. Corps samt Proviant und Reserve-Munition im Schlamm steckengeblieben -, auch der Weg nach Vilkomir infolge der Dauer-Regenfälle zu einem einzigen Morast geworden war, hatte Oudinot – in der Annahme, dass auch Wittgenstein durch die gleichen Widrigkeiten behindert werden würde – den Abmarsch seines Corps um zwei Tage herausgezögert.
Ohne auf Widerstand zu stoßen, zieht Oudinots Avant-Garde am Abend des 28. Juni in Vilkomir ein. Die Stadt, zwei Tage zuvor noch Haupt-Quartier des 1ten (russischen) Kavallerie-Korps, ist unzerstört; auch hier werden die Franzosen von der überwiegend litauischen Bürgerschaft freundlich empfangen. Wittgenstein ist Oudinot zwar entkommen, doch die von den Russen in der Eile des Rückzugs in den Magazinen zurückgelassen Vorräte lösen zumindest das Versorgungs-Problem seines Corps.
Marschall Ney, der mit seinem III. Corps vom Kaiser eigentlich dazu abgestellt war, die Passage(n) über die Memel-Njemen-Grenze und die litauische Hauptstadt Wilna zu sichern, doch am Vortag bereits Befehl erhalten hatte, auf der Straße längs der Neris (bzw. poln. Wilia) vorzugehen, bekommt die Order, von Suderwa (heute Sudervė, LIT; ca. 15 km nord-östlich von Wilna) über Gedroitzy und Sventsiany (auch Gedroits oder Giedrojcie, heute Giedraičiai bzw. Švenčionėliai, LIT) weiter in Richtung des Flüsschens Dysna zu marschieren, sich dort dem II. Corps anzuschließen und gemeinsam mit Marschall Oudinot zu verhindern, dass General Wittgenstein mit dem 1ten Infanterie-Korps in Richtung Norden – nach Riga oder St. Petersburg – ausweichen kann.
2tes (8tes franz.) "Régiment de Lanciers", Colonel um 1812.
Aquarellierte Zeichnung von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993).
Bildquelle: ► eigene Sammlung.
"Officier de Chevau-léger Lancier Polonais" (Réglement de 1812)
Offizier vom 8ten (2ten polnischen) Regiment Ulanen der "Grande-Armée"
Zusammen mit dem 7ten Regiment polnischer Ulanen beginnt die Geschichte der Einheit mit dem bereits 1772 in Galizien und Lodomerien zur Niederschlagung der Unruhen in den Niederlanden geworbenen "1ten Regiment (kaiserlich-österreichischer) Ulanen". Zu Beginn des sog. "Kościuszko"-Aufstands zog diese Einheit dann unter Befehl von Major Józef Poniatowski 1792 gegen Russland, trat nach der "Auslöschung" Polens auf die Seite der französischen Republik und kämpfte hier als Regiment "Weichsel-Ulanen" in der "Legion du Nord" (auch "Légion polonaise et italienne"), die per Dekret vom 31. März 1808 von Napoleon offiziell als "Légion de la Vistule" in die "Grande-Armée" übernommen wurde. Mit kaiserlichem Dekret vom 18. Juli 1811 wurden dann sämtliche Regimenter des Herzogtums von Warschau Teil der "Grande-Armée"; die "Weichsel-Ulanen" sowie das erst am 27. Mai 1811 errichtete 2te "Regiment Lanciers de la Vistule" wurden als 7tes und 8tes Régiment de Chevau-légers Lanciers eingereiht.
Druck nach einem Aquarell von Lucien Rousselot; nach einer Vorlage aus der Reihe »La Grande Armée de 1812« von Carle Vernet. Bildquelle: Mit freundlichen Dank an Herrn Zbigniew Piotrowski, Krakau.
"Ansicht von Wilna um 1807 - Missionärs-Kirche"
Gemälde von Zygmunt Vogel. Unbekannter Aufenthalt; Bildquelle: ► »WIKIPEDIA«.
"Ansicht von Wilna um 1807 - Dominikaner-Straße"
Gemälde von Zygmunt Vogel. Unbekannter Aufenthalt; Bildquelle: ► »WIKIPEDIA«.
"Paców-Palast" (Ansicht der Fassade im 19. Jhd. von der Šv. Jono; heute Botschaft der VR Polen).
Bildquelle: ► »Адметныя мясціны« (Sehenswürdigkeiten und Attraktionen von Weißrussland, Litauen und Podlachien).
"François-Horace Sébastiani" (1772-1851)
Nach einigen Niederlagen und territorialen Verlusten in Spanien bei Napoleon in Ungnade gefallen, erhielt Sébastiani vor Beginn des Russland-Feldzuges das Kommando über die 2te Kürassier-Division. Kurz vor dem Einmarsch wurde ihm die Führung der 2ten (leichten) Kavallerie-Division übertragen.
Gemälde von Franz Xaver Winterhalter im »Château de Versailles« (Paris, FRA).
"Jakow Petrowitsch Kulnew" (1763-1812)
Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
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So., 28. Juni: Memel-Njemen-Grenze bei Tilsit (ca. 260 km westlich von Riga).
Das preussische Kontingent unter General Julius August Reinhold von Grawert überschreitet bei Tauroggen (heute Tauragė, LIT; zwischen 1691 und 1793 brandenburgisch-preussische Enklave) die preussisch-russische Grenze und rückt zusammen mit der 7ten Infanterie-Division unter General Charles Louis Dieudonné Grandjean in die zum russischen Ostsee-Gouvernement gehörende Region Kurland ein (heute Teil von Lettland). Erste Etappe ist die knapp 40 Kilometer hinter der Grenze gelegene Stadt Niemeksen (heute Nemakščiai, LIT).
Bei Rossien (auch Rosiena oder Rossieny, heute Raseiniai, LIT; etwa 20 km süd-östlich von Niemeksen) beziehen die Polen und Litauer, Bayern und Westphalen der 7ten Infanterie-Division ein Marschlager und sichern den Aufmarsch des X. Corps gegen mögliche Überraschungen; Napoleon hat dem kommandierenden Marschall Étienne MacDonald besondere Achtsamkeit und Vorsicht auferlegt: Vorsicht vor herumstreifenden Kosaken und Achtsamkeit auf die Preussen, deren Zuverlässigkeit der Kaiser misstraut.
Ziel des X. Corps ist die Festungs-Stadt Riga an der Düna-Mündung, deren Ostsee-Hafen den Russen die Möglichkeit eröffnet, über den Hafen von St. Petersburg Marine-Truppen anzulanden, die der "Grande Armée" in den Rücken fallen könnten. In der stark befestigten Hafen-Stadt sind etwa 18.000 Soldaten unter dem General-Gouverneur Magnus Gustav (Iwan Nikolajewitsch) von Essen garnisoniert; überwiegend Rekruten und Reservisten.
… siehe dazu ausführlich: »1812 - Baltische Erinnerungsblätter«, herausgegen von Dr. Friedrich Gustav Bienemann, Riga 1912. Online verfügbar in der Bibliothek der Universität von Tartu (EST).
"Preussische Stabs-Offiziere bei der Rekognoszierung 1812"
Gemälde von Jan van Chelminski, lt. »Christie's« seit 1998 in Privat-Besitz.
Ohne Titel (Das preussische Hilfs-Kontingent auf dem Marsch an die Memel)
Gemälde von Albrecht Adam, lt. »invaluable« im März 2021 versteigert..
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So., 28. Juni: Memel-Njemen-Grenze bei Grodno (heute Hrodna, BLR; ca. 150 km südlich von Kowno)
Bereits am 27. Juni war die wohl recht unbekümmert aus Richtung Lomscha (heute Łomża, POL) daherkommende Avant-Garde des VIII. Corps (König Jérôme) – eine Eskadron westphälischer Husaren – vor einer Brücke über die Lososyanka unter heftigen Beschuss einer am anderen Ufer patrouillierenden Kosaken-Abteilung geraten und zum Rückzug gezwungen worden. Die Husaren hatten Order, die etwa vier Kilometer hinter der Lososyanka gelegenen Brücken über den Njemen bei Grodno zu sichern; die Kosaken, Reiter von drei der insgesamt vierzehn Regimenter des von Reiter-General Matwei Iwanowitsch Platow geführten Don-Kosaken-Korps, die in den vergangenen drei Tagen rund eintausend Pferde-Fuhrwerke voller Lebensmittel, Waffen und Munition aus der Grenz-Stadt abtransportiert hatten, waren mit der Zerstörung der Passagen beauftragt.
Mit der Ankunft einer polnischen Ulanen-Brigade unter General Jan Henryk Dąbrowski (4te leichte Kavallerie-Division unter General Alexander Rożniecki im IV. Reserve-Kavallerie-Corps von General Marie Victor Nicolas de Fay de Latour-Maubourg) und der kurz darauf eintreffenden leichten westphälischen Infanterie zogen sich die Kosaken in Richtung Grodno zurück.
Dąbrowskis Ulanen sind die ersten, die sich kurz nach Sonnen-Aufgang dem kurz vor der Njemen-Brücke gelegenen Vorort Zaneman nähern. Eigentlich darauf eingestellt, in den nur schwer durchschaubaren Wäldern am Fluss-Ufer von dem mit rund 8.000 Mann weit überlegenen Kosaken-Korps aus einem Hinterhalt angegriffen zu werden, sind die Ulanen vollkommen überrascht, als sie aus der Deckung der bewaldeten Höhen-Kämme am gegenüberliegenden Ufer von mindestens zwei Batterien der Don-Artillerie-Kompanien mit gut gezielten Salven unter Feuer genommen werden. Und obwohl es der Masse der polnischen Lanzen-Reiter gelingt, im Dauer-Beschuss durchzubrechen, ist die nachfolgende Infanterie gezwungen, erst die Ankunft der über die beiden Infanterie-Divisionen verteilten Artillerie unter Kommando des französischen Artillerie-Generals Jacques Alexandre Allix de Vaux abzuwarten.
Vor der Brücke geraten Kavallerie und Infanterie dann mit der Garnison von Grodno in heftige Gefechte. Mehrere Versuche, die Brücke im Sturm zu nehmen, scheitern im Feuer der russischen Artillerie, die inzwischen beidseits des östlichen Brücken-Kopfes in Stellung gegangen ist. Da Platow selbst über keine Infanterie verfügt und die Garnisons-Truppen dem stetig zunehmenden Druck der nach und nach eintreffenden westphälischen Infanterie nicht standhalten können, leiten die russischen Einheiten im Schutz der Dämmerung den Rückzug ein.
Die letzten Salven der russischen Artillerie treffen die vorbereiteten Spreng- und Brand-Sätze; mit Einbruch der Dunkelheit steht die Brücke in Flammen. Und während sich Platows Kosaken über das Flüsschen Solomjanka auf Šukynas und weiter nach Lyda (heute Schtschutschyn bzw. Lida, beides BLR) absetzen, stehen nun auch die westphälischen Pontoniere und Sappeure vor der Pflicht, den Njemen provisorisch überbrücken zu müssen.
Mo., 29. Juni: Gegen 3:00 Uhr morgens und unter immer wieder aufkommenden Stör-Feuer sind zwei neue Passagen – eine Ponton- und eine Floß-Brücke – montiert. Den kurz darauf herüber-stürmenden Voltigeurs, Chasseurs und Carabiniers der leichten westphälischen Infanterie-Bataillone gelingt die Gefangennahme von rund 60 Soldaten und Offizieren der russischen Nachhut; bis zum Mittag hat die westphälische Linien-Infanterie die Stadt besetzt und gesichert.
Di., 30. Juni: Unter dem Jubel der in Grodno verbliebenen Litauer zieht König Jérôme Bonaparte in die Grenz-Stadt ein und nimmt Quartier im Maksimovich-Palast, der neu erbauten Residenz des erst am Vortag evakuierten russischen Vize-Gouverneurs Konstantin Maksimovich. Napoleons jüngerer Bruder, der mehr für seine ausschweifenden Gelage und pompösen Bälle als mit napoleonischer Politik und genialer Militär-Strategie bekannt ist (in Kassel, dem Regierungs-Sitz seines Reiches, wird er spöttisch König "morgen wieder lustig" genannt), setzt eine Verwaltungs-Kommission ein, die die Mitglieder einer provisorischen Litauischen Provinz-Regierung bestimmen soll, erteilt seiner Armee drei Tage Ruhe und der Stadt – und sich – eine drei-tägige Sieges-Feier.
Bagage-Wagen der russischen Armee.
Lithographie von Johann Adam Klein um 1816.
Bildquelle: Befreundeter Sammler.
"Biwak der Don-Kosaken"
Gemälde von Sergei Troshin im »Staatlichen Historischen Museum 1812« (Malojaroslawez, RUS).
Bildquelle: ► Internet-Präsenz von Sergei Troshin.
"Kosak im Kampf"
Colorierter Kupferstich von Charles François Gabriel Le Vachez (nach einem Original von Carle Vernet).
Bildquelle: ► Buch- und Kunst-Auktionshaus »Zisska & Lacher« (München, GER).
"Matvei Ivanovich, Count Platow, Ataman of the Cossacks" (1753-1818)
Gemälde von Peter Edward Stroehling in »The Royal Collection« (Windsor Castle, UK).
"Jérôme Bonaparte, roi de Westphalie" (1784–1860)
Gemälde von François Gérard im »Musée national du Château de Fontainebleau« (Fontainebleau bei Paris; FRA).
Bildquelle: ► »art uk« (public art collection in the UK).
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So., 28. Juni, bis Di., 30. Juni: Das IV. Corps an der Memel-Njemen-Grenze bei Pilony (heute Piliuona, LIT; ca. 15 km südlich von Kowno).
"Vor Pilony in der Nähe des Njemen am 29. Juni 1812."
Colorierte Lithografie nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...".
Illustration aus »With Napoleon in Russia - The Illustrated Memoirs of Albrecht Adam, 1812« von Jonathan North, Verlag Pen and Sword Military, 2005.
Noch vor dem Sonnen-Aufgang sind die ersten Bataillone des IV. Corps auf Befehl ihres Ober-Kommandeurs kolonnen-weise am Ufer des Njemen angetreten. Teile des 2ten Bataillons Pontonniers sowie die drei corps-eigenen Pontonier-Kompanien (eine französische und zwei italienische) stehen mit ihren "Wannen" und beschlagnahmten Fluss-Kähnen bereit, die Infanterie über den Fluss zu setzen; Kavallerie und Train müssen die Furt (bis zum 1. Juni) zu Pferd passieren. Jubel kommt auf, als Eugène de Beauharnais, Stief-Sohn des Kaisers und von diesem beinahe auf den Tag genau vor sieben Jahren als Vize-König in Italien eingesetzt, die Hand erhebt und seiner Streit-Macht in theatralischer Geste den Weg in Richtung der aufgehenden Sonne und damit hinüber zum rechten Ufer des Njemen weist.
Noch vor dem Sonnen-Untergang haben die meisten der 44.000 italienischen und französischen, kroatischen, dalmatischen und spanischen Soldaten die Grenze passiert und der Vize-König bezieht im Herren-Haus von Krouni (heute Kruonis, LIT; knapp 6 Kilometer östlich des Njemen) sein neues Haupt-Quartier.
"Das Armeekorps des Vizekönigs überschreitet bei Pilony den Njemen am 30. Juni 1812."
Lithografie nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...".
Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
"Übergang des italienischen Corps von Eugène Beauharnais durch den Neman am 30. Juni 1812."
Colorierte Zeichnung von Albrecht Adam aus dem »Tagebuch des russischen Feldzugs von 1812 … « in der Sammlung »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
"Marsch des 4ten Armeekorps von Pilony nach Krouni am 30. Juni 1812."
Stich nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...".
Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
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So., 28. Juni: "Hauptquartier des Vizekönigs Eugène bei Jahimizki." (vermutl. Samaniškės, LIT) |
Mo., 29. Juni: "Hauptquartier des Vizekönigs Eugène bei Piloni." |
Di., 30. Juni: "Hauptquartier des Vizekönigs Eugène bei Piloni." |
Di., 30. Juni: "Hauptquartier des Vizekönigs Eugène bei Krouni." |
Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS). Bildquelle: ► »Фонд Связь Эпох« (Stiftung Portale der Jahrhunderte, Moskau).
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Mo., 29. Juni: Östlich der Memel-Njemen-Grenze zwischen Rossien, Wilna und Grodno.
Hatte es zwischen dem 21. und 26. Juni beinahe ununterbrochen und kräftig geregnet, boten die nächsten beiden Tage einen ersten Eindruck von den klimatischen Extremen Russlands: Fallen die Temperaturen mit Einbruch der Nacht noch immer schnell unter den Gefrier-Punkt, erreichen sie bereits zur Mittags-Stunde Werte von weit über 30 Grad. Straßen und Wege haben sich in einen klebrigen, zerfahrenen Morast verwandelt, der in der Nacht gefriert und am Tage wieder auftaut. Verschwitzt und geplagt von den überall aufsteigenden Mücken-Schwärmen ist jeder Schritt für Mensch und Tier eine einzige Qual.
Verschiedenen Quellen nach verdunkelt sich am 29. Juli der Himmel über der gesamten Region von Tilsit bis Grodno schlagartig; ein orkan-artiger Sturm kommt auf und begleitet von Blitz und Donner bricht mit faust-großen Hagel, Schnee und bald folgendem Stark-Regen das bislang schlimmste Unwetter über die "Grande Armée". Und so auch die einzelnen Korporalschaften mangels ihrer Zelte, die irgendwo Kilometer hinter den Marsch-Kolonnen im Train feststecken, allabendlich aus Ästen und Busch-Werk sogenannte "Abrivents" errichten, die die Männer samt ihren Waffen und dem anfälligen Schieß-Pulver vielleicht gegen einen leichten Regen-Schauer abschirmen, so bieten die provisorischen, auf zwei oder drei Seiten offenen Unterstände gegen die an diesem Tag herabstürzenden Fluten und die eisigen Böen keinerlei Schutz. Im Ergebnis des Kälte-Einbruchs in der Nacht vom 29. zum 30. Juni werden mehr als 10.000 erfrorene Pferde gemeldet; mindestens 1.000 tote Soldaten werden gezählt, und die Gendarmen sammeln über 2.000 Verstreute ein, die aus welchen Gründen auch immer die Orientierung oder den Anschluss an ihre Einheiten verloren haben. Murats Kavalleristen, die ebenfalls erhebliche Pferde-Verluste haben, bedienen sich kurzerhand bei der Artillerie und beim Train, wobei es bei den hier registrierten Gewalttätigkeiten zu einigen Toten und Verletzten kommt.
Rund 80 Geschütze stehen in Wilna und warten auf Ersatz-Bespannungen; nach nicht einmal einer Woche zeigt die "Grande Armée" erste Zerfalls-Erscheinungen.
Di., 30. Juni: An der Bug-Grenze bei Buczyska (heute Bużyska, POL).
Das österreichische "Auxiliar-Corps" unter General Karl Philipp zu Schwarzenberg hat die etwa 150 Kilometer von Lublin über Radowiec und Międzyrzec (alles 1809 dem Herzogtum Warschau zugeschlagen, heute POL) zum Grenz-Fluss Bug in gut einer Woche zurückgelegt. An einer seichten Stelle zwischen Buczyska und Drogiczin (heute Bużyska und Drohiczyn, POL) wollen die Österreicher den Fluss und damit die Grenze nach Russland überqueren; die drei Pionier-Kompanien beginnen mit dem Bau von drei einfachen Lauf- oder Steg-Brücken. Einstweiliges Ziel von Schwarzenberg ist die südliche Flanke der 2ten (russischen) West-Armee, gegen deren nördliche Flanke (eigentlich das IV. Corps des Vize-Königs vorgesehen war) das I. Corps (Davout) im Anmarsch ist. Doch noch ist Schwarzenberg mit seinen etwa 24.000 Mann gegen die mindestens 45 bis 50.000 Mann starke Armee des Generals Bagration deutlich unterlegen. Ausgleich soll der französische General Jean-Louis-Ebenezer Reynier mit dem etwa 17.500 Mann starken VII. (sächsischen) Corps bringen. Reynier, der eigentlich Order hatte, die Grenz-Region im Groß-Raum Wolhynien entlang der nur schwer überschaubaren Bug-Linie abzuschirmen und erst am 27. Juni in seinem Haupt-Quartier bei Szumanow (wahrscheinlich Szymanowo, etwa 100 km nördlich von Lublin, POL) Kenntnis von Napoleons Bulletin -, vom Kriegs-Beginn und einen Marsch-Befehl auf Belostok (heute Białystok, POL) erhalten hat, überschreitet am 29. Juni den Bug bei Kózki und wird die Grenze zwischen dem 1. und 2. Juli erreicht haben.
Dass General Bagration die Vereinigung des österreichischen "Auxiliar-Corps" mit dem französisch-sächsischen Corps abwarten oder gar einen der beiden Verbände angreifen wird, während Davout ihm den Rückzugs-Weg verlegt, wird nicht zu erwarten sein.
General und Feld-Marschall Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg
Unbekannter Künstler; Gemälde im »Schloss Krumau« (vormals Böhmen, heute Schloss Český Krumlov, CZE).
General Jean-Louis-Ebenezer Reynier (1771-1814)
Gemälde von Henri Félix Emmanuel Philippoteaux im »Château de Versailles« (Paris, FRA).
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Di., 30. Juni: … nahe Aleksotas (ca. 4 Kilometer nördlich von Kowno; Njemen).
Innerhalb von vier Tagen haben die beiden Pontonier-Bataillone vor den Höhen von Aleksotas aus massiven Baum-Stämmen eine vierte Passage über den Njemen fertig-gestellt. Bis zum Bau eines hier von Napoleon vorgesehenen Viadukts soll die provisorische jedoch in stabiler Joch-Bauweise errichtete Brücke die Haupt-Verbindung zwischen dem Imperium und den östlich der Njemen-Memel-Grenze zu gewinnenden Gebiete sicher stellen.
Als am Morgen des 30. Juli beide Pontonier-Bataillone damit beginnen, die drei Ponton-Brücken vor Kowno zu demontieren und Bohlen, Taue und Pontons am rechten Ufer für den Weiter-Marsch in Richtung Osten zu verladen, haben sämtliche Kampf-Truppen, die Napoleon für die Invasion Russlands vorgesehen hat, den Grenz-Fluss überquert. Über die Joch-Brücke peitschen Soldaten des Trains bereits die ersten Munitions-Wagen mit der Zweit- und Dritt-Ausstattung für die Artillerie.
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Kapitel-Inhalt
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Mi., 1. Juli: Wilna (heute Vilnius, LIT; rund 900 km westlich von Moskau).
Waren die Nächte in der letzten Juni-Woche des Jahres 1812 für einen Sommer außergewöhnlich kalt, so wurden die ersten Juli-Tage heißer und heißer. Und so das auf den Feldern reifende Getreide nicht durch die Unwetter der vergangenen Tage vernichtet worden war, nutzten die Kosaken jede Gelegenheit, die in Aussicht stehende Ernte niederzubrennen. Die Zug-Tiere des französischen Trains waren zu Tausenden verhungert, verdurstet oder mangels Pflege und Fürsorge elendig krepiert; der von den verwesenden Tieren ausgehende Gestank machte das Atmen unerträglich. Mehr und mehr voll beladene Fuhr-Werke der Proviant-Kolonnen blieben am Weges-Rand stehen; der Nachschub an Lebensmitteln für die Armee kam zum Erliegen und sogar fernab der "befreiten" Städte und Dörfer konnten auch die der Plünderung erfahrenen Veteranen kaum etwas Genießbares heranschaffen. Selbst die Offiziere mussten sich mit dem zufrieden geben, was ihre Burschen durch Raub-Züge erlangten. Und da auch die Geld-Truhen in den Kassen-Wagen der Zahl-Meistereien hinter den Truppen steckengeblieben waren, blieben auch die Sold-Zahlungen aus, womit den Soldaten auch die kost-spielige Versorgung über die Marketender nicht möglich war.
Die Mindest-Ration von 750 Gramm Brot, einem halben Liter Bier und einem Sechstel Liter Brannt-Wein, auf die jeder Soldat täglich Anspruch hatte, konnte bald auch den Truppen-Offizieren nicht mehr garantiert werden.
Mit dem überall aufkommenden Hunger ging der Durst einher; die Soldaten tranken Wasser aus Bächen oder Flüssen, in denen Kadaver ertrunkener Tiere und die Fäkalien Tausender Soldaten trieben. Und da mit dem Brot auch der Brannt-Wein ausblieb (der zur Abtötung von Keimen in nicht abgekochtem Wasser vorgesehen war), verbreiteten sich Durchfall-Erkrankungen wie die Ruhr oder Typhus in gleicher Geschwindigkeit, wie der bald überall zu hörende Begriff der "Verbrannten Erde".
Ersten Schätzungen nach waren auf der ersten, knapp 100 Kilometer langen Etappe von Kowno nach Wilna bis zu 30.000 Soldaten erkrankt oder tot hinter der französischen Armee zurückgeblieben.
In Wilna hatte Napoleon den Gesandten des Zaren, General-Adjutant Alexander Dmitrijewitsch Balaschow, drei Tage warten lassen, um dann das am 30. Juni vorgetragene Angebot zu einer friedlichen Lösungs-Findung aus der Position des stärkeren, überlegenen und sieges-sicheren Feld-Herren brüsk abzulehnen und dem russischen Parlamentär die französischen Friedens-Bedingungen zu nennen: Abtretung aller Gebiete westlich der Düna von Riga nach Smolensk und von dort entlang des Dnjepr bis zum Schwarzen Meer.
"Wenn ich etwas nehme, betrachte ich es als das Meine!", lässt er dem Zaren ausrichten (andere Quellen übersetzen Napoleons Erwiderung mit den Worten: "Ich gebe doch nicht aus der Hand, was ich bereits in Besitz genommen habe!").
Zar Alexander, mit der 1ten West-Armee inzwischen im Marsch-Lager bei Swenziany (heute Švenčionys, LIT; etwa 80 Kilometer östlich von Wilna), bricht nach dem Erhalt dieser Nachricht jeglichen Kontakt zu Napoleon ab.
"Bei Eve den 29. Junius 1812." (wahrscheinlich Panevėshy bei Kaunas, LIT)
Colorierte Zeichnung von Christian Wilhelm von Faber du Faur aus "Blätter aus meinem Portefeuille im Laufe des Feldzugs 1812 in Russland an Ort und Stelle gezeichnet" in der Sammlung der »Universitätsbibliothek Tübingen« (GER).
"Ein Posten kaiserlicher Gardisten vor Wilna - Am 3. Juli 1813 gezeichnet nach der Natur von Albrecht Adam." Holz-Schnitt von Emil Ost, ca. 22 x 13,5 cm; Xylografische Anstalt, Berlin um 1889.
Bildquelle: Eigene Sammlung.
"Balaschow bei Napoleon"
Illustration von Andrei Wladimirowitsch Nikolaev zum Roman "Krieg und Frieden" von Lew Nikolajewitsch Tolstoi in der Sonder-Ausstellung des Staatlichen Militärhistorischen Museums »Schlachtfeld Borodino« (bei Moskau, RUS).
General Alexander Dmitrijewitsch Balaschow (1770–1837)
Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
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Allgemeine Lage. |
Während Marschall Davout – eigentlich von der Hoffnung erfüllt, mit dem I. Corps als erster in der russischen Hauptstadt Moskau einziehen zu können – mit den beiden ihm verbliebenen Infanterie-Divisionen am 4. Juli Wischnew (auch Wisniow oder Vishnevo; heute Wischnewa oder Višnieva, BLR) erreicht, am 5. Juli bereits zwischen Wolozin und Bobrowitzky (heute Waloschyn und Bobrovichi, beides BLR; gut 100 km süd-östlich von Wilna) steht und von dort aus zusammen mit General Emmanuel de Grouchy, der sein III. Reserve-Kavallerie-Corps von Solocznicki (Šalčininkai, LIT) über Trabai (Traby, BLR) nach Wischnew geführt hat, im Eil-Marsch weiter süd-ostwärts in Richtung Minsk vorrückt, um der 2ten (russischen) West-Armee den Rückzugs-Weg zu verlegen; Murats Kavallerie bei Kochergishki (heute Kocherzhishki, BLR; rund 75 km nord-östlich von Wilna) die Nachhut der 1ten (russischen) West-Armee ausmacht; Marschall Ney mit Teilen des III. Corps am 1. Juli von Gedroitzy und Sventsiany (auch Gedroits oder Giedrojcie, heute Giedraičiai, ca. 50 km nördlich von Wilna, bzw. Švenčionėliai, LIT) nach Maliaty (heute Molėtai, LIT) vorrückt, um Marschall Oudinot und das II. Corps bei der Verfolgung des 1ten (russischen) Infanterie-Korps unter Wittgenstein zu verstärken; die über 25.000 Bayern des VI. Corps unter Marschall Laurent de Gouvion Saint-Cyr im direkten Anschluss an das IV. Corps des Vize-Königs Eugène zwischen dem 2. und 3. Juli die Memel-Njemen-Grenze etwa 20 Kilometer fluss-aufwärts bei Pilony zu überqueren; das IV. (italienische) Corps selbst Wilna südlich umgeht; das IV. Reserve-Kavallerie-Corps von General Marie Victor Nicolas de Fay de Latour-Maubourg von Grodno auf Lyda (heute Lida, BLR) marschiert; das VII. (sächsische) Corps unter General Reynier den Grenz-Fluss Narew bei Surash (heute Suraż, POL) überquert hat und über Belostok (heute Białystok, POL) im Eil-Marsch die Vereinigung mit dem österreichischen "Auxiliar-Corps" bei Slanimas (auch Slonim, heute BLR) sucht und sich das preussische Hilfs-Kontingent unter General Grawert mehr langsam und gemächlich in Richtung Riga bewegt, vergnügt sich Jérôme, jüngerer Bruder des Kaisers und von diesem zum König von Westphalen erhoben, in Grodno auf den von ihm und im Gegenzug vom litauischen Stadt- und Land-Adel ihm zu Ehren gegebenen Bällen, Gelagen und Festivitäten. Die Soldaten des von ihm kommandierten VIII. (westphälischen) Corps werden inzwischen von dem ihm eigentlich nachfolgenden Einheiten des V. (polnischen) unter Poniatowski überholt, die nun an seiner Stelle auf Minsk marschieren; einzig einige Einheiten der (westphälischen) Corps-Kavallerie rücken etwas weiter vor, sichern die Umgebung von Grodno gegen Platows Kosaken und versuchen die Verbindung zu Latour-Maubourg und dem IV. Reserve-Kavallerie-Corps nicht abreißen zu lassen.

"Hauptquartier (des Vize-Königs Eugène) bei Zigmory am 2. Juli." (heute Žiežmariai, LIT; knapp 20 km östlich von Piliuona). Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS). Bildquelle(n): ► »Фонд Связь Эпох« (Stiftung Portale der Jahrhunderte, Moskau).
Aber es sind nicht nur die Befürchtungen um die schwindenden Aussichten auf den Ruhm und das Unverständnis über die Unzuverlässigkeit Jérômes, die Davout verärgern: Mit nur etwas mehr als einem Tages-Marsch Abstand sind ihm die in und um Smorgon (heute Smarhon, BLR; 75 km östlich von Wilna) garnisonierten knapp 4.000 Mann des 2ten (russischen) Kavallerie-Korps unter General Friedrich Nikolaus Georg von Korff sprich-wörtlich direkt vor der Nase in nord-östliche entkommen. Und in strenger Erfüllung der von Napoleon erteilten Order, die 2te (russische) West-Armee zur Schlacht zu stellen, kann er auch auf General Grouchys Kavallerie nicht verzichten bzw. dessen Drängen nachgeben, den Verband zusammen mit der bei Rudniki (heute Rūdninkai, LIT; 30 km südlich von Wilna) stehenden Kavallerie des IV. (italienischen) Corps des Vize-Königs Eugène zu verfolgen (die Regimenter des 2ten russischen Kavallerie-Korps werden bei Wilna und Kochergishki noch in einige Nachhut-Gefechte verwickelt, werden aber auch der von Murat geführten Kavallerie ohne wesentliche Verluste entkommen).

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General Emmanuel de Grouchy (1766-1847). Gemälde von Jean Sébastien Rouillard im »Château de Versailles« (FRA) und General Marie-Victor-Nicolas de Faÿ, Marquis de La Tour-Maubourg (1768-1850). Gemälde von Robert Lefèvre im »Musee de l'Armee« (Hôtel des Invalides, Paris; FRA; Bildquelle: WIKIPEDIA)

"Studie französischer Soldaten."

"Hauptquartier (des Vize-Königs Eugène) auf dem Hof des alten Schlosses von Holzany am 11. Juli." (Halschany, BLR; rund 70 km süd-östlich von Wilna). Lithografie(n) nach Vorlage(n) von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...". Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
Von Grodno kommend und inzwischen etwa 100 Kilometer weiter in Richtung Osten vorgerückt, machen Verbände des IV. Reserve-Kavallerie-Corps unter General Latour-Maubourg bei Lyda (heute Lida, BLR) das 3te (russische) Kavallerie-Korps unter General Peter Petrowitsch von der Pahlen mit rund 3.000 Dragonern und 12 Geschützen aus, das den Rückzug des 6ten Infanterie-Korps unter General Dmitri Sergejewitsch Dochturow in nord-östliche Richtung – und damit direkt auf das I. Corps (Davout) – deckt. Und so auch dieser Verband mit insgesamt etwa 20.000 Mann für Davout noch keine Bedrohung darstellt, bewegen sich auch das 7te und 8te (russische) Infanterie- samt dem 4ten (russischen) Kavallerie-Korps – und damit die gesamte 2te West-Armee des Generals Peter Iwanowitsch Bagration – von der gegenwärtigen Position bei Wolkowisk (heute Waukawysk, BLR) über Slonim in diese Richtung. Als Montbrun dann auch noch bei Nowogrudok (heute Nawahradak, BLR; über 100 Kilometer westlich von Minsk) die über 10.500 Mann der erst im Mai bei Moskau komplett formierten 27ten Infanterie-Division unter General Dmitri Petrowitsch Neverovsky ausmacht, zeigt sich der Ernst der Lage: Der Zusammenschluss dieses Verbandes mit der 2ten West-Armee ist nicht mehr zu verhindern; und sollte es General Bagration gelingen, das von Dochturow geführte 6te Infanterie-Korps seinem Verband anzuschließen, wären die einzelnen Corps der rechten (südlichen) Flanke der "Grande Armée" diesem dann wesentlich stärkeren Verband unterlegen.

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General Dmitri Sergejewitsch Dochturow (1756-1816) und General Peter Johann Christoph Petrowitsch Graf von der Pahlen (1777-1864) Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).

"Russian Dragoons 1812-1814" (Leibgarde-Dragoner) Illustration von Alexander Yuryevich Awerjanow für »Zvezda«-Miniatur-Figuren.
Subaltern-Offizier des Irkutsker Dragoner-Regiments und Gefreiter des Orenburger Dragoner-Regiments. "Post-Karten aus der Reihe "Русская армия 1812 г." (Die russische Armee 1812). Bildquelle: ► Eigene Sammlung.
Überschaubarer gestaltet sich die Situation an der linken (nördlichen) Flanke: Das II. Corps unter Marschall Oudinot steht hinter Vilkomir (heute Ukmergė, LIT), folgt dem 1ten (russischen) Infanterie-Korps unter General Ludwig Adolf Peter zu Sayn-Wittgenstein im Abstand von etwa einem Tages-Marsch und muss dabei gleichzeitig darauf bedacht sein, dass das von General Karl Gustav von Baggehufwudt kommandierte 2te (russische) Infanterie-Korps nicht weiter nach Nord-Osten ausweicht und beiden Verbänden eine Vereinigung gelingt.
General Ludwig Adolf Peter zu Sayn-Wittgenstein (1768-1842) und General Karl Gustav von Baggehufwudt (1761-1812) Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
Oudinots Sorgen erweisen sich als unnötig, als Baggehufwudt mit seinem Infanterie-Korps überraschend in süd-östliche Richtung abschwenkt und sich bei Sventsiany (heute Švenčionys, LIT) der 1ten West-Armee anschließen kann.
Damit steht Marschall Michel Ney vor einer noch größeren Verantwortung: Ney, der mit seinem rund 40.000 Mann starken III. Corps eigentlich dazu vorgesehen war, die Memel-Njemen-Grenze und die litauische Hauptstadt Wilna zu sichern, hatte bereits am 29. Juni den Befehl erhalten, von Suderwa (heute Sudervė, LIT; ca. 15 km nord-östlich von Wilna) auf der Straße längs der Neris (bzw. poln. Wilia) über Gedroitzy (oder Gedroits; heute Giedraičiai, LIT) und Sventsiany weiter in nord-östliche Richtung vorzustoßen. Ney ist damit auf das 3te, 4te und 5te (und nun auch 2te) russische Infanterie-Korps angesetzt und folgt der Masse der 1ten West-Armee, die sich von Wilna aus mehr oder weniger geschlossen in östliche Richtung auf das zum Sammel-Punkt bestimmte Feld-Lager bei Drissa an der Düna (an der Fluss-Biegung Dvorchany, BLR) zurückzieht. Hinter der Dysna bei Rimszany (auch Rymszany; heute Rimšė, LIT) gelingt es Barclay de Tolly am 04. Juli seine Verbände zu ordnen.
Vor und zwischen Oudinots II. und Neys III. Corps das von Marschall Murat geführte I. und II. Reserve-Kavallerie-Corps und die 2te Infanterie-Divisionen von General Louis Friant, die Marschall Davout auf Befehl des Kaisers hatte abgeben müssen, um Ney zumindest soweit zu verstärken, dass er zusammen mit Oudinots Corps dem vom russischen Zaren geführten Groß-Verband stärke-mäßig in etwa gleich-wertig ist.
Napoleon beschließt, den Rückzug der 1ten West-Armee unter Barclay de Tolly weiter von Oudinot, Ney und Murat flankieren zu lassen und sich auf die schneller operierende jedoch wesentlich kleinere und damit leichter zu schlagende 2te West-Armee zu konzentrieren. Gelingt es, den Ring um den sich im Groß-Raum Lyda-Slonim-Nieswisch (heute Njaswisch, BLR) ost-wärts bewegenden und inzwischen auf etwa 70.000 Mann angewachsenen Verband zusammenzuziehen, Bagration einzukesseln und anschließend zur Kapitulation zu zwingen oder zu vernichten, wäre die gesamte russische Armee nicht nur exekutiv nachhaltig beschädigt, sondern auch moralisch schwer angeschlagen. Zur Verstärkung Davouts, der mit seinem geschwächten I. Corps zwischen Wilna und Minsk eine Linie von fast 200 Kilometern deckt ("das größte, offene Tor" wie Napoleon den Weg in Richtung Osten betitelt), entsendet der Kaiser die erst dem Garde-Corps angegliederte -, dann Marschall Ney unterstellte "Légion de la Vistule" – eine Infanterie-Division mit drei (andere Quellen nennen vier) überwiegend aus Polen gebildeten Regimentern mit insgesamt etwa 7.000 Mann – unter General Michel Marie Claparède.
So die letzt-bekannten Standorte und Marsch-Richtungen eigener und gegnerischer Verbände während den Lage-Besprechungen in den Truppen- und General-Stäben häufig mittels bunter Fähnchen oder kleiner Figürchen auf den Karten übersichtlich arrangiert und entsprechend hübsch anzuschauen sind, sieht die Realität vor Ort in der Regel vollkommen anders aus: Allein die Dimensionen des Kriegs-Schauplatzes – das Operations-Gebiet der Invasions-Armee umfasst inzwischen eine Fläche von weit mehr als 125.000 Quadrat-Kilometern –, die vollkommen unzureichende Aufklärung und die nur auf vagen Schätzungen beruhenden Stärke-Meldungen -, die langsame und stör-anfällige Nachrichten-Übermittlung; sämtlich Faktoren, die ein in der Theorie einfaches Manöver in der praktischen Umsetzung auf dem Feld zu einer Rechnung mit vielen Variablen und höchst unsicherem Ausgang wandeln; Risiken, die Napoleon bislang mit seinem taktischen Geschick und seinem Improvisations-Talent abzufangen wusste. Dass sich jedoch eine feindliche Armee von 80.000 Soldaten kampflos einem Netz von sechs Corps der "Grande Armée" mit über 200.000 Mann entziehen könnte, war für den größten Strategen seiner Zeit bis zu diesem Zeit-Punkt unvorstellbar...
Am 5. Juli erfährt Napoleon in Wilna von der ausdauernden Untätigkeit und den Ausschweifungen seines Bruders Jérôme in Grodno. Nicht nur, dass König Jérôme als Ober-Kommandierender des rechten (südlichen) Flügels die ihm vom Kaiser erteilten Befehle mehr oder weniger ignoriert oder bestenfalls nur unzureichend erfüllt; bereits am 3. Juli hat der militärisch vollkommen unerfahrene und auch unbegabte Ober-Kommandierende des VIII. (westphälischen) Corps den ihm vom Kaiser als Berater zur Seite gestellten militärischen "Vormund", General Dominique Joseph Vandamme, des bewaffneten Raub-Überfalls und der Plünderung angeklagt und seines Postens enthoben (wahrscheinlicher ist es, dass Vandamme, der Jérôme bald vollständig ignoriert und das VIII. Corps dementsprechend weitestgehend eigenmächtig geführt hatte, vom König wegen andauernder Insubordination entlassen wurde). In einem äußerst energisch formulierten Schreiben erteilt der Kaiser seinem Bruder die Order zum sofortigen Aufbruch, befiehlt ihm die Verfolgung der sich aus Grodno in Richtung Lyda zurückziehenden Kosaken Platows und den schnellst-möglichen Angriff. "... Die Pflicht jedes Anführers, der mit dem Feind in Kontakt gerät, besteht darin, entschlossen anzugreifen, wenn er eine allgemeine Rückzugsbewegung ausmacht", belehrt er seinen Bruder.
Bagration hat einen Vorsprung von fünf Tagen.
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Darstellungen der Marsch-Etappen des IV. (italienischen Corps) von Eugène Beauharnais vom 3. bis 18. Juli:
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"Hauptquartier bei Rikonti am 3ten Juli." (heute Rykantai, LIT; knapp 20 km westlich von Wilna). |
"Hauptquartier bei Rikonti." |
"Trakai in Litauen mit der Kirche der Heimsuchung der Hl. Jungfrau Maria am 4ten Juli." (heute Trakai, LIT; knapp 30 km westlich von Wilna).
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"Hauptquartier bei Wielky Solezniki am 8. Juli." (heute Šalčininkai, LIT; knapp 40 km südlich von Wilna). |

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"Hauptquartier bei Wielky Solezniki in der Nacht vom 8. zum 9. Juli." (heute Šalčininkai, LIT; knapp 40 km südlich von Wilna).
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"Hauptquartier bei Zemloslau am 9. Juli." (heute Zhemyslavl' oder Žamyslaŭĺ, BLR; im Hintergrund das Gut Umestovsky). |
"Hauptquartier bei Holszany am 11. Juli." (heute Halschany, BLR; 76 km süd-östlich von Wilna). |
"Hauptquartier bei Smorgoni am 12. Juli." (heute Smarhon, BLR; 80 km östlich von Wilna). |

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"Hauptquartier bei Zalesie am 13. Juli." (heute Zales'e, BLR; rund 10 km süd-östlich von Smarhon). |
"Hauptquartier bei Wileyka am 16. Juli." (heute Wilejka, BLR; rund 30 km östlich von Smarhon). |
"Hauptquartier bei Douhinow am 17. Juli." (heute Daŭhinava, BLR; ca. 40 km nord-östlich von Wilejka). |
"Hauptquartier bei Doksiytsi am 19. Juli." (heute Dokšycy, BLR; ca. 240 km westlich von Witebsk). |
Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS). Bildquelle: ► »Фонд Связь Эпох« (Stiftung Portale der Jahrhunderte, Moskau).
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Erste Geplänkel |
Mo., 6. Juli, bis Sa., 18. Juli: Geschehen am rechten (südlichen) Flügel der "Grande Armée" |
»Allgemeine deutsche Zeitung für Rußland. No. 179. Freytag, den 26. July«: "Aus Grodno wird vom 11ten dieses geschrieben, daß Se. Majestät, der König von Westphalen, den 6ten, um 2 Uhr Morgens, von dort abgereiset ist. Die ganze Armee hatte die umliegende Gegend dieser Stadt den 3ten, 4ten und 5ten verlassen, um weiter zur Verfolgung des Fürsten Bagration, der sich über Minsk zurückzuziehen scheint, vorzurücken. Se. Majestät sind den 8ten zu Bielitza angekommen, und den 9ten mit Ihren Truppen nach Nowogrodeck abgegangen. Die leichte Kavallerie soll sich schon zu Mir befinden, und von der feindlichen Arrièregarde ungefähr 150 Gefangene gemacht haben."
Quelle: Internet-Projekt »Von der Bastille bis Waterloo«
"König Yerema", wie der fidele Jérôme wohl in Erinnerung an den recht beliebten polnisch-litauischen Fürsten Jeremia Wiśniowiecki (1612-1651) von der katholischen, orthodoxen und jüdischen Einmwohnerschaft Grodnos wegen seiner Jugend als auch seiner Freude an Eskapaden aller Art genannt wird, ist während seines Aufenthalts in der Grenz-Stadt nicht nur mit Vergnügungen beschäftigt. Noch vor Wilna erhält Grodno eine von den Franzosen provisorisch eingesetzte Stadt-Verwaltung. Nach französischem Vorbild errichtet diese Administration eine Reihe von Präfekturen und Kommissionen, die typische Verwaltungs-Aufgaben zu organisieren bzw. durchzusetzen haben: Ein funktionierendes Steuer-System wird eingeführt (das etwa fünfzehn Prozent aller Einkommen und Umsätze vereinnahmt). Ein zeitgemäß-modernes Lazarett für die Armee wird gegründet, das auch der Bevölkerung offensteht (für dessen Einrichtung und Betrieb die Stadt- und Kreis-Bewohner "freiwillig" 1.200 Betten, Stroh, Möbel, Wäsche, Brennholz und Brot zu spenden haben). Am 22. Juli wird ein Depot für 500.000 Rationen Brot, Pökel-Fleisch, Bier und Brannt-Wein eröffnet. Dafür hat jeder Haushat je 80 Pfund Heu und Stroh, etwa 40 Pfund Hafer, 40 Pfund Weizen oder Roggen und 20 Pfund Bohnen oder Erbsen aufzubringen und in der Sophien-Kathedrale abzuliefern, die zum Entsetzen der orthodoxen Gläubigen zum provisorischen Lager-Haus erklärt wird. Nach Vorbild der französischen Republik wird zum Schutz und auf Kosten von Stadt- und Land-Volk eine Art National-Garde von anfänglich 238 Mann formiert, aus der bis zum Ende des Monats eine reguläre Gendarmen-Truppe von insgesamt 856 Mann hervorgeht (von August bis Dezember führt diese Einheit über 40 größere Straf-Expeditionen gegen die bald auch um Grodno immer aktiver werdende Partisanen-Bewegung durch). Dazu kommen sechs Bataillone Miliz bzw. freiwilliger Bürger-Wehr (die einigen Quellen nach noch mit Pfeil und Bogen tatarischer Art bewaffnet waren) und bis zum Monats-Ende 2.500 Rekruten für die "Grande Armée" (die Kleidung und Schuhe, Wäsche und Verpflegung selbst mitzubringen haben).

"Jérôme Bonaparte zu Pferde" (um 1808) Gemälde von Antoine Jean Baron Gros in der Sammlung der "Hessen-Cassel'schen Gemälde-Galerie" (Kassel, GER). Bildquelle: ► »Bestandskatalog der Gemälde des 19. Jahrhunderts«.
Die Gelegenheit, die 2te West-Armee im Zusammenwirken mit Davout und Schwarzenberg zur Schlacht zu zwingen, verpasst Jérôme jedoch. Weitestgehend ungestört kann General Bagration bei Slonim (heute Slanimas, BLR) seine Divisionen sammeln, sich bei Nowogrudok (heute Nawahradak, BLR) mit der 27ten Infanterie-Division verbinden und am 4. Juli bei Mikolaev (heute Mikolaevo, BLR) über den Njemen marschieren. Die am 5. Juli eingehenden Meldungen, dass Marschall Davout die zwei ihm verbliebenen Infanterie-Divisionen des I. Corps und General Emmanuel de Grouchy die Brigaden des III. Reserve-Kavallerie-Corps bei Wischnew (auch Wisniow oder Vishnevo; heute Wischnewa oder Višnieva, BLR) an der Heer-Straße zwischen Wilna und Minsk zusammenziehen und Bagration damit den direkten Weg hin zu dem über 300 Kilometer entfernten, vom Zaren als Sammel-Punkt befohlenen Feld-Lager von Drissa verlegt -, dass das IV. (italienische) Corps des Vize-Königs Eugène vor Wilna Befehl erhält, über Troki (heute Trakai, LIT) gegen Bagrations linke (nord-westliche) Flanke zu marschieren und dass die von General Matwei Iwanowitsch Platow geführten Kosaken bereits Kontakt mit der Avantgarde-Kavallerie des V. (polnischen) Corps haben, zwingen Bagration, wieder in süd-östliche Richtung umzuschwenken und – unter Verlust von drei Tagen Vorsprung – wieder auf Minsk zu marschieren.
Dass die von General Pierre Claude Pajol geführte 1te leichte Kavallerie-Brigade, die die Avant-Garde des I. Corps (Davout) stellt, bereits am 5. Juli Pierszaje (auch Perschai; heute Pershai, BLR) erreicht hat und damit nur noch knapp 60 Kilometer von Minsk entfernt ist, ahnt Bagration zu diesem Zeit-Punkt noch nicht; noch sind Platows Kosaken damit beschäftigt, zwischen Holszany (heute Halschany, BLR), Wischnew und Wolozin (heute Waloschyn, BLR) eine Passage auszumachen, die der 2ten West-Armee einen weitestgehend ungestörten Durch-Schlupf ermöglicht.
Von Grodno kommend, verlegen am 6. Juli Fürst Józef Antoni Poniatowski mit dem V. (polnischen) Corps und General Marie Victor Nicolas de Fay de Latour-Maubourg mit dem IV. Reserve-Kavallerie-Corps auch die üdlich von Minsk gelegenen Straßen in Richtung Osten. Und von Zelwa kommend (heute Selwa, BLR), trifft General Jean-Louis-Ebenezer Reynier mit dem VII. (sächsische) Corps am selben Tag in Slonim ein. Und obwohl Jérôme mit seinem VIII. (westphälischen) Corps noch immer in Grodno lagert, ist General Bagration und die 2te (russische) West-Armee weitestgehend eingeschlossen.

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"Rückzug der Nachhut von General Ivan Semyonovich Dorokhov im Juli 1812" Zu Beginn des Krieges von 1812 befehligte Dorokhov die Vorhut des 4ten Infanterie-Korps der 1ten West-Armee, die ihr Haupt-Quartier in Orany, auf halbem Weg von Grodno nach Wilna, hatte. Als die Korps der russischen West-Armeen den Befehl zum Rückzug erhielten, wurde Dorokhovs Verband vergessen. Von den Hauptstreit-Kräften abgeschnitten, beschloss Dorokhov, sich der 2ten Armee anzuschließen. Kämpfend und immer wieder zum Rückzug gezwungen, dann wieder überraschend vorstoßend, schlug sich Dorokhov zehn Tage durch die feindlichen Linien, wobei er bis zum Anschluss an die von General Bagration geführte Armee nur 60 Mann verlor. Gemälde von Alexander Sergejewitsch Chagadajew (auch Tschagadajew) im Staatlichen Militärhistorischen Museum »Schlachtfeld Borodino« (Moskau, RUS).
Um Platows Kosaken und den beiden Husaren-Regimentern der 3ten Kavallerie-Brigade unter General Ivan Semyonovich Dorokhov nicht die einzige Passage über den Njemen zu nehmen, verlässt Bagration das Dörfchen Mikolaev ohne die dortige Brücke zu zerstören. Am Abend des 6. Juli erreicht er Karelitschi; am Morgen des 7. Juli die Stadt Mir (beides BLR), wo die Armee einen Ruhe-Tag erhält, auf die nachrückenden Kosaken wartet und ... von der rund 3.300 Mann starken leichten Kavallerie-Division des Generals Alexander Rożniecki entdeckt wird, die die Avant-Garde des IV. französischen Reserve-Kavallerie-Corps von General Marie Victor Nicolas de Fay de Latour-Maubourg stellt.
Ataman Platow, Garde- und Don-Kosak.
Die 4te leichte Kavallerie-Divisions unter General Alexander Rożniecki bestand aus zwei Brigaden zu je drei Ulanen-Regimentern, die ausschließlich von Polen gestellt wurden. Général de Division und Ulanen des 7ten und 12ten Regiments. Aquarellierte Zeichnung(en) von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993). Bildquelle: ► eigene Sammlung.
Kaiserlich-russische Kosaken Anfang des 19. Jahrhunderts; Kosak und Starshina (Unteroffizier) der Don-Kosaken. Illustration von ► Fjodor Grigorjewitsch Solnzew (1801-1892) für ein Monumetal-Werk zur russischen Kultur-Geschichte im Auftrag des Zaren mit rund 3.000 detaillierten Zeichnungen von alten Gegenständen und Gerätschaften, Ikonen, Gebäuden, Kleidung, Rüstungen und Waffen. (Quelle: ► Digital Collections, "The New York Public Library").
Am frühen Morgen des 8. Juli erteilt König Jérôme seinem Corps den Befehl zum Abmarsch in Richtung Slonim. Am selben Tag wird die von General Pajol geführte Avantgarde-Kavallerie des I. Corps in den dichten Wäldern am Zusammenfluss von Isłacz (Іслач) und Charnarucz (Чарнаруч), etwa 30 Kilometer vom Stadt-Zentrum von Minsk, angegriffen. Colonel Charles Joseph de Saint-Mars, Kommandeur des 3ten Regiments Jäger zu Pferd, leitet sofort den Gegen-Angriff ein und schlägt die Kosaken im Verlauf eines acht-stündigen Verfolgungs-Gefechts bis vor die Stadt-Mauern von Minsk zurück. Gegen die stark befestigten Vorwerke kann die Kavallerie jedoch nichts ausrichten. Als Marschall Davout am frühen Nachmittag mit der berittenen Corps-Artillerie eintrifft, stehen bereits dichte Rauch-Wolken über der Stadt; nach etwa drei bis vier Stunden hinhaltender Gefechte brennen auch die Boote auf der Swislatsch.
Zur Überraschung der Franzosen gibt die russische Garnison am späten Nachmittag ihre vorteilhafte Position auf und zieht ab. Und als Davout am frühen Abend Minsk durch das westliche Stadt-Tor betritt, haben bereits mehr als zwei Drittel der 9.000 Einwohner die Stadt in Richtung Osten verlassen; die Lager-Häuser beidseits des Flusses stehen in Flammen, und nur mit Glück können die Franzosen ein Übergreifen der Brände auf die Stadt verhindern. Und so die in den Armee-Depots ausgemachten russischen Uniformen nach einer Umarbeitung noch für die Erst-Einkleidung der litauischen Armee genügen werden, decken die in den Magazinen geretteten Vorräte an Mehl und Heu den Verpflegungs- und Fourage-Bedarf bestenfalls für drei bis vier Tage.
Nach Wilna ist mit Minsk zwar das zweite strategisch wichtige Kriegs-Ziel im Feldzugs-Plan des Kaisers gewonnen, aber auch gleichzeitig verloren, denn die Unmengen von Proviant und Fourage, die hier für die Versorgung der russischen West-Armee eingelagert waren, sind vernichtet. Zu allem Übel wird die von Davout zur Not-Versorgung seiner Truppen angeforderte Nachschub-Kolonne auf dem Weg von Wilna nach Minsk in der Nähe von Oshmyany (heute Aschmjany, BLR; rund 50 km süd-östlich von Wilna) von Einheiten des Reiter-Generals Graf Peter Petrowitsch von der Pahlen aufgebracht, der mit seinem 3ten Kavallerie-Korps die Nachhut der 6ten Infanterie-Division von General Dmitry Sergeyevich Dokhturov stellt und mit seinen Dragonern, Ulanen und Husaren noch immer die Umgebung von Wilna bestreift.
Entgegen Napoleons Befehl, die zu Verbündeten erklärte Bevölkerung Litauens nicht auszuplündern, muss nun auch Davout die gewaltsamen "Requirierungen" seiner Soldaten hinnehmen; rund 10.000 Mann hat das I. Corps bis Mitte Juli verloren; Hitze und Kälte, Hunger und Krankheiten wurden zu Feinden, gegen die es keine Waffen gibt. Und so die Infanterie infolge der andauernden Märsche täglich höhere Ausfälle zu verzeichnen hat, sind die Anstrengungen für Kavalleristen, die ihre Pferde aufgrund von Überanstrengung verloren haben, noch größer: Neben ihrer Ausrüstung müssen die Männer auch noch ihr Sattel- und Zaum-Zeug mit sich herum-schleppen. Am härtesten werden jedoch die Soldaten des Artillerie-, Munitions- und Proviant-Trains gefordert, deren Gespanne in den vom Regen aufgeweichten, knie-tief verschlammten Sand-Pisten bis zu den Rad-Achsen versinken, sich fest-fahren und mühevoll Meter für Meter voran-gezerrt werden müssen.
Zu Hunderten reihen sich ausgefallene Fuhr-Werke an den Straßen-Rändern; zu Tausenden liegen verendete Reit- und Zug-Tiere herum, verwesen und verpesten die Luft und das Wasser.
Aber auch für den weiteren Rückzug der 2ten West-Armee hat der Fall von Minsk erhebliche Konsequenzen: Der direkte Weg in Richtung Drissa ist verlegt; Bagration ist gezwungen, seine Truppen über den 240 Kilometer weiten Umweg von Mir über Bobruisk-Mogilew (heute Babrujsk und Mahiljou, BLR) zu führen.
Etwa 100 Kilometer süd-westlich von Minsk schlagen sich Platows Kosaken ab dem 8. Juli im Raum von Mir mit den zunehmend aktiver werdenden Avant-Garden der französischen Corps herum. Die vor allem mit der leichten polnischen Kavallerie des IV. Reserve-Kavallerie-Corps von Latour-Maubourg geführten Scharmützel bilden den Auftakt der zwischen dem 9. und 10. Juli geschlagenen "Schlacht bei Mir", die als erste größere Auseinandersetzung des Russland-Feldzuges gilt, mit einer verlustreichen Niederlage für die polnische Kavallerie endet und die weitere Verfolgung der 2ten West-Armee einstweilig zum Stehen bringt.

Ohne Angaben: "Überfall der Platow-Kosaken im Rücken der napoleonischen Armee" Gemälde von Solomon Markowitsch Zelikhman. Bildquelle: "Geschichte und Kultur der Don-Kosaken" - Ausstellung zum 270. Geburtstag des Atamans der Don-Kosaken Matwei Iwanowitsch Platow im Mediap-Park "Russland – Meine Geschichte" vom 7. bis 30. April 2023 (Rostow am Don; Foto: befreundeter Sammler).
Anmerkung: Insgesamt verfügte das von Kavallerie-General Matwei Iwanowitsch Platow kommandierte "Fliegende Kosaken-Korps" über zwölf Regimenter zu je fünf Hundertschaften. Dazu die berittene Don-Artillerie-Kompanie Nr. 2 mit 12 leichten Feld-Geschützen ("Einhörner" genannt), die als Regiments-Stücke oder als Batterien zum Einsatz kamen. Platows bevorzugte Taktik war das von den Russen sog. "Venter"-Manöver (russ.: Вентер), dessen Bezeichnung sich von einem aus zwei ineinander gesteckten kegel-förmigen Weiden-Flechtkörben ableitet, der von russischen Binnen-Fischern benutzt wird: Die Fische schwimmen hinein, können jedoch nicht mehr heraus. In der Praxis zeigte sich dem Feind eine etwa gleich-starke Kosaken-Einheit, die mit ihrer Entdeckung voller Panik eine chaotische Flucht vortäuschte, dabei die verfolgende Kavallerie nach- und in die vorbereitete Falle hinein zog. Beidseits versteckte Kosaken-Einheiten überfielen den Gegner dann von den Flanken und im Rücken, wobei die Artillerie ein Kreuz-Feuer eröffnete.

8. Juli 1812: "Angriff der Don-Kosaken unter M.I. Platow bei Nesvizh" (heute Njaswisch bzw. Neswisch, BLR) Chromolithographie nach einer Vorlage von Nikolai Alexejewitsch Bogatov in "Pferde in der russischen Grafik" von E.G. Milyugina, Verlag "Weiße Stadt"; Belgorod 1980.


9. Juli 1812: "Der Kosaken-Überfall von Platow bei Mir" Gemälde von Nikolai Pawlowitsch Krasovsky in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
Von Minsk aus stößt Davouts Avant-Garde am 11. Juli bis an die Beresina vor und versucht hier eine weitere Auffang-Linie zu errichten. Der leichten Reiterei des III. Reserve-Kavallerie-Corps von General Emmanuel de Grouchy gelingt es am 12. Juli, die Garnison von Borissow (heute Baryssau, BLR) zu überraschen und die Stadt kampflos einzunehmen, womit nicht nur die hier gelegene Brücke über die Beresina gewonnen ist, sondern auch die strategisch wichtige Heer-Straße von bzw. nach Smolensk unter die Kontrolle der Franzosen fällt. Grouchy und seine Reiter machen über 300 Gefangene, erbeuten in der Stadt neben 60.000 Pfund Pulver, 16 Belagerungs- und 18 Feld-Geschütze auch größere Mengen von Hafer und Weizen. Da für den Abtransport nach der von Davout zum Etappen-, Depot- und Lazarett-Zentrum bestimmten Gouvernements-Hauptstadt Minsk keine Fuhr-Werke ausgemacht werden können, müssen die Güter vorerst an Ort und Stelle bleiben, doch schon am nächsten Tag bringt General Pajol bei Igumen (heute Tscherwen, BLR; knapp 60 km südlich von Baryssau) einen Konvoi von 6 Offizieren, 200 Kanonieren und 300 Train-Soldaten auf, die den Auftrag hatten, Waffen und Munition, Proviant und Fourage mit 200 Transport-Wagen und 800 Artillerie-Pferden nach Orsha (heute Orscha, BLR) über den Dnjepr und von dort aus über die Grenze nach Alt-Russland und weiter nach Smolensk zu verschaffen.
Am 12. Juli verlegen erste Einheiten des I. Corps bei Orsha auch den Übergang über den Dnjepr.

"Telega" - Typische Pferde-Wagen Russlands im 19. Jahrhundert, die während des Vaterländischen Krieges von 1812 von beiden Armeen verwendet wurden. Oben: Aufleger-Karren, Kasten- oder poln. Land-Wagen (Polok), Kasten-Wagen (ohne Plane; west-europ. Bau-Art), Korb-Wagen (Drogi). Unten: Ernte- oder Heu-Wagen, Planken- oder Pritschen-Wagen, Ernte- oder Leiter-Wagen. Illustrationen u.a. aus »Transportmittel (Wasser-, Pferde- und Packpferde-Transport)« von Mirza Gizitdinovich Mullagulov.
Davout bleibt bis zum 13. Juli in Minsk. Der Marschall hat keine Veranlassung, der 2ten (russischen) West-Armee durch die von Mücken und Stech-Fliegen übervölkerten Wälder und Moore nahe der Polessia-Sümpfe zu folgen; er ahnt, dass General Bagration bei Mogilew (heute Mahiljou, BLR; etwa 120 km östlich von Minsk) versuchen wird, in Richtung Moskau durchzubrechen. Am 15. Juli erreicht er Igumen; am 17. Juli Holowczin (Holowczyn, BLR).
Unter weiträumiger Umgehung von Minsk und Borissow hat Bagration am 13. Juli Sluckas (heute Sluzk, BLR; rund 100 km südlich von Minsk) erreicht. Im Morgengrauen des 14. Juli machen die nachrückenden Einheiten des IV. Reserve-Kavallerie-Corps von Latour-Maubourg bei Timkovichi dann die scheinbar vollkommen unbekümmert lagernde Nachhut der russischen Armee aus. Erfüllt von einer Revanche für das Scharmützel von Mir zieht Latour-Maubourg sieben Kavallerie-Regimenter seines Corps zusammen. Die dann von den Kürassieren der 7ten (schweren) Kavallerie-Division gerittene Attacke bricht im Feuer von zwölf Geschützen zusammen, die Platow im Unterholz am westlichen Rand des Dorfes Romanowo (heute Lenino, BLR; rund 100 km südlich von Minsk) versteckt hat. Die gleichzeitig an beiden Flanken aufreitenden Hundertschaften seiner Kosaken nehmen die an den Flanken platzierten Regimenter der 4ten (leichten) Kavallerie-Division Rożniecki unter Feuer. Im Ergebnis der bis zum Nachmittag währenden Gefechte erfahren insbesondere die herangezogene westphälische Husaren-Brigade unter General Hans Georg von Hammerstein-Equord und die 2te westphälische Kürassier-Brigade unter Hellmuth von Lepel in der Art schwere Verluste, dass die Regimenter nach dem Gefecht bereits gezwungen sind, einzelne Eskadronen zusammenlegen zu müssen. Im Ergebnis der Scharmützel bei Romanowo erfährt die französische Kavallerie eine weitere Niederlage und emfindliche Verluste. Bis Latour-Maubourg sein Kavallerie-Corps wieder geordnet hat, erreicht der gesamte Konvoi der 2ten (russischen) Armee mit Verwundeten, Kranken und Gefangenen Bobruisk (heute Babrujsk, BLR; ca. 150 km süd-östlich von Minsk), geht dort über die Beresina und rollt über die am östlichen Ufer beginnende Post-Straße in süd-östliche Richtung nach Mosyr (heute Masyr, BLR) und dort über den Prypjat.
General Bagration erreicht am 18. Juli die Festung Bobruisk, in deren Deckung er seine Armee durch die Eil-Märsche durcheinander geratenen Regimenter wieder sammelt. Mit seinem Gewalt-Marsch hat Bagration nicht nur seine Truppen gerettet, sondern der französischen Armee durch den Entzug aller greifbaren Vorräte beidseits seines Rückzugs-Weges weitestgehend auch sämtliche Mittel zur weiteren Verfolgung genommen. Nächste Etappe ist die mittelalterliche Burg Mogilew am Ufer des Dnjepr, die Bagration unbedingt vor Davout erreichen muss.
Das große Manöver, die 2te (russische) West-Armee mit vier Infanterie- und zwei Kavallerie-Corps der "Grande Armée" einzuschließen, ist gescheitert.
General Pierre Claude Pajol übernimmt mit seiner 1ten leichten Kavallerie-Brigade erneut die Avantgarde des I. Corps, versucht den Anschluss an Bagrations Armee wieder herzustellen und die Rückzugs-Route nach Möglichkeit zu flankieren; bei Svislach (heute Swislatsch, BLR) erreicht er die Beresina.
General Emmanuel de Grouchy passiert mit dem III. Kavallerie-Corps am 16. Juli Borissow, stößt bis zum 18. Juli bis Kochanow vor (heute Kochanava, BLR) und hält sich hier bereit, die Straße zwischen Mogilew und Witebsk zu verlegen.
Das IV. (italienische) Corps unter Vize-König Eugène, das am 12. Juli. noch zwischen Smorgoni und Zalesie (heute Smarhon und Zales'e, beides BLR) bereit steht, das I. Corps in zweiter Linie zu unterstützen, erhält am 13. Juli aus dem Großen Haupt-Quartier den Befehl, vom südlichen Flügel abzuschwenken, in Richtung Nord-Osten zu marschieren und sich wieder der Haupt-Armee zu unterstellen. Am 18. Juli erreicht das IV. Corps befehls-gemäß Dokchytsy (heute Dokšycy, BLR; über 100 km nord-östlich von Smorgoni), wo Eugène sein neues Haupt-Quartier aufschlägt und Napoleons Weisung erwartet, über die hier gelegene Weg-Gabelung weiter auf Polozk oder in Richtung Witebsk abzurücken.

"Marche de la Division Pino - 16. Juillet" (Marsch der [italienischen Garde-] Division Pino am 16. Juli). Lithografie nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...", in der Sammlung der Polnischen »National-Bibliothek« (Warschau, POL). Siehe auch colorierte Version auf WIKIPEDIA.
Das VIII. (westphälische) Corps hatte am 11. Juli Nowogrudok -, am 15. Juli Nieswisch (heute Nawahradak bzw. Njaswisch oder Neswisch, beides BLR) erreicht. Dort traf zwei Tage später auch König Jérôme ein. Zu seiner großen Überraschung wurde er dort bereits von Marschall Davout erwartet, der ihn über die Entscheidung des Kaisers informierte, sämtliche Corps des südlichen Flügels unter seinem Ober-Kommando zusammenzulegen. Auch teilte er Jérôme mit, dass Napoleon seinem jüngeren Bruder das Kommando über das VIII. Corps entzogen hat. Erst fassungslos, dann wutentbrannt und tief beleidigt verließ Jérôme seine Armee. Am 18. Juli nimmt er im Burg-Schloss von Mir Quartier. Knapp vier Wochen später, in der Nacht vom 11. zum 12. August, wird er – begleitet von seiner Garde du Corps – in Kassel eintreffen, der Hauptstadt seines Königreichs.

Das befestigte Wasser-Schloss von Mir um 1750. 3D-Visualisierung für das Interaktive Schul- und Lern-Projekt »MOZAIK education« (Innovative digitale Bildungslösungen für den Schul-Unterricht, RUS).
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Fortsetzung: Gefechte am rechten bzw. südlichen Flügel…
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Mo., 6. Juli, bis Sa., 18. Juli: Geschehen am linken (nördlichen) Flügel der "Grande Armée" |
Am 6. Juli, dem Tag, an dem Bagration bei Mikolaev am Njemen feststellen muss, dass Marschall Davout ihm den direkten Weg hin zum Lager von Drissa verlegt hat und die von Platow geführte Nachhut der 2ten (russischen) West-Armee zunehmend heftigere Rückzugs-Gefechte führt, wird ca. 200 Kilometer nördlich, an der Land-Straße von Wilna nach Drissa zwischen dem Dörfchen Dovgelishki und der Kapelle Koshergishki (heute Daugėliškis und Kačergiškės [Kapelle des Heilgen Johannes des Täufers], LIT) die Nachhut der 1ten russischen West-Armee – das von General Friedrich Nikolaus Georg (Fjodor Karlowitsch) von Korff geführte 2te Kavallerie-Korps – von Husaren des 10ten polnischen Husaren-Regiments gesichtet und attackiert. Das polnische Regiment unter Führung von Oberst Jan Nepomuk Umiński ist Teil der von General Jacques Gervais Subervie geführten 16ten leichten Kavallerie-Brigade, die wiederum als Teil der 2ten leichten Kavallerie-Division die Avant-Garde des II. Reserve-Kavallerie-Corps unter General Louis Pierre de Montbrun stellt und damit Marschall Joachim Murat untersteht. Korff, der erst vier Tage zuvor bei Holszany (heute Halschany, BLR) Marschall Davout und General Grouchy entkommen ist und nach knapp 100 Kilometern Eil-Marsch den Anschluss an die 1te (russische) West-Armee finden konnte, hat von Barclay de Tolly die Weisung erhalten, die nachrückenden Verbände der "Grande Armée" aufzuhalten, sich aber nicht auf ernsthafte Gefechte mit dem Feind einzulassen. Diese Weisung hätte jedoch zur Folge, dass die russische Armee große Mengen der aus den Magazinen geretteten Munitions- und Proviant-Vorräte auf den leichten doch auf den unbefestigten Wegen nur langsam voran-kommenden "Panje"-Wagen verlieren würde. Korff erteilt seinen Einheiten den Befehl, vor allem die der Avant-Garde nachfolgenden Regimenter der 2ten (leichten) Kavallerie-Division unter General Pierre Wattier mit der "Nadelstich-Taktik" zu stören. Die Vielzahl der dann gemeldeten Geplänkel sowie die auch von General Étienne Marie Antoine Champion de Nansouty gesandten Meldungen, mit dem von ihm geführten I. Reserve-Kavallerie-Corps entlang des Flüsschens Myadelka bei Postawy (heute Pastawy, BLR; etwa 50 km süd-östlich von Murats Position bei Sventsiany [heute Švenčionys, LIT]) ebenfalls in diverse Scharmützel verwickelt zu werden, lassen bei Marschall Murat den Eindruck entstehen, dass sich die 1te russische Armee etwa auf der Grenz-Linie der mit der zweiten Polnischen Teilung im Jahr 1793 von Russland annektierten Gebiete zur Schlacht stellt.

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Marschall Joachim Murat (1767-1815) Gemälde von François Gérard im »Château de Versailles« (Paris, FRA) und General Jacques Gervais Subervie (1776-1856). Gemälde von Gustave de Galard im "Salle des Illustres de l'hôtel-de-ville" (Lectoure, FRA). Bildquelle: ► WIKIMEDIA (bearbeitet).
Murat erteilt seinen beiden Kavallerie-Corps den Befehl zum Halt, zum Rückzug ihrer Avant-Garden und die Order, jederzeit von der Marsch- zur Schlacht-Ordnung wechseln zu können. Korffs Taktik der "Nadelstiche" hat ihren Zweck erfüllt: Die 1te Armee samt der Train-Kolonne hat einen weiteren Tag Vorsprung gewonnen. Mit Einbruch der Dunkelheit gehen auch die rund 4.000 Mann des 2ten Kavallerie-Korps bei Koshergishki über die Dysna; noch in der Nacht ist die Brücke zerstört.

Herzogtums Warschau um 1812: "Zehntes Regiment Husaren" Illustration von Bronisław Gembarzewski für »Wojsko polskie - Księstwo Warszawskie - 1807-1814« (Polnische Armee – Herzogtum Warschau); Verlag Gebethner und Wolff, Warschau 1905; online komplett verfügbar in der ► "Bibliothek der Universität Wrocław".
Kanonen-Schüsse begrüßen die polnischen Husaren, die am frühen Morgen des 7. Juli auf der Suche nach einer Passage über die Dysna die verschlungenen und morastigen Ufer beidseits der Kapelle von Kačergiškės erkunden. Und während General Montbrun mit dem II. Reserve-Kavallerie-Corps auf das Eintreffen der Pioniere wartet, geht General Subervie am Vormittag mit seiner (Avantgarde-) Kavallerie-Brigade wohl nahe des Gutes Padysnio (heute Stau-See, knapp 10 km nördlich von Kačergiškės) über den Fluss und nimmt mit Marsch-Richtung auf Vidzy (heute Vidzy, BLR) die Verfolgung der russischen Armee wieder auf. Wieder sind es die polnischen Husaren, die kurz vor dem Flüsschen Ravketa, nahe des Wawrzecki-Herrenhauses unter Kanonen-Beschuss geraten (heute Vidzy-Lovchinskie, BLR [General Tomasz Antoni Wawrzecki war der letzte Oberbefehlshaber der Nationalen Streitkräfte Polen-Litauens und 1794 militärischer Anführer des sog. Kościuszko-Aufstands gegen Russland, der 1795 mit der Dritten Teilung Polens endete]).
Unter dem Kommando von General Alexander Iwanowitsch Kutaisov (der vom "Spiel-Sklaven", Leib-Barbier und Kammer-Diener des Zarewitsch Paul -, dann zum reichsten Günstling des Zaren Paul aufstieg; studierte das Artillerie-Handwerk, reformierte die russische Artillerie, wurde General-Adjutant des Artillerie-Inspekteurs, 1806 General und Regiments- und 1812 schließlich Artillerie-Korps-Kommandeur) führen die leichten halb- und viertel-pfündigen "Einhörner" der reitenden Artillerie in der hügeligen Ufer-Landschaft der Dysna derart geschickte Bewegungs-Gefechte, dass die drei von Subervie geführten Kavallerie-Regimenter nicht eine einzige Attacke reiten können, die nicht nach wenigen Hundert Metern im Frontal- oder Kreuz-Feuer zusammenbricht; und Barclay de Tolly – erst erbost über die Missachtung seines Befehls, sich nicht auf Gefechte einzulassen, dann voller Anerkennung über die effektive Taktik des unter dauernden Stellungs-Wechseln noch aus der Bewegung geführten Abwehr-Feuers – gibt seinem Artillerie-Chef schließlich freie Hand und erteilt ihm am 9. Juli das Ober-Kommando über die gesamte Nachhut.

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General Friedrich Nikolai Georg Baron von Korff (1773-1823) und General Alexander Iwanowitsch Kutaisov (1784-1812) Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
"Russische Dagoner (1813)." Die hier dargestellten Dragoner vom Moskauer und Kargopoler Regiment waren Teil des 2ten russischen Kavallerie-Korps. Daneben: "Russische Artillerie (1812-1814)." Tafel 59 und 48 aus Band XVII der »Uniformenkunde« von Prof. Richard Knötel (Bildquelle: ► eigene Sammlung).
Mit dem Eintreffen der von Reiter-General Orlow-Denissow kommandierten leichten Kavallerie-Brigade – die Leibgarde-Kosaken und drei Regimenter Husaren – gelingt es der russischen Nachhut nicht nur, die aus den 10ten polnischen Husaren, den 3ten württembergschen Jägern und den 1ten preussischen Ulanen (konsolidiert) gebildeten Vorhut zurückzuschlagen und sich anschließend geordnet und mit über 200 Gefangenen (darunter Heinrich Prinz von Hohenlohe-Kirchberg, Kommandeur des württembergischen Regiments Jäger zu Pferd No. 3 "Herzog Louis") über die Dysna und die Ravketa zurückziehen, sondern auch sämtliche Brücken zu zerstören und die Verfolger von den bewaldeten Höhen des östlichen Ufers der Drūkša (auch Druksa oder Druksha, rechter Neben-Fluss der Dysna) mit Kutaisovs Batterien solange aufzuhalten, bis die Masse der 1ten Armee – das 2te, 3te und 4te Infanterie- und das 1te Kavallerie-Korps – sich über Vidzy und Opsa (beides BLR, etwa 40 Kilometer östlich der Dysna) hinter die Nord-Litauische Seen-Platte zurückgezogen hat (heute "Nationalpark Braslauer Seen").
Die insgesamt fünf Tage, in denen Kutaisov die französische Kavallerie aufhält, ermöglichen es Barclay de Tolly, sämtliche Munitions- und Proviant-Wagen seines Trains in Sicherheit zu bringen. Als Murat mit den rund 10.000 Reitern des II. Reserve-Kavallerie-Corps unter General Louis-Pierre Montbrun sowie den rund 14.000 Mann der 2ten und 3ten Infanterie-Division unter den Generälen Louis de Friant und Charles Étienne Gudin de La Sablonnière (die Davout Ende Juni bei Wilna hatte abgeben müssen), von Dysna kommend am 7. Juli bei Vidzy -, am 8. Juli in der Gegend um Opsa eintrifft (heute Dysna, LIT; bzw. Vidzy und Opsa, BLR), findet er weder Stroh für die Lager-Stätten seiner Soldaten noch Heu für die Pferde; selbst die wenigen erhaltenen Grün-Flächen sind Beschreibungen nach vorsätzlich zertrampelt. Mit dem Eintreffen des I. Reserve-Kavallerie-Corps unter General Étienne Marie Antoine Champion de Nansouty mit weiteren 10.000 Mann bei Postawy (Pastawy, BLR) -, der rund 7.000 Mann der 3ten (ebenfalls von Davout abgestellten) Infanterie-Division unter Charles Antoine Morand sowie der Ankunft der von Moloty kommenden rund 39.000 Mann des III. Corps (Ney) in Degutschia (heute Molėtai bzw. Degučiai, LIT) zwischen dem 7. und 8. Juli wird die Proviant- und Fourage-Situation kritisch: So wie der Hunger unter den Soldaten zunimmt, schwinden Ordnung und Disziplin und die Soldaten desertieren zu Dutzenden. Und in der Hoffnung, entlang der ost-wärts führenden, ufer-nahen Wege an der Druja hin zur Düna bessere Verhältnisse vorzufinden -, auch in der Gewissheit, mit der nunmehr konzentrierten Schlag-Kraft von etwa 80.000 Mann und zusammen mit Oudinots 40.000 Mann, die etwa 40 Kilometer weiter nördlich stehen, gegen die insgesamt 120.000 Mann der 1ten West-Armee bestehen zu können, befehlen die Marschälle Ney und Murat am 10. Juli den Abmarsch in Richtung Druja an der Düna (heute Druya, BLR).
Barclay de Tolly steht am 7. Juli mit dem 2ten und 3ten Infanterie-Korps der Generäle Karl Gustav von Baggehufwudt und Nikolai Alexeyevich Tuchkov sowie dem 1ten Reserve-Kavallerie-Korps des Generals Fjodor Petrowitsch Uwarow mit Haupt-Qaurtier im Dorf Belmonty (heute Akhremovtsy, BLR; etwa 30 km süd-westlich von Druja bzw. 60 km süd-westlich von Drissa). Gemäß der am 25. Juni in Wilna erlassenen Befehle hatten sich die übrigen russischen Korps von ihren jeweiligen Stand-Orten zurückgezogen, konnten sich sämtlichen nachsetzenden französischen Verbänden erfolgreich entziehen und sich trotz aufwendiger Marsch-Manöver konvergierend in Richtung Osten absetzen: Mit etwa 50 Kilometern Abstand zum Vortrab von Murat bei Sventsiany hatte das 4te Infanterie-Korps unter General Alexander Iwanowitsch Osterman-Tolstoi am 4. Juli Navloki (heute Navikai, LIT) passiert und marschiert auf Miory (auch Mėrai, heute Mjory, BLR). Das 5te (Garde-) Infanterie-Korps des Großherzogs Zarewitsch Konstantin Pawlowitsch steht in der Nähe des Dorfes Milaschew (heute Milashovo, BLR; knapp 25 km westlich von Drissa). Mit über 250 Kilometern Entfernung zum Haupt-Qaurtier noch am weitesten entfernt und direkt vor der Gefahr, auf das von Marschall Davout geführte I. Corps in der Nähe von Oschmjany (heute Aschmjany, BLR) zu treffen, steht das 6te Infanterie-Korps des Generals Dmitri Sergejewitsch Dochturow bei Narwiligski (heute Norviliškės, LIT). Und während General Jakow Petrowitsch Kulnew, Kommandeur der inzwischen knapp 6.000 Mann starken Nachhut des 1ten Infanterie-Korps, über Solok (auch Soloki, heute Salakas, LIT) in Richtung der Festung Dünaburg (heute Daugavpils, LVA) marschiert, ist Wittgenstein mit der Masse seines Verbandes über Dresviaty abgeschwenkt und biwakiert bei Braslaw (heute Drysviaty bzw. Braslau, beides BLR).
Marschall Oudinot macht sich Hoffnung, den Tadel, der ihm vom Kaiser nach dem Entkommen des russischen Generals Wittgenstein am 28. Juni bei Vilkomir (heute Ukmergė, LIT) zuteil geworden ist, entkräften zu können: Mit einem Abstand von etwa zwei Tages-Märschen folgt er dem 1ten (russischen) Infanterie-Korps. Am 4. Juli erreicht er Owanta (heute Alanta, LIT) und am 6. Juli Solok (auch Soloki, heute Salakas, LIT; etwa 40 km westlich von Dresviaty). Marsch-Richtung als auch die ausgemachten Spuren lassen darauf schließen, dass Wittgenstein direkt auf die am östlichen Ufer der Düna strategisch vorteilhaft gelegene Festung Dünaburg marschiert, die die Routen nach Riga, St. Petersburg und die nördliche Chaussee nach Moskau kontrolliert. Das dort am westlichen Ufer befindliche Vorwerk (heute Haft-Anstalt Daugavgrīva, LVA) bildet einen Brücken-Kopf, der auf eine Entfernung von rund 80 Kilometern nach Norden und auch nach Süden die einzig sichere Passage über den durchschnittlich 300 Meter breiten Fluss ermöglicht.
Am 8. Juli steht General Claude Juste Alexandre Legrand, Kommandeur der 6ten Division im II. Corps vor Jeziorosy (auch Ezerosy oder Yezoros, heute Zarasai, LIT; 25 km westlich von Dünaburg). Ein hier herumstreifender Kosaken-Pulk räumt nach einem kurzen Feuer-Gefecht mit den Soldaten des 26ten leichten (französischen) Infanterie-Regiments (vakant) am Mittag die Stadt; ein darauf folgender Angriff von zwei russischen Husaren-Eskadronen verwickelt die nach und nach eintreffenden Einheiten der 1ten Division in ein über sechs Stunden währendes Gefecht, das erst bei Einbruch der Dunkelheit endet. Noch am Abend erhält General Legrand von Oudinot den Befehl, mit seiner leichten Infanterie bis an die Düna vorzurücken, dort die Bewegungen der russischen Armee zu überwachen und genauere Informationen über den Zustand der Festung, die Stärke der Garnison und die Bestückung der Wälle in Erfahrung zu bringen. Doch die ersten Meldungen, die Marschall Oudinot in seinem noch immer bei Soloki stehenden Haupt-Qaurtier erreichen, bringen mehr Rätsel als Antworten: Sämtliche hinter der Festung und am gegenüberliegen Ufer ausgemachten Truppen, Fuhr-Werke und Artillerie-Gespanne bewegen sich aus der Festung hinaus und rücken offensichtlich in Richtung Osten ab. Oudinot, der von Napoleon die Weisung erhalten hatte, die Festung Dünaburg und das umliegende Ufer lediglich von einem Detachement Kavallerie beobachten zu lassen, steht somit nicht nur vor dem Dilemma, dass ihm General Wittgenstein erneut entkommen ist, sondern auch vor einer zwar unvollendeten doch den Gerüchten nach mit rund 600 Kanonen bestückten Festung, die ihm die weitere Verfolgung unmöglich macht. In Abwägung der sich ihm bietenden Optionen als auch der sich daraus ergebenen Folgen verwirft der Marschall den Gedanken, umzukehren und der sich mit nunmehr drei Tages-Märschen Vorsprung am östlichen Ufer in Richtung Druja zurückziehenden Truppen Wittgensteins westlich der Düna zu folgen, sondern fasst den Entschluss, dass er die drohende Blamage und die kaiserliche Ungnade nur abwenden kann, wenn es ihm gelingt, die Festung zu nehmen und als erster französischer Marschall über die Düna zu gehen, Wittgenstein – bestenfalls in Abstimmung mit Murat und Ney – bei Druja zu stellen und anschließend St. Petersburg zu erobern.
Die Entscheidung, die kleine, nur mittelalterlich befestigte und erst seit 1772 dem Russischen Reich zugehörige "Dinbork" zur Festung auszubauen, war eine der vielen Maßnahmen, die die russische Militär-Führung unter Vorsitz von General und Kriegs-Minister Michael Andreas Barclay de Tolly im Rahmen der zwischen 1808 und 1810 tagenden Beratungen zur Entwicklung eines Strategie-Konzepts für den erwarteten Krieg mit Napoleon getroffen hatte. Mit der Planung und Ausführung der Arbeiten wurde der Oberst und Militär-Ingenieur Egor Fedorovich Heckel beauftragt, der nach einer zwei Monate dauernden Planungs- und Vermessungs-Phase Mitte Mai 1810 alle kalkulierten Mannschaften, Mittel und Gelder bewilligt bekam und noch im selben Monat mit den Vorbereitungen beginnen konnte. Für die Errichtung der Festung kamen neben den in St. Petersburg geworbenen Maurer- und Zimmermanns-Meistern mit ihren je 100 Gesellen und Lehrlingen über 1.000 Schanz-Knechte, 30 Ziegel-Brennern und die Mannschaften von insgesamt etwa 30 Reserve-Infanterie- und Pionier-Bataillone sowie rund 100 Zug-Pferde der Artillerie zum Einsatz; für die Bau-Zeit wurden drei Jahre festgesetzt; die Bau-Kosten wurden auf über 750.000 Rubel veranschlagt.
Nach Heckels Plänen sollte die Haupt-Festung sieben 11 Meter hohe Fronten haben, von denen die stärkste zum Ufer der Düna gerichtet war. Jede dieser Fronten wurde durch eine Bastion gebildet, die land-seitig durch sechs Ravelins -, ufer-seitig durch eine von zwei Fleschen flankierte Kurtine verbunden waren. Die so entstandenen insgesamt 33 Facen mit einer Gesamt-Länge von rund 4.000 Metern wurden von einem bis zu 9 Meter tiefen, mit Wasser gefüllten Graben umgeben und grenzten im Inneren an einen umlaufenden Wall. Auf dem Wall als auch in den Kasematten der vorgelagerten Befestigungen waren insgesamt 569 Geschütze vorgesehen; 20 davon in dem am westlichen Ufer gelegenen und im Sommer 1812 noch unvollendeten "Kronwerk", das als befestigter Brücken-Kopf den Fluss-Übergang deckte. Nach Fertigstellung sollte die Festung eine ständige Garnison von rund 4.500 Mann erhalten; die gesamte Anlage bot Platz für über 20.000 Soldaten.

Ausschnitt aus einem Übersichts-Plan der Festung Dünaburg (um 1814). Links das am westlichen Ufer gelegene Vorwerk, mittig die etwa 250 Meter lange Brücke über die Düna, rechts die Zitadelle. Bildquelle: ► »Dinaburgas Cietoksnis«, Projekt der Zentral-Bibliothek Latgale (Daugavpils, LVA).
Am Freitag, dem 10. Juli 1812, versammelt General Gawrila Petrowitsch Ulanow, Kommandant der Festung Dünaburg, sämmtliche Stabs-Offiziere der Garnison in der Kommandantur der Zitadelle. Major Igor Iwanowitsch Bedrjaga, Kommandeur des aus je zwei Reserve-Eskadronen des Isjumer und des Elisabethgrader kombinierten Husaren-Regiments, informiert den Stab über den Anmarsch von rund 40.000 französischen Soldaten. Und obwohl General Ulanow nur über eine Garnison von zehn Bataillonen Reserve-Infanterie -, drei Kompanien Pioniere und vier Reserve-Eskadronen Husaren verfügt – zusammen rund 3.500 Reservisten –, ist sich der Militär-Rat einig, dass eine Kapitulation trotz der 16-fachen Überlegenheit der französischen Streit-Macht und des Umstandes, dass die Truppen Wittgensteins erhebliche Mengen der in der Festung deponierten Munitions- und Proviant-Vorräte in Richtung des zum Sammel-Punkt bestimmten Lagers von Drissa abtransport haben, nicht in Frage kommt. Die Generäle fassen den Beschluss, auch die Kasse der Zahl-Meisterei und das Archiv mit den geheimen Karten und Korrespondenzen in die Festung Krasnij Gorodok bei Lucin (heute Ludza, LVA; über 100 km nord-östlich von Dünaburg) in Sicherheit zu bringen. Die laufenden Bau-Arbeiten werden ein- und die Verteidigungs-Bereitschaft hergestellt. Kommandant Ulanow beauftragt General Lev Michailowitsch Yashvil, Artillerie-Kommandeur der Festung, die 80 bereits in der Festung vorhandenen Geschütze auf den west-seitigen Wällen zu konzentrieren und die Feuer-Bereitschaft herstellen zu lassen; Oberst-Leutnant Krachotkin, Kommandeur der Artillerie, erhält die Weisung, die Pulver-Magazine zu öffnen.

"Russian Hussars 1812-1814" (Isjumer Husaren-Regiment) Illustration von Alexander Yuryevich Awerjanow für »Zvezda«-Modell-Figuren.

"General-Stab" General, Adjutant und Guide (die schwarze Abzeichen-Farbe lässt auf Offiziere aus dem "Gefolge Seiner kaiserlichen Majestät des Zaren" schließen). Guiden bildeten die Stabs-Kavallerie und waren beim Haupt-Quartier mit dem Wach- und Ordonnanz-Dienst, der Überbringung von Meldungen, dem Rekognoszieren des Geländes und der Führung von Kolonnen betraut. Colorierter Stich aus der Reihe »Die russische Armee zur Zeit der Napoleonischen Kriege« von Lev Iwanowitsch (Ludwig Karl von) Kiel. Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
Am 10. Juli ziehen sich die vorgeschobenen Kosaken-Posten aus den Dörfern im Umfeld der Brücke über die Düna zurück; die Posten werden gegen 12:30 Uhr von Jägern des 7ten Regiments zu Pferd besetzt. Um den Anmarsch der Division "Legrand" zu schützen, werden zwei leichte Geschütze auf der Höhe von Kalkunen (heute Kalkūne, LVA) in Stellung gebracht. Die am Nachmittag vom russischen Major Bedrjaga mit drei Eskadronen seines (kombinierten Reserve-) Husaren-Regiments gerittene Attacke endet nach 6-stündigen Gefechten bei Einbruch der Dunkelheit mit dem Rückzug der Russen, die 12 Gefangene machen können. Am nächsten Morgen werden die ersten Einheiten der Division "Legrand" vor dem unvollendeten Vorwerk der Düna-Festung gesichtet.
Marschall Nicolas Charles Oudinot (1767-1847) Gemälde von Robert Lefèvre im »Château de Versailles« (Paris, FRA) und General Claude Juste Alexandre Legrand (1771–1835) Gemälde von Antoine-Jean Gros im »Château de Versailles« (Paris, FRA).
Am 11. Juli sind die 40.000 Mann des II. Corps im Umfeld der Festung zusammengezogen, und Marschall Oudinot verlegt sein Haupt-Qaurtier nach Jeziorosy.
In der Nacht vom 12. zum 13. Juli bringen die Kompanien der 3ten Artillerie zu Pferd und der 5ten Artillerie zu Fuß ihre Feld-Geschütze in Stellung. Um 4:00 Uhr morgens eröffnet die franzôsische Artillerie das Feuer auf das Vorwerk und die Zitadelle, das kurz darauf von den rund 80 überwiegend groß-kalibrigen und wesentlich weiter reichenden Festungs-Geschützen auf den westwärts gelegenen Wällen erwidert wird. Nach wenigen Stunden des Artillerie-Duells haben die Mannschaften der Division "Legrand", die die eigenen Batterien in der Nähe des Vorwerks gegen einen plötzlichen Ausfall der russischen Festungs-Besatzung decken sollen, hier jedoch dem Feuer der russischen Artillerie ungeschützt und vollkommen wehrlos ausgesetzt sind, einige Verluste, und Oudinot, der inzwischen im Herrenhaus des Gutes Kalkuni (heute Kalkūnes muižas pils, LVA, ca. 3 km südlich des Vorwerkes) Quartier genommen hat, sieht sich gezwungen, das gesamte Corps aus der Reich-Weite der russischen Geschütze zurückzuziehen. Gegen Mittag des 13. Juli beginnt die zwischenzeitlich nachgeholte Corps-Artillerie mit dem massiven Beschuss des noch nicht fertig-gestellten Kron-Werkes am westlichen Düna-Ufer, das von einem russischen Infanterie-Bataillon und zwanzig 12-Pfünder verteidigt wird. Nach einem etwa drei-stündigen Beschuss sind die Tor-Befestigungen sturm-reif, und Oudinot befiehlt gegen 16:00 Uhr dem 23ten und 24ten Regiment Jäger zu Pferd (5te leichte Kavallerie-Brigade unter General Bertrand Pierre Castex), den Angriff, der jedoch von der russischen Artillerie abgewehrt wird. Den beiden dann vorgehenden Bataillonen des 3ten (portugesischen) Regiments unter General Manoel Ignácio Martins Pamplona gelingt zwar der Einbruch in das Vorwerk, nur geraten die Füsiliere und Voltigeure in den Gassen zwischen den hier provisorisch errichteten Baracken unter heftigen Beschuss, verlieren im Labyrinth die Orientierung und ziehen sich wieder zurück. Erneut greifen die Jäger zu Pferd an, die die Baracken in Brand setzen und mit den fliehenden russischen Verteidigern auf die Brücke gelangen, hier jedoch ins Kreuz-Feuer der Festungs-Geschütze geraten und sich – unter dem Verlust von etwa 30 Mann aber mit etwa 160 Gefangenen – von der Brücke und aus dem an vielen Stellen brennenden Vorwerk zurückziehen. Auch die Voltigeurs und Carabiniers und die nachfolgenden Chasseurs des 26ten leichten Infanterie-Regiments kommen nicht voran; nach 12 Stunden erbitterter Bajonett-Kämpfe, Schießereien und 112 Toten und Schwer-Verwundeten (franz. Angaben) lässt General Legrand die Angriffe bei Morgengrauen einstellen.

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"Portugiesische Legion um 1812." Füsiliere. Voltigeur. Reitender Jäger. Daneben: "Leichte Infanterie unter Napoleon I (1806-1812)." Voltigeure. Jäger. Tafel 33 und 50 aus Band IV und XII der »Uniformenkunde« von Prof. Richard Knötel (Bildquelle: ► eigene Sammlung).
Am Morgen des 14. Juli geht General Louis Thomas Gengoult mit der 56ten Linien-Infanterie – die Regiments-Stücke an der Spitze – gegen die Brücke vor. Und obwohl die Franzosen diesmal gezielt die Geschütze in den Kasematten der Brücken-Bedeckung und das ufer-seitige Tor der Zitadelle unter Beschuss nehmen können, sind die vier Regiments-Stücke bald bevorzugtes Ziel der gegenüberliegenden Artillerie, und die meisten Bedienungen bald außer Gefecht. Mindestens zwei Mal lässt General Gengoult die Brücke stürmen und seine Männer gegen das Tor der Zitadelle anrennen, doch Opfer-Bereitschaft und Draufgängertum können gegen die weitaus höhere und damit gefechts-entscheidende Feuer-Kraft nichts ausrichten; auch am Ende des zweiten Tages kann Marschall Oudinot seinem Kaiser keinen Erfolg melden.
Am Abend des 14. Juli erhält Oudinot ein Schreiben vom König von Neapel (Marschall Murat), der mit seiner Kavallerie von seinem Haupt-Quartier bei Opsa und zusammen mit Marschall Ney, der mit dem III. Corps bei Tauroginy (heute Tauragnai, LIT) stand, am 10. Juli in Richtung Druja (heute Druya, BLR) an der Düna aufgebrochen war und dort auf die Nachhut Barclay de Tollys – das 1te Korps des Generals Wittgenstein – gestoßen ist. Mit energischen Worten erinnert Murat den ihm unterstehenden Marschall Oudinot an die vom Kaiser erteilten Befehle und fordert ihn auf, den Brücken-Kopf sofort zu verlassen und mit seinem Korps umgehend am linken Ufer der Düna aufwärts in Richtung Druja zu marschieren, sich dort wieder der Armee anzuschließen und die Verfolgung Wittgensteins wieder aufzunehmen (wie sich später herausstellen wird, ist General Wittgenstein mit dem größten Teil seines Korps direkt nach Druja marschiert; Oudinot ist lediglich den deutlich gelegten Spuren des von General Jakow Petrowitsch Kulnew geführten Teil-Verbandes gefolgt).
Am frühen Vormittag 15. Juli gegen 9:00 Uhr – Oudinots Divisions- und Brigade-Kommandeure haben gerade den Befehl erhalten, den geordneten Rückzug vorzubereiten – wird die Festung von einer gigantischen Explosion erschüttert, deren Druck-Welle bis im Lager der Franzosen zu spüren ist. Späteren Angaben nach sind aus unbekannter Ursache 370 Ladungen Schwarz-Pulver explodiert, die nahe einer Batterie 12-Pfünder aufgestapelt waren (wobei eine Pulver-Ladung je nach Entfernung des Ziels zwischen einem Drittel und einem Viertel des Geschoss-Gewichts bemessen wurde, was bei einem 12-pfündigen Geschoss mit 454 Gramm nach altem Pfund etwa 1.800 Gramm pro Ladung -, insgesamt etwa 650 bis 700 Kilogramm ergibt). Bei der Explosion sterben sämtliche Mannschaften und Offiziere der Feuerwerker-Halbkompanie Nr. 3, 15 Gemeine und 5 zivile Artillerie-Handlager; etwa ein Dutzend Artilleristen werden verletzt. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass viele der russischen Reservisten ehemalige Litauer sind, die erst seit 1796 und mehrheitlich wiederwillig Untertanen des russischen Zaren sind.
In der Nacht vom 15. zum 16. Juli zieht Marschall Oudinot mit dem Groß-Teil seines Corps vor Dünaburg ab und macht sich auf den Weg nach Druja. General Yashvil lässt Oudinot von einer Eskadron Husaren verfolgen, die im Morgengrauen auf die Arriere-Garde des II. Corps treffen und nach einem kurzen Geplänkel mit rund 80 Gefangenen zur Festung zurückkehren. Don-Kosaken unter Hetman Mark Ivanovich Rodionov übernehmen die weitere Beobachtung und folgen dem Corps nach Dresviaty (heute Drysviaty, BLR), wo Oudinot biwakieren lässt.
Am 18. Juli erhält Oudinot ein Schreiben von General Louis-Alexandre Berthier, dem Generalstabs-Chef der "Grande-Armée":
An Marschall Oudinot, Herzog von Reggio, Kommandeur des 2ten Corps der Grande Armée bei Drysviaty (Dieser Brief wurde vom Generalmajor auf Diktat des Kaisers geschrieben).
Der Kaiser, Monsieur le Duc, sah mit Erstaunen und Zorn, dass Sie ohne Befehl nach Dinabourg gingen. Wenn Sie davon ausgegangen sind, dass die russische Armee dort ist, haben Sie Ihr Armeecorps unnötig bloßgestellt. Wenn Sie Informationen darüber hätten, dass die russische Armee nicht dort war, ist Ihr Marsch immer noch tadelnswert: Sie haben Ihr Kommando preisgegeben, das von den Truppen der russischen Armee, die sich im Drissa-Lager befinden, angegriffen werden könnte. Der Kaiser hatte dir befohlen, nach Soloki zu gehen. Seine Majestät, die Sie in dieser Position glaubte, konnte Ihnen Befehle senden, und anstatt Sie dort wiederzufinden, waren Sie nun zwei Tagesreisen entfernt. Sie haben also ziellos einen falschen Ausflug gemacht. Der Kaiser wusste genau, dass es in Dinabourg eine Festung gibt, an der die Russen seit vier bis fünf Jahren arbeiten. Ich habe Ihnen mitgeteilt, Monsieur le Duc, dass Sie dem Befehl des Königs von Neapel unterstehen. Der Kaiser geht davon aus, dass Sie die angeordneten Positionen eingenommen haben. Sie haben den Kaiser mit Ihrem Vorstoß gegen Dinabourg sehr verärgert. Ihre Majestät beauftragt mich, Ihnen mitzuteilen, dass Sie hofft, dass so etwas nicht noch einmal passieren wird.
Wilna, 16. Juli 1812.
Am selben Tag beschließt der Militär-Rat der Festung Dünaburg die Aufgabe des Vorwerkes und die Zerstörung der Brücke...
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Wittgenstein, der sich mit der Masse des 1ten (russischen) Infanterie-Korps zwischen dem 6. und 7. Juli in die Nord-Litauische Seen-Platte zurückgezogen hatte, war zwischen dem 8. und 9. Juli von Braslaw (heute Braslau, BLR) in Richtung Düna aufgebrochen und hatte auf dem Weg rund einhundert Brücken und Über-Gänge (über die Suoja und Vastapa, Utenele, Raudesa und Indraja, Laba und Savasa, Sventoji, Suneles und Laukese in Richtung Dünaburg -; über die Yayowka und entlang Druyka und Druja hin zum gleich-namigen Ort Druja und über die dazwischen liegenden Fließ-Gewässer wie die Zukovka und die Bruninieku, die Vileika, die Borne, Pogulanka, Mälkaine und Marjanovka, über die Straumene, die Kumpota und Laukesa, die Janupite, die Gjinovka... ) abbrechen, einreißen oder niederbrennen lassen. Am 10. Juli erreicht er Druja; am 11. nimmt er in Pokaevtsy (heute Pokoevtsy, BLR; gegenüber von Drissa) sein Haupt-Quartier; die Einheiten und Verbände seines Korps beziehen zwischen Druja und Dünaburg Stellung, Vorposten beobachten die Straßen und Wege; am 12. Juli werden am Flüsschen Druja nahe Gaveiki (heute Goveiki, BLR) die ersten polnischen Husaren gesichtet, die sofort die Aufmerksamkeit der überall herum-schwärmenden Kosaken auf sich ziehen.
In der Nacht vom 14. zum 15. Juli lässt General Jakow Petrowitsch Kulnew nahe Pridruisk (heute Piedruja, LVA) eine provisorische Brücke über die Düna errichten und geht im Morgengrauen mit dem Grodnoer Husaren-Regiment, einem Regiment Don-Kosaken und einer Batterie zu Pferd über den Fluss; mindestens eine Infanterie-Brigade sichert den Brücken-Kopf. Gegen 5:00 Uhr morgens überraschen die Kosaken am Lauf der Yayowka in der Nähe des Dorfes Chernevo (Chernevo, BLR) das Biwak einer Eskadron der 10ten (polnischen) Husaren, die sich nach einem kurzen Scharmützel kämpfend in Richtung der 8ten (leichten) Kavallerie-Brigade zurückziehen. Dieser Verband, der von General André Burthe geführt wird, stellt mit insgesamt acht (jedoch weit auseinander gezogenen) Eskadronen der 5ten und 9ten Husaren neben der 7ten (leichten) Kavallerie-Brigade unter General Jean Marie Noël Delisle de Falcon de Saint-Geniès und der 16ten (leichten) Kavallerie-Brigade des Generals Jacques Gervais Subervie die Avant-Garde der beiden von Marschall Murat unerbittlich vorangetriebenen Kavallerie-Corps unter den Generälen Nansouty und Montbrun. In den dann entlang von Druyka und Druja geführten Gefechten erleiden die französischen Husaren erhebliche Verluste; General Saint-Geniès, acht Offiziers und rund 200 Mann (Wittgenstein meldet um die 1.000) geraten in Gefangenschaft; nur knapp 100 Husaren gelingt es, sich in Richtung Slobódka (heute Slabodka, BLR) und dort in den Schutz der von General Horace-François-Bastien Sébastiani geführten 2ten (leichten) Kavallerie-Division zu retten. Und obwohl General Sébastiani sofort die von General Jacques Gervais Subervie geführte Brigade zum Gegen-Angriff zusammenzieht und die Verfolgung der russischen Kavallerie-Brigade aufnimmt, zeigen sich bereits hier deutliche Anzeichen der sich anbahnenden katastrophalen Entwicklung: Proviant- und Fourage-Mangel haben inzwischen offensichtliche Folgen für die gesamte französische Kavallerie. Selbst die Offiziere und Mannschaften der Avant-Garde – eigentlich in dem Privileg situiert, als erste Truppe die Ressourcen eines gewonnenen Terrains plündern zu dürfen – sind aufgrund des existenziellen Lebensmittel-Mangels müde und entkräftet; sogar die Pferde schwanken. Etwa ein Fünftel der Kavalleristen haben ihre Pferde bereits verloren und bestenfalls geschlachtet und stehem nun auch noch vor dem Übel, neben Waffen und Ausrüstung auch noch das schwere Sattel-Zeug schleppen zu müssen.
Schlimmste Feinde sind inzwischen nicht mehr die gefürchteten russischen Kosaken – schlimmste Feinde sind neben dem Hunger die Unwetter und Hitze-Wellen, die Läuse, Flöhe und die in dichten Wolken schwebenden Mücken-Schwärme, die verschmutzten Gewässer samt Typhus und Ruhr, gegen die es keine Waffen gibt...
General Sebastiani schiebt alles, was sich noch im Sattel halten kann, über die Straße entlang der Druya in Richtung des Städtchens Druya, gerät aber bereits in den dichten Wäldern ab der Druyka unter zunehmenden Beschuss der Kosaken, die jeden Trampel-Pfad für einen plötzlichen Feuer-Überfall nutzen und ebenso schnell wieder verschwinden. Am 15. Juli erreichen die mobilen Teile der 2ten (leichten) Kavallerie-Division Druja an der Düna, deren Breite an dieser Stelle nur rund 120 Meter beträgt. Auf den hier vorgelagerten Höhen der "Zapadnaya Dvina" (westliche Düna) hat der russische General Kulnew seine Artillerie platziert, die die französische Kavallerie mit einem heftigen Sperr-Feuer empfängt und wieder zum Rückzug zwingt. Nachdem Sebastiani dann die berittene Artillerie-Batterie seiner Division herangezogen hat, gehen die Russen wieder über die Düna, holen die Brücke ein und nehmen die Franzosen aus der Deckung der gegenüberliegenden Ufer-Höhen unter Beschuss.
Wittgenstein hat sich seinen Verfolgern entzogen und Barclay de Trolly seine Armee gerettet.
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Schwieriger vollzieht sich der Rückzug für das 6te russische Infanterie-Korps unter General Dmitri Sergejewitsch Dochturow, das ebenfalls der 1ten West-Armee angehört, zwischen Grodno und Lyda (heute Lida, BLR) stationiert gewesen war und vom Beginn der Invasion bzw. vom Befehl zum allgemeinen Rückzug nach Drissa erst am Abend des 28. Juni durch Platows Kosaken erfahren hat. Doch anstatt Dochturow den Befehl zu geben, den Anschluss an die bereits in nord-östliche und damit auf Dochturows Richtung in Marsch gesetzte und nur knapp 80 Kilometer entfernte 2te West-Armee unter General Bagration zu suchen und dessen rund 50.000 Mann umfassenden Verband gegen das I. Corps (Davout) um weitere 15.000 Mann deutlich zu verstärken, besteht Zar Alexander als Ober-Kommandierender darauf, dass Dochturows Korps im Eil-Marsch der inzwischen mehr als 200 Kilometer entfernten Armee Barclays folgt.
Damit muss Dochturow auf sich allein gestellt mitten durch die Marsch-Routen von drei französischen Corps hindurch.
Bereits am 5. Juli war Dochturows Nachhut – das von General Peter Petrowitsch Graf von der Pahlen geführte 3te Kavallerie-Korps – bei Lyda mit Einheiten des IV. Reserve-Kavallerie-Corps von Latour-Maubourg aneinander geraten. Dochturow Korps stand unmittelbar vor der Gefahr, von der aus Grodno direkt nachfolgenden französischen Kavallerie (und dem inzwischen wieder marschierenden VIII. [westphälischen] Corps des Königs Jérôme) sowie von dem aus Wilna kommenden und auf Minsk heranrückenden I. Corps (Davout) und dem aus Rudniki nahenden und sich in Richtung Smorgon (heute Rūdninkai, LIT; 30 km südlich von Wilna, bzw. Smarhon, BLR; 75 km östlich von Wilna) bewegenden IV. (italienischen) Corps des Vize-Königs Eugène zerrieben zu werden. Mehr im Lauf-Schritt als im geordneten Marsch kreuzen die rund 15.000 Infanteristen Dochturows am 9. Juli bei Holszany (heute Halschany, BLR) die Chaussee nach Minsk; die einen Tag später von den herbeigeeilten Avant-Garden Davouts und Eugènes erreicht wird. Doch getreu des kaiserlichen Befehls, die von General Bagration ostwärts geführte 2te West-Armee abzufangen und zu zerschlagen, verzichten beide französischen Corps auf die weitere Verfolgung Dochturows.

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General Cyprian Antonovitch von Kreutz (1777-1850) und Zarewitsch Konstantin Pawlowitsch Romanow (1779-1831) Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
Nach einem Gewalt-Marsch von über 50 Kilometern erreicht das 6te Infanterie-Korps am 10. Juli Smorgon und passiert noch am selben Tag Dyunushewo (heute Daniushevo, BLR). Das von Napoleon von Wilna entsandte I. Reserve-Kavallerie-Corps unter General Étienne Marie Antoine Champion de Nansouty – eigentlich Murat zur Verfolgung der 1ten West-Armee zugeteilt – kann nicht verhindern, dass es einer Abteilung der Nachhut Pahlens – der aus Irkutsker sowie Sibirischen Dragonern und Mariupol-Husaren gebildeten und Oberst Cyprian Antonovitch von Kreutz unterstellten Brigade – gelingt, Davouts Kavallerie bei Oschmjany (heute Aschmjany, BLR; rund 50 km süd-östlich von Wilna) zu überrumpeln, mehrere Dutzend Gefangene zu machen, die von den Franzosen auf dem Weg von Wilna gefangenen russischen Soldaten zu befreien und eine beträchtliche Anzahl von Pferden zu erbeuten. Barrikaden aus gefällten Bäumen versperren der nachsetzenden französischen Kavallerie den Weg durch die dichten Narochansky-Urwälder; bei Smorgon (heute Smarhon, BLR) vereinigt sich Kreutz wieder mit Pahlens 3tem Kavallerie-Korps; gemeinsam folgen sie Dochturows 6ten Infanterie-Korps, das am selben Tag hinter Kosyani (heute Kazyany, BLR) auf das von General Konstantin Pawlowitsch Romanow, dem jüngeren Bruder des Zaren, geführte 5te (Garde-) Infanterie-Korps trifft.
Im Ergebnis des 7-tägigen Marsches hat das 6te Infanterie-Korps über 2.000 Soldaten verloren.

"Biwak" Gemälde von Alexander Jurjewitsch Awerjanow in der russischen Online-Galerie »paintingart«.

"Rast am Brunnen" Die hier dargestellten Husaren des Sumsker Regiments, die eigentlich die 11te Brigade im 3ten Kavallerie-Korps des Generals Peter Petrowitsch Graf von der Pahlen bildeten, waren zu Beginn des Krieges dem 6ten Infanterie-Korps des Generals Dochturow als Aufklärungs- und Sicherungs-Kavallerie angegliedert. Gemälde von Alexander Chagadaev; unbekannter Aufenthalt. Bildquelle: ► »Arthive« (russisches Online-Projekt - Künstler und Thema, Galerien und Museen).
Zusammen mit dem Zaren trifft die Vorhut der 1ten West-Armee am 9. Juli im Lager von Drissa ein. Die am westlichen Ufer in einer Biegung der Düna (oder westliche Dwina) nord-westlich des Städtchens Drissa und dem Dorf Schatrow (heute Werchnjadswinsk bzw. Shatrovo, beides BLR) gelegene Feld-Befestigung wurde nach Plänen des am 20. Dezember 1806 als General-Major à la suite in russische Dienste gewechselten und am 19. September 1809 zum General-Leutnant und General-Quartiermeister beförderten preussischen Generals Karl Ludwig August Friedrich von Pfuel wohl im Herbst 1811 abgesteckt, ab dem Frühling 1812 als zentrales Sammel-Lager errichtet und sollte strategisch dazu dienen, mittels hier massierter Truppen die Bewegung feindlicher Truppen in Richtung der rund 600 Kilometer östlich gelegenen Hauptstadt Moskau oder hin zu der knapp 500 Kilometer nördlich gelegenen Residenz-Stadt St. Petersburg abfangen zu können.
Mit Datum vom 28. Juni (greg.) hatte der preussische Major Carl von Clausewitz – bis zum 31. März 1812 noch Adjutant des preussischen Generalstabs-Chef Gerhard von Scharnhorst und neben August Neidhardt von Gneisenau eines der wichtigsten Mitglieder der Militär-Reorganisationskommission, seit dem 20. Mai 1812 jedoch als Oberst-Leutnant im russischen Dienst und von Wilna aus vom Zaren zur Inspektion des Lagers von Drissa entsandt – eine deutliche Kritik bzgl. von Standort und Lage, des strategischen Nutzens und der defensiven Qualitäten übermittelt, die jedoch vom russischen General-Stab angesichts der aktuellen Entwicklungen keine Beachtung gefunden hat. Vor Ort erweist sich das Lager nicht nur als weitestgehend unbrauchbar sondern auch als unhaltbar: Die im Osten von drei Seiten vom Fluss-Wasser umgebene und im Westen von einem ausgedehnten Sumpf-Gebiet abgeschirmte Land-Zunge würde sich im Fall einer Umgehung durch feindliche Truppen – die Düna ist an dieser Stelle so flach, dass die Franzosen über den Fluss waten können – als selbstgestellte Falle erweisen. Ein Ausfall in westliche Richtung wäre durch den Sumpf nicht möglich, ein Übergang über den Fluss würde die gegnerische Artillerie verhindern, die das vom östlichen Ufer her einsehbare Lager auch bestens unter Beschuss nehmen könnte und somit optimale Voraussetzungen für eine Belagerung vorfinden würde, zumal selbst Bewegungen eigener Truppen an den Flanken des Lagers aufgrund der hier gelegenen dichten Wälder erst auszumachen sind, wenn die Einheiten direkt vor den Defensions-Werken des Lagers stehen. Mehr als fragwürdig auch die handwerklich zwar zweckentsprechend angelegten jedoch in vielen Bereichen unvollendeten Erd-Wälle, Palisaden und Geschütz-Stellungen, die ein komplexes, nach Westen gerichtetes System von drei sich gegenseitig deckenden Verteidigungs-Linien bilden (sollen), hingegen durch die vorgelagerten Sümpfe keinen Sinn machen. Darüber hinaus eine Reihe am Ufer gelegener und zur Lager-Mitte hin gewandter Schanzen, die eigentlich dazu gedacht sind, den Rückzug der Armee über mindestens drei Brücken zu decken, die im Fall eines gegnerischen Angriffs errichtet werden sollen; in der Umkehrung aber weitaus besser geeignet sind, im Fall der Einnahme durch gegnerische Truppen als gedeckte Brücken-Köpfe dienen zu können. Das Gelände innerhalb des Lagers wird als sehr uneben beschrieben, was das Manövrieren von Gespannen aller Art erschwert; der Boden ist stellenweise so morastig, dass Geschütze und sogar Zelte versinken. Letztendlich sind auch die klimatischen Verhältnisse bemerkenswert: Regen, Hitze und hohe Luft-Feuchtigkeit haben die Vorräte an Schieß-Pulver größtenteils unbrauchbar gemacht; auch das wenige, in Erd-Löchern eingelagerte Getreide ist feucht und faulig; selbst die als Ersatz gelieferten Leder-Stiefel sind angeschimmelt.

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General Karl Ludwig August Friedrich von Pfuel (1757-1826) und Major Carl von Clausewitz (1780-1831) Colorierte Lithografien aus der Sammlung "Offiziere der Befreiungskriege".
Anmerkung: Pfuel, Vertreter des alt-preussischen Offiziers-Adels, der den Reformern um Scharnhorst und Clausewitz nur mit Verachtung begegnete, lernte während seines gesamten Aufenthalts in Russland kein einziges Wort Russisch. Trotzdem avancierte er schnell zum obersten Militär-Berater des Zaren, unterrichtete Alexander in der (inzwischen überholten) Strategie des Großen Königs Friedrich und ist maßgeblich für das unausgereifte Verteidigungs-Konzept verantwortlich, das im Grunde nur den Rückzug vorsieht. Nach der Blamage von Drissa wurde er zur Spott-Figur; im Oktober reiste Pfuel über Schweden nach England, wo er bis Kriegsende blieb.

Plan des Feld-Lagers von Drissa. Illustration aus der "Военная энциклопедия" ("Militär-Enzyklopädie", Herausgegeben von V.F. Nowizki, 1911-1915). Bildquelle: ► »НАУКА. ИСКУССТВО. ВЕЛИЧИЕ.« (Wissenschaft. Kunst. Schönheit. - Russische Kultur-Geschichte)
Am 11. Juli trifft die Masse der von Barclay de Tolly geführten Armee ein. Im Ergebnis einer noch am selben Tag von den höchsten Offizieren durchgeführten Besichtigung des Lagers, der Umgebung und des Karten-Werks beschließt der General-Stab die sofortige Versammlung des Militär-Rates, der am 12. Juli zusammentritt (einige Quellen nennen auch den 13. Juli; wobei es wahrscheinlich ist, dass die Beratungen zwei Tage dauerten). Wohl sämtliche Offiziere stimmen überein, dass das Feld-Lager weder für den Aufenthalt Tausender Soldaten noch zur Verteidigung geeignet ist und aufgegeben werden muss.

13. Juli 1812: "Militärrat des Zaren Alexander in Drissa" Anmerkung: Die Szene zeigt wahrscheinlich eine idealisierte Darstellung der Beratungen; von einem luxuriös ausgestatteten Wald-Schloss ist nichts bekannt. Bestenfalls waren die Offiziers-Unterkünfte im Blockhaus-Stil erbaut. Gemälde von Alexander Apsitis im »Nationalen Kunst-Museum der Republik Belarus« (Minsk, BLR).
Am 17. Juli steht alles, was nicht aus dem Feld-Lager abtransportiert werden kann, in Flammen, und die russische Armee, ungeschlagen aber infolge des nun seit über drei Wochen währenden Rückzugs kämpferisch mehr und mehr demoralisiert, zieht sich über die Düna weiter in Richtung Osten zurück. Neues Rückzugs-Ziel ist die rund 170 Kilometer entfernte bzw. nur noch 50 Kilometer vor der Grenze zum alt-russischen Reich gelegene Stadt Witebsk (auch Wizebsk, BLR), die auch der 2ten Armee zum neuen Sammel-Punkt befohlen wird. Mit den Flammen von Drissa verbrennt auch das russische Verteidigungs-Konzept; strategisches Ziel ist es nun, die "Grande Armée" immer tiefer in die Weiten Russlands zu ziehen und in kräfte-zehrenden Märschen zu zermürben. Taktik bleibt es, gefährlichen Schlachten auszuweichen und die "Grande Armée" mit dem Prinzip der "Verbrannten Erde" verhungern zu lassen...
Zurück bleiben die rund 25.000 Mann des 1ten Infanterie-Korps unter General Wittgenstein, der nicht nur die Verbindung nach St. Petersburg zu sichern hat, sondern laut eines am 14. Juli erteilten Befehls nun auch – postiert zwischen Dünaburg, Druja und Drissa – die verfolgenden Franzosen unter Marschall Oudinot vom Ufer der Düna (oder westliche Dwina) so lange wie möglich aufzuhalten hat, um Barclay de Tolly Zeit zur Vorbereitung zur Verteidigung von Witebsk zu verschaffen.

"Auf dem Marsch" Gemälde von Aleksandr Chagadaev; Aufenthalt unbekannt. Bildquelle: ► »Arthive« (russisches Online-Projekt - Künstler und Thema, Galerien und Museen)
Am 18. Juli erreicht die 1te West-Armee Polozk (heute Polazk, BLR). Hier verabschiedet sich der Zar von den offiziell von ihm geführten Truppen und reist weiter nach Moskau, um die Verteidigung des russischen Kern-Landes vorzubereiten. Und so die einfachen russischen Soldaten schnell zur Überzeugung kommen, dass der Zar jedes Vertrauen in seine Streit-Macht verloren habe und sich voller Enttäuschung von seinen kämpferisch schwachen, zaghaften und feige davon laufenden Kriegern abkehren würde, so erleichtert regieren die Offiziere im General-Stab, als Alexander – gemäß der seitens des Militär-Rates in Drissa dem Zaren erst vorsichtig angetragenen und dann umständlich abgerungenen Einsicht – das Ober-Kommando an General Barclay de Tolly abgibt. Kurz nach seiner Abreise geht die Nachricht ein, dass Napoleon vollkommen überraschend in Glubok (heute Hlybokaje, BLR; rund 80 Kilometer süd-westlich von Polozk) eingetroffen ist und das II. Corps unter Marschall Oudinot kurz vor Drissa steht.
Oudinots Avantgarde-Kavallerie trifft gegen 19:00 Uhr bei Cheressy (ca. 25 Kilometer süd-westlich des Lagers) auf Kosaken des von Stepan Fedorovitsch Zhekul geführten 1ten Bug-Regiments, das dem 3ten Kavallerie-Korps unter General Pahlen zugeordnet war. Nach einem hinhaltenden Feuer-Gefecht, in dessen Verlauf die Franzosen immer weitere Verstärkungen erhalten, ziehen sich die Kosaken erst in die Dunkelheit der Wälder und dann über die Furt der Düna hinter dem brennenden Lager von Drissa zurück. Sie bemerken nicht, dass sie die nachfolgenden Franzosen direkt zu der geheimen Passage führen.
Noch in der Nacht gelangen die Franzosen auf das rechte (östliche) Ufer.
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Auf den in Richtung Nord-Osten hin zur Düna führenden Wegen hat Marschall Michel Ney große Mühe mit der von Marschall Murat voran-getriebenen Avantgarde-Kavallerie Schritt zu halten. Insbesondere der Ingenieur-Park und der Train -, der Artillerie-Konvoi und die Corps-Artillerie – sieben Feld-Batterien mit insgesamt 56 Geschützen und die Reserve-Artillerie (zu Pferd) mit zwei Batterien zu je sechs 12-pfündigen Kanonen und zwei 6-pfündigen Haubitzen – haben große Probleme, die Fuhr-Wagen aller Art und die schweren Geschütze über die unbefestigten Wege voranzubringen. Ney, der mit den rund 40.000 Mann seines III. Corps eigentlich dazu vorgesehen war, die Memel-Njemen-Grenze und die litauische Hauptstadt Wilna zu sichern, hatte am 29. Juni in Suderwa (heute Sudervė, LIT; ca. 15 km nord-östlich von Wilna) den Befehl erhalten, zusammen mit Marschall Oudinot der in Richtung Osten zurück-weichenden 1ten (russischen) West-Armee im Eil-Marsch zu folgen und nach Möglichkeit zu stellen.
Schon nach drei Tagen und rund 60 Kilometern Marsch steigt die Zahl der Kranken und Lahmen derart, dass die rund 100 Unteroffiziere der 10ten Sanitäts-Kompanie im III. Corps vollkommen überfordert sind und Ney sich bereits am 2. Juli gezwungen sieht, sein Corps in und um Maliaty (auch Mulau oder Molėtai, heute Molēti, LIT) zu sammeln und für drei Tage biwakieren zu lassen. Allein die Infanterie der 25ten (würtembergischen) Division zählt über 700 Kranke, und Kronprinz Wilhelm von Württemberg, Kommandeur des knapp 20.000 Mann starken würtembergischen Kontingents im III. Corps, kann Ney zur Einrichtung eines provisorischen Feld-Lazaretts überreden, das binnen einer knappen Woche mit rund 2.000 Leicht-Kranken vollkommen überfüllt ist; und die damit einher-gehenden hygienischen Zustände mehr dazu beitragen, dass die Zahl schwerer Erkankungen, die bald nach Wilna verlegt werden, noch schneller ansteigt.

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Michel Ney (1769-1815). Gemälde von Charles Meynier im »Château de Versailles« (Paris) und Prinz Wilhelm Friedrich Karl von Württemberg (1781–1864, ab 1816 König Wilhelm I.). Gemälde von Karl Joseph Stieler in der Sammlung des »Landesmuseums Württemberg« (Stuttgart, GER).

"Im Bivouac bei Maliathui den 5. Julius 1812." Colorierte Lithografie nach einer Zeichnung von Oltn. Christian Wilhelm von Faber du Faur aus dem Skizzen-Buch "Blätter aus meinem Portefeuille im Laufe des Feldzugs 1812 in Russland an Ort und Stelle gezeichnet" in der Sammlung der »Universitätsbibliothek Tübingen« (GER).
Am 5. Juli wird der Weiter-Marsch beschlossen. Als nächste Etappen nennt Ernst Wilhelm von Baumbach, Leutnant im 1ten (würtembergischen) Infanterie-Regiment "Prinz Paul" in seinem "Tagebuch von 1812" die Ortschaften Zulandsen (6. Juli; heute wahrscheinlich Saladiškės, LIT), Kotukisky (9. Juli), Draunary (10. Juli), Libony (11. Juli), Janolany (12. Juli) und Driswirtuy (13. Juli; heute wahrscheinlich Drysviaty, BLR). Bei Raskimosy nahe Braslau (heute wahrscheinlich Ratiunki oder Raciunki, BLR) wird am 15. Juli ein weiterer Halt befohlen: Die einzelnen Regimenter und Bataillone des III. Corps haben nach zehn Tagen Marsch jede Ordnung verloren; die gesamte Kolonne zieht sich inzwischen über eine Länge von mehr als 20 Kilometer; erneut macht die Vielzahl der Kranken die Errichtung eines Feld-Lazaretts nötig, das noch am Abend rund 500 Mann aufgenommen hat. Auch Kronprinz Wilhelm ist von der "verderblichen Seuche" nicht verschont geblieben; schwer erkrankt übergibt er sein Kommando an General Johann Georg Freiherr von Scheler und wird in das noch im Aufbau befindliche Haupt-Lazarett in Wilna abtransportiert.
In dem am 15. Juli erstellten Personalstands-Bericht wird die Stärke des III. Corps mit rund 30.500 angegeben (womit Ney bereits ein Viertel seiner Streit-Macht verloren hat).
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"In der Gegend von Tschulanui den 7. Julius 1812." |
"In der Gegend von Kozusozina den 11. Julius 1812." |
"In der Gegend von Jenolani den 12. Julius 1812." |
"Bivouac bei Raskimoisi am See von Braslav den 18. Julius 1812." |
Colorierte Lithografien nach Zeichnungen von Oltn. Christian Wilhelm von Faber du Faur aus dem Skizzen-Buch "Blätter aus meinem Portefeuille im Laufe des Feldzugs 1812 in Russland an Ort und Stelle gezeichnet" in der Sammlung der »Universitätsbibliothek Tübingen« (GER).
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Fortsetzung: Gefechte am linken bzw. nördlichen Flügel…
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Mi., 1. Juli, bis Sa., 18. Juli: Geschehen in Wilna |
Kurz nach Mitternacht des 16. Juli gibt Napoleon seinen in und um Wilna versammelten Truppen den Befehl zum Aufbruch; die Zeit drängt.
Laut seinen später auf St. Helenea verfassten kriegs-geschichtlichen Schilderungen hatte Napoleon nicht damit gerechnet, Wilna kampflos einnehmen zu können. Vielmehr hatte er in seinen Planungen Kämpfe von zwei bis drei Tagen und Verluste von mindestens 20.000 Mann einkalkuliert, war der Kaiser doch der festen Überzeugung, dass sich Zar Alexander vor den Toren der russischen Gouvernements-Hauptstadt Wilna zu einer (bestenfalls alles) entscheidenden Schlacht stellen würde (die Verlust-Zahlen wurden auch ohne Schlacht erreicht; lt. den Stärke-Meldungen der einzelnen Corps hatte die "Grande Armée" mit Datum vom 16. Juli bereits ein Sechstel der Feld-Truppen durch Strapazen, Krankheiten und Desertation verloren).

"Napoleon I." Künstler-Postkarte Nr. 29182 nach einem Portät von Antoine Charles Horace Vernet; Verlag Stengel & Co. GmbH; Dresden. (Porträt um 1816 nach einer Skizze von 1812; heute in der ► »National Gallery«, London).
Mit den insgesamt drei zusammen mit Preussen und Österreich abgestimmten und im Jahr 1795 abgeschlossenen Aufteilungen des polnisch-litauischen Staats-Gebietes war es Russland im Jahr 1795 endlich gelungen, die föderale und feudale Stände-Republik, die vor allem für die stets unzufriedenen russischen Bojaren ein attraktives Alternativ-Modell zur uneingeschränkten Allmacht des Zarentums darstellte, zu zerschlagen und die seit dem 14. Jahrhundert währenden Kriege um die territoriale, politische und wirtschaftliche Vorherrschaft zu Gunsten des Zaren-Reiches zu beenden. Mit der von den Teilungs-Mächten im Jahr 1797 erklärten "Auslöschung" Polens und vor allem Litauens, glaubte sich die russische Zaren-Dynastie der Romanows als Groß-Fürsten von Moskau endlich sicher vor der seit 500 Jahren bestehenden Konkurrenz mit den Groß-Fürsten von Litauen, die ebenfalls Anspruch auf den (eigentlich von der russisch-orthodoxen Kirche dem "Bewahrer und Schützer des allein seeligmachenden Glaubens" verliehenen) Zaren-Titel erheben konnten. Mit der im selben Jahr vollzogenen Einrichtung des General-Gouvernements von Wilna schuf die deutsch-stämmige Zarin Katharina (auch eine Große) dann eine Puffer- und Sicherheits-Zone, die Russland nicht nur vor politischen Einflüssen, revolutionären Ideen oder den Auswüchsen des umsich greifenden Aufklärertums aus dem "gottes-lästerlichen Westen" abschirmen sollte, sondern – aus den im Verlauf des Großen Nordischen Krieges gesammelten Erfahrungen – im Falle neuerlicher militärischen Auseinandersetzungen auch als Schlacht-Feld vorgesehen war (über 12.000 Litauer verließen 1807 ihre Heimat und meldeten sich als Freiwillige bei der französischen Armee oder traten der polnischen "Donau-Legion" bei; über 120.000 Polen kämpften in Napoleonischen Armeen). Dass jedoch sämtliche russischen Armeen den Rückzug einleiten und die "Westlichen Provinzen" ohne auch nur den Ansatz eines Widerstands aufgeben würden, war für den Kaiser ebenso wenig vorherzusehen gewesen, wie der Umstand, dass sich das von der russischen Besatzungs- und Regierungs-Macht befreite städtische Bürgertum Wilnas, das sich seit 1807 mit regelmäßigen Sammlungen für kriegs-gefangene und in Russland internierte französische Soldaten hervorgetan hat, mit der plötzlich eröffneten Selbst-Verwaltung in vielerlei Hinsicht überfordert zeigen und die von den Franzosen auferlegten Forderungen nur schleppend, unvollständig oder gar nicht erfüllen würde (und konnte).
Schon vor Beginn des Feldzuges hatte Napoleon einige Offiziere und Beamte ausgewählt, die nach seiner Auffassung bestens dazu geeignet waren, das gefallene Groß-Herzogtum als einen neuen Vasallen-Staat des Imperiums auferstehen zu lassen; eine Regierung einzusetzen, zu formen und zu lenken, die sich der französischen Hegemonial-Macht treu ergeben erweisen würde; und die – wie in allen anderen unterworfenen Ländern – in der Lage waren, in kürzester Zeit eine reguläre Armee aufzubauen, deren Einheiten aufgrund gleicher Struktur und Gliederung einen neuen Teil-Verband der "Grande Armée" stellen könnten. Und obwohl Napoleon wusste, dass jeder weitere Tag seines Aufenthalts in Wilna nicht nur seinen zeitlich eng gefassten Feldzugs-Plan mehr und mehr in Verzug brachte, sondern auch den Vorsprung der russischen Armee immer größer werden ließ -, darüber hinaus dem Zaren zunehmend bessere Spiel-Räume verschaffte, die Festungs-Kette, die von den Franzosen entlang der mittelalterlichen Burgen-Linie von Bobruisk, Mogilew, Witebsk und Polozk (heute Babrujsk, Mahiljou, Wizebsk und Polazk, alles BLR) hinauf nach Dünaburg (heute Daugavpils, LVA) vermutet wurde, verteidigungsbereit zu machen, gab es täglich neue Anlässe, die Napoleon zur persönlichen Entscheidung an sich zog bzw. die ihn trotz seines europa-weit beachteten Arbeits-Tempos vom immer wieder verkündeten Aufbruch abhielten: Bereits am 30. Juni hatte Napoleon auf Initiative der Universitäts-Studenten Mykolas Juozapas Romerisin, angesehener Richter, Vorsitzender des juristischen Fach-Bereichs der Universität und des Wohlfahrts-Ausschusses von Wilna, zum Bürger-Meister ausgerufen und in der St. Stanislaus-Kathedrale eine (wohl von den Studenten verfasste) Proklamation zur Wieder-Herstellung der litauischen Eigenstaatlichkeit verkündet, die am 1. Juli von mehreren Tausend Angehörigen des litauischen Adels und des Bürgertums unterzeichnet wurde. Diese Erklärung bestätigte die Befürchtungen des Zaren-Hofes; löste aber auch in Warschau erhebliche Verstimmungen aus, hatte man doch im "Sejm" erwartet, dass Napoleon die polnische Loyalität mit der Wieder-Herstellung der polnisch-litauischen Personal-Union ("Rzeczpospolita") und der Erhebung des Fürsten Józef Antoni Poniatowski, Neffe des letzten polnischen Wahl-Königs, belohnen würde (was wiederrum Konflikte mit Sachsen nach sich ziehen würde; war doch Friedrich August I. von Sachsen durch Napoleons Gunst zum König aufgestiegen und – anknüpfend an die polnische Verfassung von 1791 – als Herzog von Warschau auch "erblicher Wahl-König" von Polen). Von der Errichtung eines eigenständigen, von Polen unabhängigen litauischen Staates samt selbst-bestimmter Regierung war nie die Rede.
Um weitere Verwicklungen mit und unter seinen Vasallen zu vermeiden, beorderte Napoleon den französischen Außen-Mimister Hugues-Bernard Maret nach Wilna, das aufgrund der Vielzahl bekannter Diplomaten, Botschafter, Marschälle und Generäle des Kaiser-Reiches von den Einwohnern Wilnas bald amüsiert als "neue Hauptstadt" des Imperiums betitelt wurde. Napoleon beauftragte den für sein besonnenes Verhandeln und geschicktes Handeln geschätzten Diplomaten mit der schwierigen Aufgabe, eine für Polen und Litauen (und damit auch für Sachsen und Frankreich) zufriedenstellende und nachhaltige Lösung zu finden und vertraglich zu fixieren.
Noch am Abend des 1. Juli wurde Napoleon im Rahmen der Feierlichkeiten von einer Vielzahl prominenter litauischer Adliger regelrecht bestürmt und belagert. Die Standes-Herren boten dem Kaiser ihre Dienste an und bewarben sich um einflussreiche Regierungs-Posten. Unter Vorsitz des in ost-europäischen Angelegenheiten erfahrenen Diplomaten und französischen Botschafters in Warschau (und Erfinder des Rhein-Bundes), Louis Pierre Edouard Bignon, den der Kaiser zum Regierungs-Kommissar für Litauen bestimmt hatte, wurden in den nächsten Tagen die Honoratioren erfasst, überprüft und aufgelistet, die nach französischer Auffassung geeignet waren, eine provisorische Regierung nach Vorbild französischer Militär-Verwaltungen zu bilden (das 60-köpfige "Conseil municipal", aus deren Mitgliedern wiederum das 7-köpfige "Comité administratif" gewählt wurde). Neben Ausschüssen für innere, äußere und religiöse Angelegenheiten -, Verwaltungs-Gremien für die Einführung des französischen Rechts-, Post- und Schul- samt des dezimalen Normen-, Gewichte- und Maße-Systems, wurden auch Ministerial-Behörden für Steuern und Finanzen, Presse und Zensur -, zur Sicherstellung der Verpflegung, zum Aufbau eines Lazarett-Betriebes und für die Beseitgung von Leichen und Kadavern eingerichtet. Vor allem aber bekam das Komitee zur Aufgabe, schnellst-möglich eine schlag-kräftige Gendarmerie zu formieren, die dem Befehl des exil-litauischen Obristen Antanas Chrapovickis unterstellt wurde, und eine zuverlässige National-Garde (bestehend aus zwei Bataillonen zu je sechs Kompanien mit insgesamt 1.450 Mann) aufzustellen, die offiziell – wie in Grodno – verpflichtet wurde, Stadt und Umland gegen das Unwesen der "Partigiano" zu schützen und die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, intern aber hauptsächlich damit betraut wurde, Beschlagnahmungen für die französische Armee durchzuführen, Quartiere zu beschaffen und militärische Objekte und kommunale Einrichtungen wie Hafen-Anlagen, Depots und Brücken zu bewachen. Die Truppe, die überwiegend von national-patriotisch gesinnten, russen-feindlichen, militärisch aber vollkommen unerfahrenen Studenten der Universität von Wilna gestellt wurde, jedoch weder verhindern konnte, dass die Kosaken in der ersten Juli-Woche sämtliche am Ufer der Neris (bzw. poln. Wilia) gelegenen Mühlen abfackelten, noch gelang es ihren Eskorten, die zur Not-Vesorgung der Armee aus der Provinz nach Wilna beorderten Ernte- und Proviant-Wagen gegen russische Kosaken und französische Marodeure zu schützen.
Einer Anekdote nach fiel Napoleon erst während des Feld-Zuges eine besondere Eigenart Russlands auf, die weder bei seinen Spionen noch in seinen Planungen Beachtung gefunden hatte: Nur wenige der größeren Städte und Güter verfügten aufgrund der Wetter-Extreme über wasser- oder wind-getriebene Korn-Mühlen. Die breite Masse des einfachen russischen Volkes mahlte das Mehl für den eigenen Bedarf mittels eigener Hand-Mühlen. Marschall François Joseph Lefebvre, Kommandeur der Alten Garde, erinnerte Napoleon an die "Contubernia" der römischen Legionen (Zelt- bzw. Koch-Gemeinschaften von je acht Legionären und zwei Burschen), die tagtäglich eine Art Getreide-Brei aus selbst gemahlenen Korn ...
Napoleon beendete die Ausführungen seines Marschalls mit einem verächtlichen "Pah!"

Ohne Angaben: "Kosaken überfallen eine Train-Kolonne der Großen Armee" Gemälde von Solomon Markowitsch Zelikhman. Bildquelle: Staatlichen Militärhistorischen Museum »Schlachtfeld Borodino« (bei Moskau, RUS).
Mit Tages-Befehl vom 7. Juli 1812 (andere Quellen nennen den 2. Juli) berief Napoleon dann die von ihm ausgewählten Mitglieder der "Provisorischen Regierungs-Kommission des wiederhergestellten Groß-Fürstentums von Litauen".

7. Juli 1812: "Kaiser Napoleon I. ernennt die Provisorische Regierung Litauens in Vilnius" Illustration von Petras Kalpokas in der Bibliothek der Universität von Wilna. Bildquelle: ► »Alkas« (Online-Journal zum Zeit- und Kultur-Geschehen Litauens).
Für die direkte Versorgung der durchmarschierenden Kampf- und nachfolgenden Service-Truppen als auch zur Bevorratung für das Winter-Lager hatte allein das Gouvernement von Wilna gemäß Napoleons Vorkriegs-Planungen 200.000 Zentner Getreide, 2 Millionen Zentner Hafer und 20.000 Zentner Heu und Stroh sowie einige Tausend Stück Horn-Vieh aufzubringen. Ähnliche Abgaben waren für die Regionen um Kowno, Suwałki und Grodno, Bialystok und Minsk vorgesehen. Nicht vorgesehen waren jedoch die Schäden durch Unwetter und Brand-Stiftung und der Umstand, dass eine erstaunlich hohe Anzahl polnisch-litauischer Groß-Grundbesitzer, die dem Russischen Reich treu ergeben waren, sich samt ihren leibeigenen Bauern dem Rückzug der russischen Armee anschließen würden. Und obwohl kurz nach Napoleons Einzug sämtliche städtischen Bäcker sofort der Militär-Verwaltung unterstellt worden waren, musste das Mehl bald derartig mit Stroh und Spreu gestreckt werden, dass das Brot letztendlich ungenießbar wurde und bestenfalls an die Schweine hätte verfüttert werden können, sofern diese noch vorhanden gewesen wären. Und so den durchmarschierenden oder auf den Straßen kampierenden Soldaten Mehl verausgabt wurde, konnten die Männer es mangels Zeit, Öfen oder Brenn-Holz nicht backen; noch immer steckten die Feld-Bäckereien irgendwo im Schlamm der Aufmarsch-Routen. Um die Ordnung irgendwie aufrechtzuerhalten, hatte Napoleon mit Dekret vom 2. Juli zwar verfügt, dass Soldaten, die der Plünderung oder Brandschatzung für schuldig befundenen werden, unverzüglich zu arretieren -, vor ein Kriegs-Gericht zu stellen und im Falle einer Verurteilung stand-rechtlich zu erschießen sind, doch unterschieden sich die "ordentlichen" Requirierungen und "offiziellen" Konfiskationen bald nur noch durch wertlose Quittungen von der "Acquisition"; der außerordentlichen Plünderung.
Die ausgesandten Requirierungs-Kommandos mussten immer weitere Expeditionen unternehmen: Bei Wileyka (Wilejka, BLR; über 120 km östlich von Wilna) spürte ein Kommando der 3ten Garde-Kavallerie-Brigade unter Pierre David de Colbert-Chabanais am 10. Juli neben einer Truhe mit Kupfer-Kopeken im Wert von 20.000 Francs ein Magazin mit 3.000 Zentnern Mehl und 100.000 Rationen Zwieback auf, was die Versorgung von 100.000 Soldaten aber nur für 3 Tage sichert.
Entsprechend verheerendere Folgen hatte die Hungersnot für die Einwohner Wilnas.

"Requirierungs-Konvoi mit erbeutetem Vieh" Stich nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...". Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
Napoleon konzentrierte sich hauptsächlich auf die militärischen Belange. Sein eigentliches Ziel, den ehemaligen und wieder ausgerufenen Regierungs-Sitz Litauens binnen Wochen-Frist bzw. bis zur Einnahme von Smolensk zum einstweilig wichtigsten Militär-Stützpunkt mit Lebensmittel-Lager, Getreide-Speicher und großem Waffen- und Munitions-Depot samt Lazarett, Garnison, Rekrutierungs- und Ausbildungs-Lager auszubauen und die an der Kreuzung der alten Handels- und Heer-Straßen von und nach Königsberg-Minsk bzw. Riga-Brest gelegene Stadt als Operations-Basis zur Führung des weiteren Feldzuges und zum zentralen Versorgungs- und Umschlag-Platz für Nachschub- und Beute-Güter der "Grande Armée" zu entwickeln, erwies sich trotz der von Napoleon eingesetzten Offiziere in kurzer Zeit nicht realisierbar: Am 3. Juli wurde der französische Brigade-General Antoine Henri Jomini zum Gouverneur des Departements Vilnius ernannt. Der ehemalige Chef des Sekretariats des Kriegs-Ministeriums, der aufgrund seines Fach-Wissens im Rüstungs-, Handels-, und Finanz-Wesen den damaligen Kriegs-Minister Berthier mehr als in den Schatten gestellt hatte, bekam von Napoleon die Order, die ausgemachten Nachschub-Probleme zu regeln, die gesamte Logistik nach französischen Modell zu organisieren und einen Fuhr-Park aufzubauen. Zum General-Gouverneur von Litauen bestellte Napoleon den holländischen General Dirk van Hogendorp, der erst Anfang Juni 1812 zum Gouverneur von Ost-Preussen ernannt worden war und sich in Königsberg dadurch ausgezeichnet hatte, die von der französischen Armee auferlegten Kontributionen und eingeforderten Requisitionen nicht nur mit der bereits in Spanien angewandten Methode äußerster Härte einzutreiben, sondern auch überzuerfüllen; am 8. Juli trat er in Wilna sein Amt an.

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Bereits mit Datum vom 1. Juli hatte der Kaiser ein Dekret unterzeichnet, das der Provisorischen Regierung in Wilna die Aufstellung einer "Litauischen Legion" von rund 15.000 Mann befahl. Praktisch stellte diese Order das litauische Militär-Komitee vor enorme Herausforderungen: Zum Schutz der geplanten Departements -, zur Sicherung des Hinter-Landes samt rückwärtigen Verbindungen -, als Reserve und neues Kontingent der "Grande Armée" sollte Litauen gemäß Napoleons Planungen innerhalb von zwei bis drei Monaten eine erste Division formieren, die nach französischem Vorbild vier Kavallerie-, fünf Infanterie- und (aus einer daraus später erfolgenden Auslese der besten Schützen) ein Jäger-Regiment umfassen sollte. Nach den Erfahrungs-Werten der französischen Armee würde die Aufstellung einer komplett ausgerüsteten Division einen Etat von rund 12 Millionen Gold-Francs bzw. etwa 11 Millionen "Áuksinas" ( 1) erfordern. Da dem litauischen Militär-Komitee jedoch nicht einmal 2.000 Gold-Münzen zur Verfügung standen, schlug der einfalls-reiche General Jomini dem gleichsam in französische Dienste emigrierte und mit der Gründung der "Litauischen Legion" beauftragten Obristen Joozap Dominykas Kosakovskis vor, Offiziers-Patente nicht nur aufgrund von militärischen Qualifikationen sondern bevorzugt nach der Anzahl gestellter und ausgerüsteter Mannschaften zu vergeben. Infolge dieser Praxis verfügte die junge litauische Armee bald über eine Vielzahl von bunten Kompanien, Hundertschaften und Schwadronen unter dem Kommando eitler Offiziere, die ihre Leib-Eigenen mangels einheitlicher Uniformen in umgearbeiteten zivilen Trachten -, in gespendeten Monturen aus den Depots-Beständen der "Weichsel-Legion" oder in erbeuteten russischen Röcken nach selbst-verfassten Exerzier-Reglements herummarschieren ließen und nur schwer davon zu überzeugen waren, ihre Einheiten zu Regimentern zusammenzuschließen und sich einem gemeinsamen Kommando zu unterstellen. Die Regiments-Kommandeure wurden schließlich nach Ansehen und Vermögen gewählt und trafen ihre Entscheidungen in einem lockeren Kriegs-Rat; litauische Generäle bildeten einen General-Stab, in dem es weder einen General-Obersten noch einen Stabs-Chef gab und der dementsprechend keine Befehls-Gewalt über die Truppen hatte...
Napoleon hielt das ganze Durcheinander für inakzeptabel, sah sich jedoch gezwungen, sich mit dem Possen-Spiel bis zur Einführung von geordneten Rekrutierungen und geregelten Aushebungen zufrieden geben zu müssen. Voraussetzung dafür war die Einrichtung von Departements samt Präfekturen und Arrondissements sowie der Abschluss der Bevölkerungs-Zählungen und der Aufbau der Steuer-Verwaltung. Kurzerhand übertrug der Kaiser seinem General-Gouverneur Hogendorp das Ober-Kommando über den litauischen General-Stab. Departements-Gouverneur Jomini wurde zum Militär-Gouverneur von Wilna ernannt und übernahm mit deutlich erweiterten Befugnissen den Vorsitz des litauischen Militär-Komitees. Mit der Ermächtigung, die Aushebung, Ausbildung und Ausrüstung litauischer Rekruten spürbar voranzubringen, senkte Jomini die von Russland eingeführte 25-jährige Wehr-Pflicht auf sechs Jahre ab, übernahm die Verwaltung des Militär-Etats und verpflichtete die Kirchen zur Sammlung von Spenden für den Aufbau der regulären Armee. Mit diesen Maßnahmen konnten in kürzester Zeit rund 3.000 "Šleči" (lit.: Stiefel; Rekruten der Infanterie) in der Region von Wilna geworben werden; aus der Region Grodno meldeten sich etwa 2.500 Freiwillige, aus Belostok kamen 1.500 Mann, und obwohl die Region um Minsk noch von russischen Kosaken verunsichert wurde, verpflichteten sich auch hier über 3.000 Litauer.
Eine beispielhafte und vorbild-gebende Wirkung hatte die Aufstellung des Litauischen Garde-Regiments: Unter dem Eindruck der begeisterten Studentenschaft und den unzähligen verarmten, aber umso kampf-entschlosseneren Sprösslingen des litauischen Land-Adels befahl Napoleon mit Dekret vom 5. Juli die Errichtung eines weiteren Lancier-Regiments, das nach Abschluss der drei-monatigen Ausbildung als "3e Régiment de Chevau-légers Lanciers" (lituaniens) unter der Führung des aus Litauen stammenden Generals Jonas Kanopka (bis dahin Major im 1ten Regiment der polnischen Garde-Ulanen) in die Junge Garde eingereiht werden sollte. Und obwohl die Freiwilligen für Pferd, Uniform und Ausrüstung selbst aufkommen mussten, war die in Aussicht gestellte Vergütung aus der halbwegs gesicherten fanzösischen Kriegs-Kasse – der Sold entsprach dem des 2ten Regiments der Garde-Ulanen ("Lanciers rouges de la Garde impériale") – Anreiz genug, dass die Werber aus der Vielzahl potentieller Rekruten auswählen konnten (zwei Eskadronen wurden zeit-gleich in Warschau aus litauischen Adeligen gebildet). Überraschend schwieriger erwies sich hingegen die Werbung litauischer Tartaren: Der litauische Graf Liudvikas Mykolas Pacas, 1806 in die Garde des Kaisers eingetreten und von diesem 1807 in den Stab der im Aufbau befindlichen "Weichsel-Legion" nach Warschau kommandiert; ab 1812 dann einer der General-Adjutanten des Kaisers, hatte angeboten, aus den sunnitisch-muslimisch geprägten litauischen Tataren auf eigene Kosten ein Regiment Elite-Kavallerie auszurüsten, das ebenfalls der kaiserlichen Garde beigegeben werden sollte. Doch entgegen der Erwartung, dass die ursprünglich von der Krim abstammenden litauischen Muslime aufgrund jahrhunderte-langer Verfolgung durch russische Armee und orthodoxe Kirche zu Hunderten in französische Dienste treten würden, meldeten sich nur wenige Freiwillige. Trotzdem zeigte sich Napoleon von der orientalisch prächtig ausstaffierten, ersten – und einzigsten – Schwadron, die noch im Juli vor ihm paradierte, in der Art begeistert, dass er die insgesamt 125 grimmigen Männer unter Major Mustapha Murza Achmatowicz zur Litauischen Ehren-Garde erhob, dem "3e Régiment de Chevau-légers Lanciers polonais de la Garde impériale" angliederte und zur persönlichen Eskorte erklärte.
3e Regiment de Chevau-légèrs de la Garde Impériale: Offizier, Lancier und Trompeter (um 1812/13).
Tartares Lithuanien de la Garde Impériale, Gendarme Lithuanien und 17e Regiment de Lanciers Lithuanien (alle um 1812). Aquarellierte Zeichnung(en) von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993). Bildquelle: ► eigene Sammlung.
Trotz aller Schwierigkeiten (die Aufstellung und Ausbildung der litauischen Division wird sich noch bis zum November hinziehen; die Provisorische Regierung Litauens erfährt noch im ersten Monat ihres Bestehens einige Umbildungen; die Ausschüsse können weder die logistischen Probleme noch die äußerst mangelhafte materielle Unterstützung bewältigen; die ländliche Bevölkerung lässt sich aufgrund ausgeprägter Traditionen und grundverschiedener Verwaltungs- und Rechts-Auffassungen -, aber auch zunehmender Feindseeligkeit infolge der Plünderungen nicht in die planmäßige Staats- und Nationen-Bildung Frankreichs integrieren) verkündete Napoleon am 7. Juli per Erlass die Gründung des Staates Litauen mit den Departements Vilnius, Mari Gardin (bzw. Slonim), Minsk und Bialystok, die in insgesamt 17 Präfekturen unterteilt wurden.
Am 12. Juli erhielt der Kaiser die Nachricht von der anhaltenden Untätigkeit und den Eigenmächtigkeiten seines Bruders Jérôme, die er nur noch als Befehls-Verweigerung bewerten kann. Auch erreichten ihn die ersten Meldungen vom geglückten Entkommen der 1ten (russischen) West-Armee, den erfolgreichen Absetz-Bewegungen der 2ten (russischen) West-Armee und der verlust-reichen Schlacht bei Mir. Darüber hinaus hatten die einzelnen Corps der "Grande Armée" nach eingegangenen Stärke-Meldungen – ohne eine Schlacht geschlagen zu haben – insgesamt bereits rund 135.000 Mann verloren; wobei Schätzungen zufolge davon mindestens 50.000 Mann ihre Einheiten verlassen bzw. den Anschluss verloren hatten und vagabundierend und marodierend im Land herumzogen. Besonders besorgnis-erregend waren Schilderungen, dass sich einige Hundert Deserteure zu organisierten Banden zusammengeschlossen hatten und Konvois überfielen, Höfe plünderten, abgelegene Güter oder verlassene Schlösser besetzt hielten und sogar Vorposten sowohl gegen russische Kosaken als auch französische Gendarmen aufgestellt hatten.

"Marodeur" (um 1812) Aquarellierte Zeichnung von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993).Bildquelle: ► eigene Sammlung.
Napoleon kam zu dem Schluss, dass es höchste Zeit wurde, wieder persönlich aktiv zu werden. Als Erstes diktierte er in einer Mischung aus Wut und Entschäuschung ein Schreiben an Marschall Louis-Nicolas Davout, das den Kommandeur des I. Corps die unliebsame Aufgabe übertrug, Jérôme Bonaparte des Kommandos über die Corps des südlichen Flügels zu entheben, den Marschall ermächtigte, selbst den Ober-Befehl zu übernehmen, und ihn anwieß, die 2te (russische) West-Armee schnell, energisch und gezielt anzugreifen.
Die Haupt-Armee erhielt das neue strategische Ziel, durch einen raschen Vorstoß in Richtung Osten einen Keil zwischen die russischen Armeen zu treiben, ihnen den den Rückzug ins Hinterland abzuschneiden und sie einzeln entscheidend und vernichtend zu schlagen. Noch am selben Tag erhielt die Garde-Kavallerie Befehl, die Marsch-Bereitschaft herzustellen, zur Inspektion vor dem Kaiser aufzureiten und nach der Parade in Richtung Glubok (heute Hlybokaje, BLR; etwa 160 km nord-östlich von Wilna bzw. auf halber Strecke zwischen Wilna und Witebsk) abzurücken. Marsch-Ziel ist Witebsk, wohin Napoleon nach Abschluss der für den 14. Juli festgesetzten Feierlichkeiten zur Ausrufung der Allgemeinen Konföderation mit Polen mit der Garde-Infanterie nachfolgen will. Entweder würde der Marsch auf Witebsk die russischen West-Armee bewegen, zur Verteidigung der nur noch rund 50 Kilometer entfernten Grenze hin zum russischen Kern-Land aufzumarschieren, oder der "Grande Armée" würde der Weg nach Smolensk und damit direkt nach Moskau offenstehen. Hingegen war es für Napoleon in Anbetracht der russischen Expansions-Geschichte nicht vorstellbar, dass die von ihm geforderte Demarkations-Linie vom Zaren kampflos hingenommen werden würde.
Im Jahr 1667 und nach über 150 Jahre dauernden Kämpfen war es dem damaligen Großfürstentum von Moskau (dem "Herrscher der ganzen Rus") endlich gelungen, dem Großfürstentum von Litauen (dem "Herrscher vieler russischer Länder") das Gebiet um das einst unabhängige Fürstentum Smolensk als neue Sicherheits-Zone gegen den polnisch-litauischen Rivalen abzuringen. Im Ergebnis der "Russifizierung" wurde die Sicherheits-Zone russisch; eine neue Sicherheits-Zone wurde nötig, und der politische Plan der Teilungen Polens nahm konkrete Formen an. Im Ergebnis der Teilungen und der letztendlichen Auslöschung war die polnisch-litauische Union entwaffnet und damit entmachtet.
Zur Sicherung der inzwischen zur strategisch wichtigen -, militärisch jedoch kaum gesicherten Verwaltungs- und Versorgungs-Zentrums bzw. bis zur Errichtung erster geeigneter litauischer Einheiten sah sich Napoleon gezwungen, Teile des VI. (bayerischen) Corps unter Marschall Laurent de Gouvion Saint-Cyr in Wilna zu garnisonieren. Am 13. Juli trafen die rund 25.000 Mann der beiden bayerischen Divisionen vor Wilna ein und bezogen bei Troki (heute Trakai, LIT; etwa 20 westlich von Wilna) ein Marsch-Lager. Am frühen Abend erschien überraschend der Kaiser. Er wollte sich persönlich einen Eindruck vom Zustand der Soldaten machen und kam der Quelle nach noch bevor ein Offizier von seiner Ankunft erfahren hatte mit den einfachen Soldaten ins Gespräch; erkundigte sich nach der Zahl der Kranken und Fuß-Lahmen, nach Art und Menge der Verpflegung und nach dem Zustand der Waffen und Ausrüstung. Die Soldaten beklagten vor allem den Mangel an Trink-Wasser und die minderwertige Qualität ihres Schuh-Werkes; auch gaben sie an, infolge der schlecht verarbeiteten Monturen dauernd mit Flick-Werkelei zu tun zu haben; die Raupen auf den Helmen hatten sich im Regen mit Wasser vollgesogen, das Leder hatte sich verzogen, und die Helme scheuerten und drückten.
Die Offiziere beendeten das Gemaule. Nach bald erteilten Befehlen traten die Soldaten "eiligst unter die Waffen und in Schlachtordnung", und der Kaiser äußerte seine "Zufriedenheit über die Geschwindigkeit, mit welcher die Bataillons in Schlachtordnung aufgestellt waren". Tatsächlich hatte das bayerische Corps bei seiner Ankunft vor Wilna von 26.300 Mann bereits rund 1.500 Soldaten ohne Feind-Einwirkung verloren; 345 Mann lagen mit Sonnenstich oder Infektions-Krankheiten in den provisorisch errichteten Feld-Lazaretten.
Bayern: Général de Division, 2. Chevauleger Regiment und Artillerie (alle um 1812). Aquarellierte Zeichnung(en) von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993). Bildquelle: ► eigene Sammlung.
Am folgenden Tag brach das bayerische Kontingent den Schilderungen nach im strömenden Regen zum Weiter-Marsch auf. Saint-Cyr hatte von Napoleon Befehl erhalten, bei Polozk (heute Polazk, BLR) über die Düna und weiter in Richtung Witebsk vorzustoßen, sich aber gleichzeitig bereitzuhalten, nötigenfalls in süd-östliche Richtung auf Beshankovichi (heute Beshankovichy, BLR) abzuschwenken, um Davout gegen die 2te russische West-Armee zu unterstützen, oder aber auch in nord-östliche Richtung einzudrehen, um die 40.000 Mann des II. Corps unter Marschall Oudinot zu verstärken, der an diesem Tag damit begann, den Angriff auf das am westlichen Ufer der Düna gelegene Vorwerk der im Ausbau befindlichen Festung Dünaburg (heute Daugavpils; LVA) vorzubereiten. Im Rahmen des großen Defilees der bayerischen Truppen vor Wilna zeigte sich der Kaiser besonders von der tadellosen Haltung der vier bayerischen Chevaulegers-Regimenter der Division Preysing beeindruckt, die zu ihrer Überraschung plötzlich von einem kaiserlichen Adjutanten aus der Kolonne heraus-gewunken wurden. Kurz darauf erhielt Marschall Saint-Cyr die Nachricht, dass der Kaiser die gesamte stolze bayerische Reiterei sowie die leichte Batterie Widnmann zur Haupt-Armee abkommandiert und dem IV. (italienischen) Corps des Vize-Königs Eugène Beauharnais unterstellt hatte.
Eine Entscheidung, die nicht nur für die Schlag-Kraft und die Moral des bayerischen Kontingents verheerende Folgen haben wird; ohne die Reiterei kann die Infanterie weder die Versorgung aus den Magazinen noch den Schutz des Trains aufrechterhalten, geschweige denn eine Vor- oder Nachhut sicherstellen (der letzte Wagen des bayrischen Trains – 186 Munitions-, Schmiede- und Kohle-Wagen, 58 Wagen mit Kasse und Registratur, Feld-Post und Offiziers-Bagage etc. sowie Proviant- und Fourage-Wagen – hatte Wilna noch nicht einmal erreicht, als der Weiter-Marsch befohlen wurde; die Kolonne benötigte drei Tage zur Passage von Wilna). Das ganze Corps war von nun an auf Selbst-Versorgung angewiesen...
Die Feierlichkeiten zur Allgemeinen Konföderation zwischen Polen und Litauen begannen am Nachmittag des 14. Juli in der St. Stanislaus-Kathedrale von Wilna mit einer Messe mit Chor-Gesang und dem Segen zu einer symbolischen Doppel-Hochzeit zwischen einem polnisch-litauischen bzw. litauisch-polnischen Paar. Nach der ehrenvollen Begrüßung der Delegierten des Warschauer "Sejm" und den obligatorischen Reden politischer Amts-Träger unterzeichnete Napoleon unter Jubel und Vivat-Rufen die Beitritts-Urkunde zu der vom französischen Außen-Minister ausgehandelten "Warschauer Konföderation".
Eine Unterschrift, die den Kaiser beinahe drei Wochen gekostet hatte...

"Ansicht der St. Stanislaus-Kathedrale von Vilnius - Die Kathedrale und der Platz, auf dem die von den russischen Behörden zerstörte Burg Dolny stand" (um 1808) Colorierte Lithografie von Józef Peszka in der Bibliothek der Universität von Wilna. Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
Am 15. Juli hatte Marschall Mortier mit den Fuß-Garden Glubok (heute Hlybokaje, BLR; 160 km nord-östlich von Wilna; 80 km süd-westlich von Polozk) passiert. Und während Marschall Oudinot mit der Avant-Garde des II. Corps das verlassene Lager von Drissa inspiziert; die 1te (russische) West-Armee in Polozk (heute Polazk, BLR) den Zaren nach Moskau verabschiedet, trifft der Kaiser am 18. Juli bei seiner Garde-Kavallerie in Glubok ein.

Historische Karte der Gouvernements Litauen und Weiß-Russland Kartographie von Benedykt Hertz für den »Litauischen Kurier« (vor 1917). Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
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Do., 25. Juni, bis Sa., 18. Juli: Entwicklungen an der Süd-Flanke |
Mit der am 25. Juni eingegangen Meldung, dass die beiden Korps der 2ten (russischen) West-Armee unter General Bagration nicht in Richtung Westen bzw. auf Warschau vorstießen, sondern den Rückzug über Wolkowysk auf Slonim (heute Waukawysk bzw. Slanimas, beides BLR) eingeleitet hatten, war auch der von Napoleon zehn Tage zuvor seinem Bruder übermittelte Befehl zum Halt bzw. nur langsamen Vorgehen des rechten (südlichen) Flügels hinfällig: Jérôme Bonaparte, der zu diesem Zeit-Punkt noch das Ober-Kommando über das V. (polnische) und sein VIII. (westphälisches) Corps inne hatte, erhielt Order, wieder plan-gemäß auf Grodno (heute Hrodna, BLR) vorzurücken -, dort über den Njemen zu gehen und umgehend die Verfolgung Bagrations aufzunehmen. Und da der Kaiser nunmehr aus südlicher Richtung – aus dem zwischen Bug und Dnjepr gelegenen und nur schwer passierbaren Gebiet der vom Fluss Prypjat im Süden Weiß-Russlands gebildeten Sumpf-Landschaft – keine Gefahr mehr erwartete, erhielten auch die bis auf Weiteres zum Schutz der Bug-Linie abgestellten Sachsen und Österreicher Befehl, sich der Invasion anzuschließen.
General Carl Philipp Fürst zu Schwarzenberg, der in der Phase des Einmarsches eigentlich damit betraut war, das Herzogtum Warschau mit den rund 30.000 Mann seines (XII.) "kaiserlich-österreichischen Auxiliar-Corps" vor einem Gegen-Angriff Bagrations zu decken, war am 15. Juni von seinem Haupt-Quartier bei Lemberg (heute Lwiw, UKR) über Tomaszów, Krynice und Lublin auf polnisches Gebiet marschiert und hatte am 25. Juni Siedletz (heute Siedlce, POL) erreicht, in dessen Groß-Raum die Truppen für die Dauer ihrer Schutzmacht kantoniert werden sollten. Hier erreichte Schwarzenberg am 26. die Nachricht vom Beginn des Einmarsches der "Grande Armée" sowie der von Generalstabs-Chef Louis-Alexandre Berthier im Namen des Kaisers erteilte Befehl, den Bug zu überqueren, bei Slonim (heute Slanimas, BLR) die Vereinigung mit dem VII. (sächsische) Corps unter dem französischen General Jean-Louis-Ebenezer Reynier zu suchen und zusammen den Vormarsch des rechten (südlichen) Flügels Jérômes zu flankieren.
Eine österreichische Division (Trautenberg) sollte zur Sicherung der Grenze zurückbleiben.
Unterstützt wurden die Österreicher von polnischer Seite von einigen Pulks der sog. "Lipka-Tataren", einer muslimischen Minderheit im katholischen Polen, die – als ehemalige Waffen-Brüder der "Goldenen Horde" aufgrund ihres traditionellen Schamanentums von den bald zum Islam konvertierten Mongolen-Führern zunehmend selbst als Ungläubige gesehen und als Feinde verfolgt wurden – dem Großfürstentum Litauen Ende des 14. Jahrhunderts erst gegen die Moskowiter Russen und im Jahr 1410 in der Schlacht bei Tannenberg gegen den Deutschen Orden zur Seite gestanden -, zum Dank nahe Białystok ein Siedlungs-Gebiet geschenkt bekommen und dort den Schutz der ost-polnischen Grenze übernommen hatten (und noch heute ausüben).

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General und Feld-Marschall Karl Philipp Fürst zu Schwarzenberg (1771–1820). Unbekannter Künstler. Gemälde in der Sammlung des »Museu Histórico Nacional« (BRA). Bildquelle: »arts & culture« (google) und General Jean-Louis-Ebenezer Reynier (1771-1814). Gemälde von José Aparicio in der Sammlung des »Utah Museum of Fine Arts« (UMFA, Salt Lake City, USA). Bildquelle: ► WIKIPEDIA
Das österreichische "Auxiliar-Corps" hatte am 30. Juni Sokolow -, am 2. Juli bei Mogielnitza den Grenz-Fluss Bug erreicht. Am 4. Juli sind die 24.000 Österreicher von Buczyska über drei bereits zwei Tage zuvor errichtete Lauf- (oder Steg-) Brücken bei Drogiczin (heute Mogielnica, Bużyska und Drohiczyn, POL) auf dem östlichen Ufer angekommen; die Avant-Garde stößt ungestört bis Pruzany (heute Pruschany, BLR; ca. 150 km östlich des Grenz-Flusses) vor. Schwarzenberg verschiebt sein Haupt-Quartier am 6. Juli nach Riasna (Ryasno); das Korps steht bei Wysokie, am 7. Juli bei Kaminice, am 9. bei Wiesna (heute Wyssokaje, Kamenez bzw. Vishnya, alles BLR); das Haupt-Quartier dann am 10. bei Pruzany. Von hier aus beziehen die Divisionen netz-artig u.a. bei Szereszow (Šarašova, BLR), Pinsk und Janow (Iwanawa, BLR), Kobryn und Ratno (Ratne, UKR) Beobachtungs-Positionen und stellen bei Rozanni (Ružany, BLR; etwa 40 km süd-westlich von Slonim) die Verbindung mit den Sachsen her.
Teile des VII. (sächsische) Corps verließen am 27. Juni Praga bei Warschau, standen am 28. bei Brok; am 29. bei Zambrów und erreichten am 30. Sokoły (alles POL, etwa 100 km nördlich von Siedletz). Von Lublin kommend, überschritt General Reynier am 29. den Bug bei Kózki und traf ebenfalls am 30. Juni in Sokoły ein. Hier erhielt Reynier die Nachricht vom Abzug der russischen Garnison aus der Grenz-Festung von Brest, die er umgehend von einem etwa 1.500 Mann starken Verband besetzen ließ, dem u.a. auch zwei Kompanien des Infanterie-Regiments "Niesemeuschel" angehörten. Mit etwa 17.500 Mann, davon rund 2.200 zu Pferd – auch die Sachsen haben infolge der Strapazen inzwischen Ausfälle von rund 1.500 kranken und toten Soldaten zu beklagen – überquert Reynier am 1. Juli den Grenz-Fluss Narew bei Surash (heute Suraż, POL) und marschiert über Belostok (heute Białystok, POL) und Grodek auf Wolkowysk (heute Waukawysk, BLR), wo seine Avantgarde-Kavallerie die letzten Nachzügler des 7ten und 8ten (russischen) Infanterie-Korps gefangen nehmen kann. Von ihnen erfährt Reynier, dass die von ihren Garnisonen bei Novyi Dvor und Wolkowysk abgezogenen Verbände nicht – wie vom Großen Haupt-Quartier angenommen – auf Minsk zurückweichen, sondern General Bagration in nord-östliche Richtung abgeschwenkt ist und operativ den Anschluss an das von Lyda (heute Lida, BLR) ebenfalls in nord-östliche Richtung auf Smorgon (heute Smarhon, BLR) abziehende 6te (russische) Infanterie-Korps sucht.
Von Zelwa kommend, trifft Reynier am 6. Juli in Slonim (heute Selwa und Slanimas, BLR) an der Weg-Gabelung nach Lyda oder Minsk ein. Mit der Meldung, dass es Marschall Davout gelungen ist, der 2ten (russischen) West-Armee bei Wischnew (auch Wisniow oder Vishnevo; heute Wischnewa oder Višnieva, BLR) den direkten Weg hin zu dem über 300 Kilometer entfernten, vom Zaren als Sammel-Punkt befohlenen Feld-Lager von Drissa zu verlegen und Bagration damit gezwungen ist, wieder in süd-östliche Richtung abzuschwenken, bekommt das sächsische Corps den Befehl, weiter in östliche Richtung vorzustoßen, ein Ausbrechen der russischen Korps in südliche Richtung zu verhindern und den von Jérôme Bonaparte aus Grodno herangeführten rechten (südlichen) Flügel zu verstärken (bemerkenswert, dass Jérôme mit der Masse seines VIII. [westphälischen] Corps erst an diesem Tag von Grodno aufgebrochen war). General Reynier zieht von Slonim und Stalowice (heute Slanimas und Stalavichy, alles BLR) weiter nach Kleck (damals LIT, heute Klezk, BLR), wo die Sachsen am 15. Juli eintreffen.
Am selben Tag erreicht die Avant-Garde Jérômes Nieswisch (heute Njaswisch, BLR; etwa 20 km nördlich von Klezk).
Zu seiner großen Verwunderung erhält General Reynier hier den am 15. Juli aus dem Großen Haupt-Quartier ergangenen Befehl, wieder umzukehren und gut 130 Kilometer zurückzumarschieren, sich bei Rozanni (Ružany, BLR) mit dem österreichischen "Auxiliar-Corps" zusammenzuschließen und gemeinsam mit Schwarzenberg im Groß-Raum Wolhynien eine Abwehr-Stellung in südliche Richtung aufzubauen.
Anfang Juli hat sich das von Napoleon bis dahin als "impossible" abgetane Gerücht eines Endes des seit 1806 zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich tobenden Krieges um die Fürstentümer Moldau und Walachei am Schwarzen Meer bestätigt: Der insgeheim von dem als General in russischen Diensten stehenden französischen Emigranten Alexandre Andrault de Langeron ausgehandelte und am 28. Mai in Bukarest vom russischen General Michail Illarionowitsch Kutusow und dem mit der "Hohen Pforte" verbündeten Prinzen Démètre Mourousi unterzeichnete Vereinbarung war am 23. Juni – einen Tag vor Beginn der französischen Invasion – von Zar Alexander und Sultan Mahmoud II. ratifiziert worden; das gesamte Gebiet zwischen dem alten Grenz-Fluss Dnjestr und dem etwa 100 Kilometer weiter westlich gelegenen Fluss Prut wird russisch (Napoleon hatte es unterlassen, seine seit 1802 nur noch zweck-befreundeten Alliierten in Istanbul vom geplanten Krieg gegen Russland zu informieren; für die verlorenen Provinzen verlor Prinz Mourousi im Oktober 1812 seinen Kopf).
Der für Napoleon vollkommen überraschende Friedens-Schluss setzt für Russland erhebliche Reserven frei. Bereits Ende Juni hatte der russische General Alexander Petrowitsch Tormassow in seinem Haupt-Quartier in Dubno (heute Dubno, UKR) den Befehl erhalten, mit seiner erst im Mai 1812 aus Abgaben der 2ten West-Armee, Reservisten und dienst-pflichtigen Rekruten errichteten -, mit Stand-Orten in Luzk und Riwne in der ehemaligen litauischen Woiwodschaft Wolhynien garnisonierten und eigentlich als Ersatz und Verstärkung der gegen die Osmanen kämpfenden russischen Süd-Armee vorgesehenen "(Reserve-) Beobachtungs-Armee" in Richtung Norden aufzubrechen und die rechte (südliche) Flanke und den Rücken der Invasions-Armee anzugreifen. Und obwohl Tormassow auch die Weisung hat, von Kiew aus und dem Lauf des Flusses Prypjat (heute Prypjaz, UKR und BLR) folgend, eine über 500 Kilometer lange Abfang-Linie zu schaffen und gegen die "Grande Armée" ähnlich einer Grenze zu sichern, stellen die etwa 28.000 Mann, die dem russische General unterstehen, noch keine ernste Bedrohung für Napoleons Armee dar. Als sich dann noch große Teile der sog. "Donau-Armee" unter Admiral Pawel Wassiljewitsch Tschitschagow mit weiteren 45.000 Mann marsch-bereit machen, muss Napoleon – zu diesem Zeit-Punkt noch der festen Überzeugung, dass die Russen höchstens 10 bis 15.000 Mann von der Grenze zum Osmanischen Reich abziehen würden – seinen Plan, auch das (XII.) "kaiserlich-österreichische Auxiliar-Corps" unter General Carl Philipp Fürst zu Schwarzenberg dem südlichen Flügel der "Grande Armée" anzuschließen und mit der Sicherung und Beräumung der süd-westlich von Moskau im Groß-Raum der Gouvernements-Hauptstadt Kaluga gelegenen Haupt-Proviantlager der russischen Armee zu beauftragen, fallen lassen.

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General Alexander Petrowitsch Tormassow (1752-1819) Gemälde von George Dawe und Admiral Pawel Wassiljewitsch Tschitschagow (1767-1849) Gemälde von James Saxon in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
Mitte der zweiten Juli-Woche gehen mehr und mehr Kosaken-Streiftrupps bei Wlodawa, Rubieszow und Krilowo (heute Włodawa, Hrubieszów und Kryłów, alles POL) über den Grenz-Fluss Bug und verunsichern die östlichen Regionen des Herzogtums Warschau; die russischen Kommandos wagen sich bis vor die Hauptstadt und verbreiten Angst und Schrecken, brandschatzen mehrere Dörfer und rauben Vieh. Auch das Gebiet um Pruzany (Pruschany, BLR), dem Haupt-Quartier des österreichischen "Auxiliar-Corps", und die von Schwarzenberg eingerichtete Vorposten-Kette wird zunehmend beunruhigt: General Franz von Fröhlich sichert das Terrain von Malecz (heute Malech, BLR) über Chomsk bis Pinsk mit einer Brigade leichter Kavallerie in östliche Richtung; täglich melden seine Patrouillen Sichtungen, Geplänkel und kleinere Scharmützel mit dem Vor-Trab der von Tormassow schnell herangeführten "Beobachtungs-Armee". Um die Bewegungen des Feindes an der Bug-Grenze zu erkunden, bestreift die Husaren-Brigade des Generals Theophil Joseph von Zechmeister von Kobryn über Mokrany und weiter nach Süden bis Ratno (heute Ratne, UKR). Hier hat ein starker Kosaken-Vortrab bereits nördlich der Wýschiwka (Neben-Fluss des Prypjat) damit begonnen, ein Marsch-Lager zu befestigen.
Ein Kosaken-Detachement, das über die Route Petrikau, Turau und Davyd-Haradok (heute Petrikowe, Turowe und Davyd-Garadok, alles BLR) bzw. dem Lauf des Prypjat in Richtung Westen folgend bis vor die Stadt Pinsk vordringt, hier einen recht erfolgreichen Klein-Krieg gegen die Österreicher unter General Fröhlich eröffnet, kann schließlich am 17. Juli in der Nähe des Dorfes Vuichi (Vuyvichy, BLR) aufgebracht, zerschlagen und zum Rückzug gezwungen werden. Von den hier gemachten Gefangenen erfahren die Österreicher, dass es sich bei den Kosaken lediglich um eine kleine Aufklärungs-Abteilung handelt, die der 35ten (russischen) Infanterie-Division von General Andrei Wassiljewitsch Sapolski voraus-gesandt wurde.
Soldaten des österreichischen "Auxiliar-Corps" (v.l.n.r.): 1) Husaren-Regiment "Hessen-Homburg" No. 4 (Husar um 1812); 2) Infanterie-Regiment "Hoch- und Deutschmeister" No. 4 (Grenadier um 1809); 3) Ulanen-Regiment "Merveldt" No. 1 (Ulan um 1813). Aquarellierte Zeichnung(en) von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993). Bildquelle: ► eigene Sammlung.
Schwarzenbergs Haupt-Quartier hat zwischen dem 10. und 15. Juli nur vage Informationen über Stärke und Gliederung der anrückenden russischen Armee(n). Weder weiß man, wer welche Division oder Brigade kommandiert, noch lassen sich Operations-Gebiete abstecken und Stoß-Richtungen ausmachen. Über strategische Ziele herrscht vollkommene Ungewissheit; Einigkeit besteht lediglich in der Bewertung, dass die schnell ansteigende Zahl der Feind-Berührungen entlang einer sich rasch immer weiter ausdehnenden Front einen groß angelegten Gegen-Angriff auf die Flanke und das Hinterland der "Grande Armée" einleiten könnte, dem Schwarzenberg mit seinen insgesamt 30.000 Mann – verteilt über 350 Kilometer weitestgehend unübersichtlicher Ufer-Grenzen des Bug – nicht gewachsen ist. Naheliegend ist es, dass die russische Armee entweder über Cholm-Lublin (heute Chełm, POL) oder über Brest-Siedletz (heute Siedlce, POL) die vom Bug gebildete Fluss-Grenze überqueren könnte, die rückwärtigen Verbindungen der Invasions-Armee im Herzogtum Warschau kappen bzw. die dort eingerichteten französischen Versorgungs-Depots zerstören oder direkt gegen den rechten (südlichen) Flügel vorgehen würde.
Am 13. Juli wird das fünf Tage zuvor bei Torczyn (heute Tortschyn, UKR) errichtete Haupt-Quartier Tormassows ausgemacht. Nach einer ausgedehnten Rekognoszierung am 14. Juli hat Schwarzenberg sich zumindest den Überblick verschafft, dass er dem Großen Haupt-Quartier in Wilna melden kann, mindestens drei Infanterie- und einem Kavallerie-Korps gegenüberzustehen. Umgehend fordert er Verstärkungen an. Und sicher wird der General mehr als nur erstaunt gewesen sein, als bereits am 16. Juli ein Kurier aus dem beinahe 200 Kilometer entfernten Lager des Generals Reynier eintrifft und die Nachricht überbringt, dass Napoleon dem VII. (sächsischen) Corps die direkte Order zur sofortigen Umkehr und die Anweisung zum Rück-Marsch auf Rozanni (Ružany, BLR; 50 km nördlich vom aktuellen Stand-Ort des österreichischen Corps) erteilt hat. Am Abend des 16. Juli erhält Schwarzenberg dann ein Schreiben aus dem Haupt-Quartier des Königs von Westphalen, das dieser zwei Tage zuvor (und damit drei Tage vor seiner Absetzung bzw. während des ihm von Napoleon befohlenen Eil-Marsches zur Verfolgung der 2ten russischen West-Armee) verfasst hatte: Jérôme teilt dem Kommandeur des österreichischen Corps mit, "es sei der Wunsch des Kaisers, dass das österreichische Auxiliar-Corps sich sofort in Bewegung setze und die bei Neswiecz stehenden Sachsen ablöse, welche die Bestimmung hätten, die bisherige Stellung der Oesterreicher einzunehmen."
Schwarzenberg hat nicht die Absicht, Jérômes unsinniger Weisung nachzukommen: Für den österreichischen General ist es vorher-sehbar, dass die russische Armee den Abzug des "Auxiliar-Corps" sofort ausnutzen und über Wolhynien in polnisch-galizische (und damit auch österreichische) Gebiete eindringen wird. Auch ist es mehr als wahrscheinlich, dass er seine Kommando-Hoheit (dessen Unabhängigkeit ihm vor Beginn des Feld-Zuges mit Unterzeichnung des "Defensiv-Allianztraktats" vom 14. März 1812 von Napoleon persönlich garantiert worden war) dem vergnügungs- und gleichso geltungs-süchtigen jüngeren Bruder des Kaisers und von diesem zum Ober-Kommandierenden der Süd-Flanke bestimmt, zu unterstellen hat und letztendlich an dessen Stelle für ein mögliches Scheitern der laufenden Operationen gegen den russischen General Bagration verantwortlich gemacht werden könnte. Noch einmal versucht er dem Großen Haupt-Quartier den Ernst der Lage zu verdeutlichen; liegen ihm doch inzwischen Meldungen vor, dass der Kommandeur der russischen Vorhut-Kavallerie, General Karl Osipovich (Charles de) Lambert – ehemals französischer Offizier, dem Haus Bourbon treu ergeben und seit 1793 in russischen Diensten –, mit einigen Schwadronen der Alexandria-Husaren am 16. Juli bei Ustilug (heute Ustyluh, UKR) über den Bug gegangen ist und die Stadt Grubeschow (heute Hrubieszów, POL) besetzt hat, von dort zu einem ausholenden Aufklärungs-Zug aufgebrochen ist und wahrscheinlich über Lublin auf Brest vorstoßen wird.

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Husaren-Regiment "Alexandria" Nr. 5 (1783 Alexandrijsk, am 29. März 1801 umgewandelt in Alexandrija) Links: Trompeter um 1809. Aquarellierte Zeichnung von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993). Bildquelle: ► eigene Sammlung. Rechts: Offizier um 1812. Info-Tafel von Pawel Gennadijewitsch Aljechin für »Униформа русской армии 1812-1815 гг« (Uniformen der russischen Armee 1812-1815) Bildquelle: ► Sammlung des »Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation«.
Noch einmal, und diesmal direkt aus dem Großen Haupt-Quartier, erhält Schwarzenberg am 18. Juli den Befehl zum sofortigen Abmarsch in Richtung Osten. Das "Auxiliar-Corps" marschiert in zwei Kolonnen in Richtung Nieswisch (heute Njaswisch, BLR), wo Schwarzenberg die Sicherung der rück-wärtigen Verbindungen der Corps des Süd-Flügels übernehmen soll. Eine Kolonne geht über Slonim, die andere über Pinsk und Lohyczin. Reynier nimmt am Abend des 18. wieder in Slonim Quartier; der Stadt, die seine Soldaten erst vor 12 Tagen im Eil-Marsch durchquert hatte.
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Fr., 18. Juni, bis Sa., 18. Juli: Entwicklungen an der Nord-Flanke |
In Kurland, dem nördlichsten Schau-Platz der Invasion, hat der Feld-Zug in den ersten zwei Wochen des Einmarsches mehr Ähnlichkeit mit einem Manöver als mit einem Angriff: Mit Haupt-Quartier in Mehlauken (heute Salessje, RUS; etwa 35 km süd-westlich von Tilsit) hatte Marschall Étienne MacDonald am 18. Juni Teile seines X. (preussisch-französischen) Corps bei Insterburg (heute Tschernjachowsk, RUS) zur Revue vor dem Kaiser antreten lassen. Und während Polen und Litauer, Bayern und Westphalen der 7ten Infanterie-Division unter General Charles Louis Dieudonné Grandjean den Quellen nach Napoleon mit begeisterten "Vive I'empereur"-Rufen empfingen, standen die preussischen Einheiten, die General Friedrich Graf von Kleist im April in Nieder-Schlesien zusammengezogen und zwischen Mai und Juni von Breslau über Kalisch und Plotzk nach Jedwabno (heute Wrocław, Kalisz, Płock und Jedwabno, alles POL) geführt hat, in bester Ordnung, präsentierten das Gewehr und ... schwiegen. Direkt nach der Inspektion paradierten die Einheiten vor Napoleon und rückten dann in Richtung Nord-Osten ab. Nächstes Etappen-Ziel war das etwa 30 Kilometer entfernte Tilsit (heute Sowetsk bei Kaliningrad, RUS), das Napoleon zum Sammel-Punkt der einzelnen Brigaden des X. Corps bestimmt hatte. Hinter Tilsit liegt die Memel; die im Dörfchen Übermemel (Panemunė, LIT) auf dem rechten (und hier noch preussischen) Ufer von der überwiegend litauischen Bevölkerung bereits Njemen genannt wurde.

"Plan der Stadt Tilse" (Tilsit) ... aufgenommen 1835 von C.F. Steinberg - herausgegeben von Heinrich Post - lithografiert bei W. Winkler in Königsberg. (Bildquelle: ► »Bildarchiv Ostpreussen«).
Aus Königsberg und Labiau kommend (heute Kaliningrad bzw. Polessk, RUS), trafen hier am 19. Juni die vom preussischen General Johann David Ludwig von Yorck kommandierte Avant-Garde -, am 20. dann die Division "Grandjean" und das Gros der vom kommandierenden General Julius August Reinhold von Grawert herangeführten preussischen Infanterie sowie die von General Eberhard Friedrich Fabian von Massenbach befehligte Kavallerie ein; dazu drei mit 6-Pfündern ausgestatte Batterien zu Pferd, eine Fuß-Batterie der Brandenburgischen Artillerie-Brigade und zwei Pionier-Kompanien. Zwischen Schillkojen und Willkischken (heute Schepetowka und Nowokolchosnoje, RUS) an der Handels- und Post-Straße zwischen Königsberg und Riga bezogen die nach und nach eintreffenden Einheiten in den umliegenden Gemeinden die ihnen zugewiesenen Kantonierungen. Als Haupt-Quartiere wurden von Marschall MacDonald der Flecken Kindschen und von General Grawert und seinem Stellvertreter, Avantgarde-General Yorck, die nahen Güter Charlottenwalde und Karteningken belegt (heute Iskra, RUS [Schirokodolje und Kulikowo gelten seit 1945 als Wüstung]). Nach den Aufzeichnungen von Yorcks Adjutanten, des Majors Anton Friedrich Florian von Seydlitz, vereinigte sich Grawert bereits hier am 20. Juni mit der aus Insterburg ankommenden Abteilung Kleist. Mit der Abteilung erreichten auch die vier preussischen Train-Kompanien und vor allem die 140 voll beladenen Wagen der "Mehl- und Brot-Fuhrwesen-Colonne" die Truppe, die insbesondere vor den Provianteuren der Division "Grandjean" geschützt werden mussten. Noch auf preussischem Gebiet ließ Kleist, der bei Kripposen Quartier nahm (heute Bolschakowo, RUS), die Train-Kompanien bei jedem Halt zu Wagen-Burgen auffahren und mit geladenem Gewehr bewachen. Yorck befahl den preussischen Infanterie-Bataillonen im Karree zu biwakieren, die Husaren sicherten das Feld-Lager. Noch am selben Tag gingen zwei Eskadronen des 1ten (konsolidierten) Husaren-Regiments unter Major Dietrich Christoph Gotthold von Cosel, das General Grawert auf Befehl MacDonalds am 16. Juni als Avantgarde-Kavallerie an die französische Division abzugeben hatte, an die Memel und übernahmen auf dem westlichen Ufer den Vedetten-Dienst; am nächsten Tag überquerten zwei weitere Eskadronen des 3ten (konsolidierten) Husaren-Regiments unter Major Theodor Ernst von Eicke den Fluss und schirmten das östliche Ufer gegen hier vermutete russische Grenz-Patrouillen.
Unter der Deckung ost-preussischer Jäger und Füsiliere und unter Aufsicht des französischen Ingenieur-Generals Jacques David Martin de Campredon begannen am Morgen des 22. Juni rund 1.000 Pontoniere und Pioniere des X. Corps und nocheinmal rund 1.000 zwangs-verpflichtete Anwohner mit dem Bau von zwei rund 500 Meter langen Ponton-Brücken, deren Fertigstellung am frühen Abend des 23. Juni gemeldet wurde. Noch in der Nacht gingen die ersten Einheiten über die Memel; insgesamt vier preussische Bataillone und je eine Halb-Batterie zu Fuß und zu Pferd stellten mit den Pionieren die Wache am Brücken-Kopf.

"Russische Bauern mit Pferdefuhrwerken" Gemälde von Atanas Iwanovich Scheloumow, lt. »artnet« verkauft.
Auf russischer Seite blieb die Ansammlung feindlicher Truppen nicht unbemerkt. Die vorgeschobenen Posten und grenz-nahen Garnisonen, die den Aufmarsch der weit überlegenen Invasions-Armee bestenfalls nur hätten stören können, erhielten Befehl, sich zum nächst größeren Stand-Ort zurückzuziehen und dem Feind dabei sämtliche "Subsistenzmittel" zu entziehen. Bereits mit der Meldung des sich bei Tilsit sammelnden Feindes hatten Dragoner des Yamburgsker (14ten) Dragoner-Regiments, die Ende Juni die Wache im Grenz-Vorpostens bei Kalwen (heute Kalėnai, LIT, rund 20 km nord-östlich von Tilsit) stellten, den General-Gouverneur von Livland, General Magnus Gustav (Iwan Nikolajewitsch) von Essen, alarmiert. Anschließend setzten sie das Getreide-Lager von Kalwen in Brand und zogen in Richtung Riga ab. Der von Kalwen aufsteigende Rauch war jedoch Anlass genug, in der ganzen Region eine allgemeine Panik auszulösen; zu Tausenden flüchteten die Angehörigen des russischen Land-Adels, die Groß-Bauern und die begüterten Bürger nord-wärts in Richtung Kurland. Zurück blieben vagabundierende Tage-Löhner und entflohene Leib-Eigene, die umgehend über die verlassenen Ortschaften herfielen, die Höfe plünderten und weitere Feuer legten. Gerüchte, der Feind sei bereits vor Schaulen (auch Schawle, heute Šiauliai, LIT; gut 130 km nord-östlich von Tilsit) gesichtet worden, hatten zur Folge, dass Kosaken-Trupps in sämtlichen Ortschaften entlang der möglichen Marsch-Routen das Vieh zusammen- und in Richtung Riga trieben. Die von den Vieh-Herden verursachten Staub-Wolken wurden bspw. in Frauenburg (heute Saldus, LVA; knapp 100 km westlich von Riga) als feindliche Kavallerie gedeutet, woraufhin der russische Stadt-Kommandant Dragoner-Piquets entsandte, die die Brücken über die Schwete und Platone (heute Švėtė bzw. Platonis, LIT) zerstörten und die zwischen dem südlichen Rand der dichten Zvārdes-Wälder auf den Saldus-Höhen bis zur Silupe (Grenz-Fluss zwischen Litauen und Lettland) gelegenen Felder niederbrannten. Infolge der hier aufsteigenden und weithin sichtbaren Rauch-Wolken wurde wiederum die in Mitau (heute Jelgava, LVA) stehende Besatzung alarmiert, die während ihres Eil-Marsches beinahe mit den eigenen Dragonern aneinander geraten wäre.

Marschall Étienne Jacques Joseph Alexandre MacDonald (1765-1840) Gemälde von Jean-Baptiste Paulin Guérin in der »Châteaux de Versailles« (Paris, FRA).
Zwischen dem 23. und 25. Juni passierte die Masse des X. Corps gemäß den vom Kaiser am 16. Juni in Königsberg verfassten Befehle die Memel. Die Brigade des französischen Generals Gilbert Bachelu stellte die Arriere-Garde und übernahm dann bei Kydullen an der Memel (heute Kidule, LIT; etwa 50 km östlich von Tilsit) die Deckung der rechten Flanke des Corps. Den Schilderungen nach brach auch hier am 24. Juni, dem Tag als MacDonald über den Fluss ging, ein außergewöhnlich heftiges Unwetter los, das gut 36 Stunden anhielt und von vielen der einfachen, abergläubischen Soldaten als böses Vorzeichen gedeutet wurde. Nächste Etappe des Corps war Baubeln (heute Būbliškė, LIT), wo Marschall MacDonald am 25. Juni sein Haupt-Quartier nahm und am 26. Juni das gesamte "Corps auxiliaire prussien" (das preussische "Hülfs-Corps", das die 27te Division der "Grande Armée" bildete) antreten ließ. Nach einer gründlichen Inspektion ließ der Marschall den Tages-Befehl verlesen: "Preussen! Russland will den Krieg. Er bat bereits begonnen. Die große Armee, zu der ihr gehört, sieht Euch mit Vergnügen in ihren Reihen. Unsere erhabenen Monarchen vertrauen Eurer Tapferkeit. Sie richten ihre Blicke auf Euch, bekunden ihren Beifall und werden Euch belohnen!" Kurz darauf gab er den versammelten preussischen Generälen offiziell das Marsch-Ziel Riga bekannt. Nachdem die Vorposten am 27. Juni den Abzug der russischen Grenz-Posten bei Kalwen (heute Kalėnai, LIT; rund 20 km östlich von Tilsit) gemeldet hatten und die preussische Brücken-Wache bei Tilsit von einem Detachement französisch-bayerisch-polnischer Infanterie abgelöst worden war, erhielt Grawert den Marsch-Befehl.
Anmerkung
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Am 7. März wurden die preussischen Truppen-Stäbe offiziell über den am 24. Februar zu Paris abgeschlossenen Bündnis-Vertrag mit Frankreich informiert. Bereits am 12. März erhielten die Stäbe der sechs zu diesem Zeit-Punkt bestehenden "Provinzial-Brigaden" detaillierte Anweisungen zur Aufstellung eines "mobil zu machende Hülfsforps". Am 12. März erging eine von König Friedrich Wilhelm III. unterzeichnete A.K.O., die bekannt gab, "dass Se. Majestät auf den Wunsch des französischen Kaisers den Generallieutenant von Grawert zum ersten kommandierenden General des nach dem Allianztraktat zur französischen Armee zu stellenden Hülfskorps, den Generalmajor von York zum zweiten kommandierenden General, so wie ferner den Generalmajor von Massenbach zum besondern Befehlshaber der Kavallerie, und den Generalmajor von Kleist zum Befehlshaber der Infanterie dieses Korps ernennt."
Für das "Hülfskorps" hatte jede der sechs preussischen Brigaden drei Bataillone Infanterie (zusammen 14.000 Mann) -, vier Eskadronen Kavallerie (rund 4.000 Mann) sowie zusammen insgesamt 2.000 Mann Artillerie mit 60 Geschützen und drei Pionier-Kompanien zu mobilisieren.
Mit Datum vom 27. Juni erging für das Hilfs-Korps die folgende "Ordre de Bataille":
Avantgarde, General v. Yorck und Oberst v. Jeanneret:
- 4 Füsilier-Bataillone,
- 8 Schwadronen,
- 2 Batterien reitender Artillerie,
- 1 Ostpreussisches Jäger-Bataillon,
- 1 Pionier-Kompanie.
Gros, Generale v. Grawert, v. Massenbach, v. Kleist.
Brigade des Oberstlieutenants v. Horn:
- Feld-Regiments Nr. 3 (3 Bataillone des pommerschen und colbergschen Regiments)
- Feld-Regiments Nr. 4 (3 Bataillone des Leib-Infanterie-Regiments)
- 1 Batterie Fuß-Artillerie.
Brigade des Obersten v. Raumer:
- 4 Bataillone,
- 4½ Batterien Fuß-Artillerie.
Reserve:
- 4 Schwadronen,
- 1 Pionier-Kompanie,
- 1 Batterie reitender Artillerie.
Detachirungen:
- Füsilier-Bataillon von Borck nach dem Amte Ruß,
- Major v. Bülow (aggregiert dem Feld-Regiment Nr. 3) mit zwei Kompanien des Regiments Nr. 5 nach Labiau.
Anzumerken ist, dass das 1te Regiment Husaren (konsolidiert aus je zwei Eskadronen des 1sten und 2ten Leib-Husaren-Regiments) als Avantgarde-Kavallerie der 27ten Infanterie-Division (Grandjean) beigegeben wurde; in der "Grande Armée" das 2te Regiment Husaren (konsolidiert aus je zwei Eskadronen des Pommerschen Nr. 5 und des Brandenburgischen Nr. 3) im I. Reserve-Kavallerie-Corps und hier in der 1ten (leichten) Kavallerie-Division Brüyeres -, das konsolidierte Ulanen-Regiment (kombiniert aus je zwei Eskadronen des Schlesischen Nr. 2 und des Brandenburgischen Nr. 3) im II. Reserve-Kavallerie-Corps und hier in der 2ten (leichten) Kavallerie-Division Sébastiani standen.
Die beiden Dragoner-Regimenter (kombiniert aus je zwei Eskadronen des 1ten und 2ten West-Preussischen, des Litauischen und Brandenburgischen) und das 3te Husaren-Regiment (1tes und 2tes Schlesisches) blieben beim preussischen Kontingent.

Karte der Gouvernements Livland, Kurland und Kowno (um 1856). Gezeichnet von Friedrich von Stülpnagel. (Bildquelle: ► »Sammlung der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen« (GER)).
Am Sonntag, dem 28. Juni, geht das X. Corps mit insgesamt 26.000 Infanteristen in 36 Bataillonen, 3.000 Kavalleristen in 16 Eskadronen und 2.000 Mann Artillerie mit 60 Geschützen bei Tauroggen (heute Tauragė, LIT [zwischen 1691 und 1793 brandenburgisch-preussische Enklave]) über die Staats-Grenze zwischen Preussen und Russland und erreicht am 1. Juli Niemeksen (heute Nemakščiai, LIT), von wo aus die 7te Division um die Kloster-Stadt Rossien (auch Rosiena oder Rossieny, heute Raseiniai, LIT; etwa 20 km süd-östlich von Niemeksen) an sämtlichen Ausfall-Straßen Biwaks errichtet und sich hier wieder mit der Brigade Bachelu vereinigt, die bei Georgenburg (heute Jurbarkas, LIT) über die Memel gegangen war. Das preussische Hilfs-Korps bezieht auf einem Höhen-Kamm bei Niemeksen an der Land-Straße von Tauroggen über Schaulen (auch Szawle, heute Šiauliai, LIT) nach Riga ein Lager, zu dessen Befestigung die Infanterie die überwiegend im Blockhaus-Stil errichteten Bauern-Hütten der Umgebung zerlegt. Zur Verwunderung der Husaren der Vedetten-Kette und Yorks Vorhut-Truppen sind sämtliche russischen Grenz-Posten verlassen, das Grenz-Gebiet ungeschützt, die Ortschaften beräumt und bereits teilweise geplündert. Nur zwei Tage zuvor war Rossien noch das vorgeschobene Haupt-Quartier des zwischen Telschen und Kedahnen (auch Telschi, heute Telšiai und Kėdainiai, beides LIT) garnisonierten 1ten (russischen) Infanterie-Korps unter General Ludwig Adolf Peter zu Sayn-Wittgenstein, der – anstatt wie vorgesehen, den Weg von der Düna nach St. Petersburg zu decken – sich gemäß des Befehls des Armee-Oberkommandos mit seinen drei Divisionen in Richtung Vilkomir (heute Ukmergė, LIT) zurückzieht und somit versucht, sich der 1ten West-Armee Barclay de Tollys anzuschließen. Bis zum Ende der ersten Juli-Woche liefern sich die preussischen Husaren erst einige Geplänkel mit der von General Jakow Petrowitsch Kulnew kommandierten Nachhut Wittgensteins; bald darauf mit den aus Riga kommenden Streif-Trupps des russischen Generals und Militär-Gouverneurs Magnus Gustav von Essen.
Um beide russischen Generäle über Marsch-Richtung und Angriffs-Ziel des X. Corps im Unklaren zu lassen -, auch um Überraschungen seitens der verstreuten und unübersichtlich operierenden russischen Besatzungen auszuschließen, werden dem Verband drei kleinere Abteilungen vorausgesandt, die in drei Richtungen strategisch wichtige Positionen besetzen: Gemäß eines am 3. Juli erteilten Befehls rückt General Kleist mit je zwei Eskadronen des 3ten (preussischen konsolidierten) Husaren-Regiments und des Brandenburgischen Dragoner-Regiments Nr. 2, den Füsilier-Bataillonen Nr. 2, 5 und 6 und dem ost-preussischen Jäger-Bataillon, einer reitenden und einer halben marschierenden Batterie bis zur Kreuzung von Schaulen (auch Schawle, heute Šiauliai, LIT; ca. 70 km nord-östlich von Niemeksen) vor, von der aus die nord-wärts führende Route über Mitau (auch Mitava, heute Jelgava, LVA) direkt nach Riga führt. Der Schaulen in Ost-West-Richtung kreuzende Fahr-Weg verbindet die Dom- und Provinz-Hauptstadt Telschen (auch Telczew, heute Telšiai, LIT; ca. 70 km westlich von Schaulen) mit Ponewiesch (auch Poniewiez, Poniewetz oder Ponewesh, heute Panevėžys, LIT; ca. 70 km östlich von Schaulen), von wo aus der Weg direkt nach Wilna führt. Schaulen wird am 6. Juli erreicht; auch Telschen ist bereits am Morgen des 6. Juli von einem gemischten Detachement von 60 Dragonern und Husaren -, am 7. Juli dann von den Eskadronen der 3ten Husaren unter Oberst Ferdinand Wilhelm von Jeanneret sowie den von Oberst-Leutnant Georg Ludwig Alexander von Wahlen-Jürgaß geführten 2ten Dragonern und den Füsilieren des 1ten Pommerschen Infanterie-Regiments Nr. 2 besetzt. Gegen die Häfen von Polangen und Memel an der Mündung der Dange (heute Palanga und Klaipėda, beides LIT) werden Vorposten gestellt. Am selben Morgen gelingt es Oberst Friedrich Heinrich Karl von Hünerbein mit einem Detachement der Avantgarde-Kavallerie der Division "Grandjean" – Husaren des von Major von Cosel kommandierten 1ten (konsolidierten) Husaren-Regiments – nach einem Schuss-Wechsel mit einem Kosaken-Trupp in Ponewiesch einzudringen, dort die gerade zum Abzug angetretene Garnison zu überwältigen und die in der Stadt befindlichen Poviant-Lager vor der Vernichtung zu retten. Die Husaren können die russische Grenz-Kompanie von 160 Mann samt 4 Offizieren (lt. Seydlitz rund 100 unbewaffnete Invaliden) kampflos gefangen-nehmen, erbeuten eine Kriegs-Kasse mit etwa 9.000 Silber-Rubel und über 30.000 Zentner Mehl, womit die Brot-Versorgung der rund 27.000 Mann des X. Corps für die nächsten vier Monate gesichert ist. Gegen Mittag trifft General Étienne Pierre Sylvestre Ricard mit der Avantgarde-Brigade der 7ten Infanterie-Division – vier Füsilier-Bataillone des 5ten polnischen und zwei Bataillone des 13ten bayerischen Infanterie-Regiments – in Ponewiesch ein, übernimmt die Ortschaft und stellt die Verbindung zum II. Corps unter Marschall Oudinot her, der bei Vilkomir (heute Ukmergė, LIT) steht und dem 1ten (russischen) Infanterie-Korps Wittgensteins mit einem Abstand von einem knappen Tages-Marsch folgt.
Am 8. Juli erteilt Marschall MacDonald seinem General Grandjean den Befehl, in den frühen Morgen-Stunden des nächsten Tages mit der 2ten Brigade seiner Division samt einer halben Batterie zu Pferd, einer Sappeur-Kompanie und den verbliebenen Eskadronen des 1ten (konsolidierten) preussischen Husaren-Regiments in Richtung Ponewiesch abzurücken, um von dort aus und zusammen mit General Ricards Avantgarde-Brigade nach Möglichkeit das Terrain im Norden bis Mitau (heute Jelgava, LVA) -, im Osten bis Jakobstadt (heute Jēkabpils, LVA) und im Süden bis Vilkomir (heute Ukmergė, LIT) zu klären; sich Kenntnis über die Weg-Verhältnisse und Proviantierungs-Möglichkeiten zu verschaffen; Standorte, Stellungen und Stärken des Gegners auszumachen und eine Vorposten- und "Korrespondenz"-Kette einzurichten.

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"1tes (konsolidiertes) Husaren-Regiment" Husaren vom 1sten und 2ten Leib-Husaren-Regiment (stellten 1812 die 1ste und 2te bzw. die 3te und 4te Eskadron des 1ten (konsolidierten) Husaren-Regiments). Aquarellierte Zeichnung(en) von Herbert Knötel (der Jüngere) für »Napoleonic Uniforms« von John R. Elting (Macmillan Publishing Company; 1993). Bildquelle: ► eigene Sammlung.
Die zwischen Niemeksen und Rossien verbliebenen Einheiten und Verbände des X. Corps können gut eine Woche nahezu ungestört biwakieren. Am 10. Juli treffen eine Reihe von "Ordres de mouvements" ein, die Napoleon im kaiserlichen Haupt-Quartier in Wilna verfasst hatte. Marschall MacDonald behält zwar seine Direktive, mit den insgesamt 12.800 Mann der aus fünf Infanterie-Regimentern bzw. mit der aus 16 Bataillonen bestehenden 7ten Infanterie-Division (Grandjean) vom Stand-Ort Rossien weiter in Richtung Nord-Osten auf Riga vorzurücken, doch anstatt direkt über Schaulen zu marschieren, sollte das Gros des X. Corps erst in Richtung der Düna stoßen. Primäre Aufgabe ist es, während des Marsches jederzeit mit einem Teil-Kontingent nach Süd-Osten abschwenken -, zusammen mit dem II. Corps (Oudinot) den Rückzug Wittgensteins flankieren und das 1te (russische) Infanterie-Korps nach Möglichkeit abschneiden oder zerschlagen zu können. Als sekundäres Ziel benennt der Kaiser die Aufgabe, den befestigten Hafen von Riga zu übernehmen und gegen mögliche Landungen russisch-alliierter Marine-Truppen zu sichern, anschließend auf die etwa 250 Kilometer entfernte Etappe Jakobstadt (heute Jēkabpils, LVA) zu marschieren und dort in Bereit-Stellung zu gehen: Von hier aus sind es entweder über die Handels-Straße von Riga rund 100 Kilometer zur Festung Dünaburg oder über die alte Post- und Heer-Straße nach Osten etwa 500 Kilometer hinauf nach St. Petersburg, das der Marschall zu beobachten hat.
Grund für Napoleons plötzlichen Befehl zum Marsch auf St. Petersburg – und damit der dritten größeren Änderung seines Feldzugs-Planes – ist seine Ungewissheit: Bei allem strategischen Genie ist es dem Kaiser unmöglich, vorherzusehen, ob Zar Alexander den zu erwartenden Gegen-Angriff von seiner Hauptstadt Moskau oder aus seiner Residenz St. Petersburg organisieren wird. Auch steht zu befürchten, dass sich der russische General Barclay de Tolly mit der 1ten West-Armee in Richtung der Festung Dünaburg absetzen und sich in der seit 1810 im Ausbau zu einer weit gestreckten Festung befindlichen Anlage verschanzen könnte, was eine längere Belagerung und damit die Bindung größerer Kontingente der "Grande Armée" zur Folge hätte. Die noch beweglichen Verbände der russischen Armee würden die Initiative wieder an sich reißen und die weit verteilten operativen Verbände Napoleons in ernste Schwierigkeiten bringen.
Aber auch General Grawert, dessen Marsch-Ziel Riga zwar erhalten geblieben war, muss umdisponieren: Napoleon hatte die Nachricht bekommen, dass Russland, Britannien und Schweden im schwedischen Örebro weitestgehend einig sind, die unter- und gegeneinander währenden Konflikte zu beenden und kurz vor dem Abschluss eines gegenseitigen Militär-Bündnisses stehen. Mit dieser Nachricht bestätigt sich zudem das Gerücht, dass der schwedische Prinz-Regent, der ehemalige französische Marschall Jean Baptiste Bernadotte, bereits am 5. April 1812 mit Russland im geheimen Vertrag von St. Petersburg eine Allianz eingegangen ist. Und für Napoleon ist es ein naheliegendes Szenario, dass die Alliierten im Ergebnis dieser gefährlichen Entwicklungen nicht nur ein gemeinsames Expeditions-Korps zusammenbringen, das im Rahmen einer maritimen Operation an der kurischen Ostsee-Küste landen könnte, sondern auch in kürzester Zeit seine nur widerwillig agierenden preussischen Verbündeten aufwiegeln und zum Fronten-Wechsel motivieren würden.
Obwohl König Friedrich Wilhelm III. im Frühjahr 1812 die Empfehlungen seines Staatskanzlers Karl August von Hardenberg, sich Russland anschließen, vehemment abgelehnt und auch seinen inzwischen mehrheitlich patriotisch gesinnten Offizieren im Fall der Desertation offen mit unehrenhafter Entlassung, Festungs-Arrest und Verlust von Titel und Besitz gedroht hatte (Hunderte nahmen daraufhin im Frühling 1812 ihren Abschied, wechselten über Hannover in die "Kings German Legion"; über 300 traten wie Major Carl von Clausewitz direkt in russische Dienste), sieht Napoleon in dem wankel-mütigen preussischen Monarchen den größten Unsicherheits-Faktor in der Runde seiner Vasallen. Zwar hat der Kaiser in den preussischen Festungen und auf sämtlichen militärisch relevaten Schlüssel-Positionen vorausschauend Besatzungs-Truppen in einer Stärke von etwa 35 bis 40.000 Mann zurückgelassen, die der nicht-mobilisierten Hälfte der Preussen im Jahr 1807 zugestandenen 42.000 Mann-Armee zahlen-mäßig leicht überlegen sind, doch werden diese Garnisonen überwiegend von Rekruten oder Invaliden gestellt, die bestenfalls bzw. im Fall des Falles nur hinreichenden Widerstand leisten könnten. Zur Abwehr britischer Truppen würden sie nicht genügen. Aus welchen Gründen Napoleon nun jedoch die nach seiner Einschätzung unzuverlässigen Preussen dazu erwählt, die eigenen Küsten vor der Landung potentieller Verbündeter zu sichern, ist ein weiterer Punkt aus der Liste fragwürdiger Entscheidungen des Kaisers. Naheliegend ist es, dass Yorck – nachdem am 30. Mai auch die Festung und Zitadelle von Pillau geräumt und den Franzosen überlassen werden musste – selbst das Kommando an sich zieht, um einerseits zu verhinden, dass die ost-preussischen Häfen und vor allem die strategisch wichtige Kurische Nehrung unter französische Kontrolle geraten, andererseits gilt es, die baltischen See-Häfen für Schiffe offenhalten zu können, die im Fall des Fronten-Wechsels nicht mehr unter die auch hier geltende Kontinental-Sperre fallen bzw. als feindliche See-Macht gelten würden.
Der von Napoleon protegierte General Grawert erhält den Befehl, etwa 7.000 Mann – über ein Drittel des gesamten preussischen "Hülfs-Corps" – abzukommandieren und nach Memel umzulenken, um dort die Schanzen und Redouten auf der Nehrung des Kurische Haffs instand zu setzen und zu decken. Mit der Ausführung beauftragt Grawert seinen Stellvertreter, den populären und gleichso unbequemen General Yorck, der bereits 1806 als Kommandeur der 1ten leichten Brigade -, bei der Deckung der sich von Jena und Auerstedt zurückziehenden Armee und in dem von ihm erfolgreich geführten Klein-Krieg in der Nachhut Blüchers die Aufmerksamkeit Napoleons auf sich gezogen hatte. Und indem der konservative und "alt-preussische" General Grawert dem unkonventionellen, couragierten und unbestechlichen Militär-Reformer und darüber hinaus in der Truppe äußerst beliebten General Yorck das Kommando überträgt, entledigt er sich nicht nur seines kompetentesten Kritikers und Konkurrenten, sondern schiebt dem unbequemen General auch die Verantwortung zu, mit seinem Kopf und seiner Offiziers-Ehre für die Sicherheit der baltisch-preussischen Hafen-Stadt -, der rückwärtigen Verbindungen der "Grande Armée" und dem Treue-Schwur des Königs haften zu müssen.
Mit dem 2ten Infanterie-Regiment, den Füsilier-Bataillonen Nr. 1, 3 und 4 der "Mobilen 1ten kombinierten Infanterie-Brigade" unter Oberst Hans Karl Friedrich Franz von Below (bereits mit dem Füsilier-Bataillon Nr. 7, einer Pionier-Kompanie, vier Kanonen und zwei Haubitzen auf der Nehrung), zwei Eskadronen der 2ten Dragoner unter Oberst-Leutnant von Jürgaß, einer weiteren Pionier-Kompanie und den Wagen der Feld-Bäckerei unter Hauptmann Buddenbrock bricht Yorck am 12. Juli in Richtung Memel (heute Klaipėda, LIT; ca. 150 km nord-östlich von Rossien) auf. Etappen der Haupt-Abteilung sind Weidatony (12. Juli; heute wahrscheinlich Viduklė), Wornie (13. Juli; heute Varniai), Twer (14. Juli; Tverai) und Redau (15. Juli; auch Retow, heute Rietavas). Zwischen dem 15. und 16. Juli steht die Abteilung zwischen den Gütern Klipsten und Stimbrai (später Petraschen, heute Jonušai bzw. Stimbry) direkt vor der Hafen-Stadt Memel an der nördlichsten Grenze Ost-Preussens. Von hier aus zieht noch am selben Tag ein Detachement unter Oberst-Leutnant Jürgaß weiter in Richtung Kurland: Seydlitz nennt einen Marsch von Baugsten (16. Juli; heute Baukštininkai) weiter über das Gut Rühow nach Paplaken (20. Juli; heute Paplaka, LVA) bis Paddern (21. Juli; heute Padures, LVA). Das Kommando hat die Aufgabe, die nord-östliche Küste Kurlands als auch das dicht bewaldete Ufer der Windau (Venta) bis zu ihrer Quelle nahe Schaulen (Šiauliai) zu bestreifen sowie die bei Mitau (Jelgava) stehende russische Garnison zu beobachten.
Dass am 5. Juli ein britisches Geschwader unter Kommando von Admiral Thomas Byam Martin in die Ostsee eingedrungen war und Kurs auf die Baltische See genommen hat, wurde den preussischen Generälen von Napoleon wohl "aus gutem Grund" verschwiegen.
Mit Tages-Anbruch des 11. Juli erteilen MacDonald und Grawert den zwischen Niemeksen und Rossien lagernden Verbänden des X. Corps den Befehl zum Abmarsch. Erste Etappe war Grinkischken (heute Grinkiškis, LIT; etwa 40 km nord-östlich von Rossien), in dessen Groß-Raum die Truppen am Abend ihre Biwaks errichten. Die weitere Marsch-Route führt über Bierzelli (12. Juli; heute wahrscheinlich Beisagoli, LIT), Schadowo (oder Szadow, 13. Juli; heute Šeduva, LIT), Smilgi (auch Smilgen, 14. Juli; heute Smilgiai, LIT), Njewjescha (15. Juli; Wüstung) und Puscheloten (auch Puszolaty, 16. Juli; heute Pušalotas, LIT). General Kleist, der mit seiner Abteilung am 16. Juli von seinem Vorposten bei Schaulen (auch Schawle, heute Šiauliai, LIT) in Richtung Osten aufgebrochen war, hat am Abend Janischkele (auch Janiszkele, heute Joniškėlis; LIT) erreicht, sich damit vor die Spitze des X. Corps bei Puscheloten gesetzt und damit wieder die Avant-Garde übernommen. Gefolgt vom Haupt-Kontingent, geht Kleist am 17. Juli von Janischkele weiter nach Konstantinow (auch Waschken, heute Vaškai, LIT) und erreicht mit den Füsilier-Bataillonen Nr. 2 und 6, dem ost-preussischen Jäger-Bataillon, zwei Eskadronen Husaren und einer reitenden Batterie am 18. Juli Brunowiszky (heute Brunavišķi, LVU).
Auch General Ricard, der am 5. Juli mit der von ihm kommandierten Brigade bei Ponewiesch (heute Panevėžys, LIT) einen Vorposten bezogen hatte und am 15. Juli von dort in Richtung Puscheloten aufgebrochen war, kann sich am 16. Juli mit General Grandjean und dem Gros der 7ten Infanterie-Division vereinen. Oberst Hünerbein, der mit seinem Detachement des 1ten (konsolidierten) preussischen Husaren-Regiments nach wie vor die Avantgarde-Kavallerie Ricards stellt, übernimmt die Deckung der rechten Flanke des Corps: Seine Husaren stoßen über Poswol bis auf Salaty vor (heute Pasvalys bzw. Saločiai, beides LIT), zerschlagen am 12. Juli im nächtlichen Angriff einen russischen Vorposten in Schönberg (heute Skaistkalne, LVA), gehen dort über die Mēmele (auch Nemunėlis) und erreichen am 18. Juli Szerausken (auch Sczerrauxt, heute Ceraukste, LVA), wo sie die Müša passieren und wieder auf die Division "Grandjean" treffen.
Vor Bauske (heute Bauska, LVA), am Zusammenfluss von Müša und Mēmele zur Kurländischen Aa (heute Lielupe), wird den Generälen Kleist und Ricard ein ganzer Trupp Kosaken vorgeführt, den Leutnant von Dargitz von den 1ten Dragonern nach einem heftigen Gefecht am Fluss-Ufer (andere Quellen benennen eine Spelunke) gefangen genommen hatte. Von ihnen erfahren die beiden Avantgarde-Kommandeure, dass der russische General Friedrich (Fedor Fedorovich) von Löwis mit einem größeren Verband in Divisions-Stärke im Anmarsch ist und bereits bei Eckau (heute Iecava, LVA; etwa 20 km nördlich von Bauske) Stellung genommen hat. Ausgesandte Husaren bestätigen die Schilderungen: Beidseits der Brücke über die Eckau, kurz vor der gleichnamigen Ortschaft (heute Iecava, LVA), hat General Löwis mit etwa 5.700 Mann eine befestigte Verteidigungs-Linie errichtet, die dem X. Corps den weiteren Weg nach Riga versperrt. In Bauske hat ein vorgeschobener Pulk Kosaken ein Beobachtungs-Posten bezogen.

"Kosaken im Hinterhalt" Gemälde von Ludwik Gędłek, lt. »Artinfo« in einer Werksammlung.
Während des noch am Abend des 18. Juli einberufenen Kriegs-Rates überbringt ein Kurier aus dem Haupt-Quartier in Wilna neue Befehle des Kaisers: Marschall MacDonald erhält die Weisung, umgehend ost-wärts in Richtung der Düna nach Friedrichstadt (heute Jaunjelgava, LVA) abzuschwenken, weiter nach Jakobstadt (heute Jēkabpils, LVA) zu marschieren und sich dort bereitzuhalten, die Garnison der Festung Dünaburg von Riga abzuschneiden oder das II. Corps (Oudinot) gegen das 1te (russische) Infanterie-Korps unter General Wittgenstein zu unterstützen und den weiteren Vormarsch der "Grande Armée" auf deren linken Flügel zu decken. Unter Beachtung der kaiserlichen Aufträge kommen Marschall MacDonald und General Grawert überein, die russischen Stellungen bei Eckau am nächsten Morgen mit allen zur Verfügung stehenden Kräften anzugreifen...
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Fortsetzung: Gefechte an der Nord-Flanke…
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Erste Gefechte |
Sa., 18. Juli, bis Fr., 31. Juli: Erste Gefechte an der Nord-Flanke |
Auf dem Marsch nach Riga hatten preussische Husaren und Dragoner, die den aus Richtung Brunowiszky und Szerausken (heute Brunavišķi bzw. Ceraukste, beides LVA) kommenden Avant-Garden des X. Corps (MacDonald) vorausgingen, am 18. Juli vor Bauske (heute Bauska, LVA) einige Kosaken-Patrouillen ausgemacht, die die Ufer am Zusammenfluss von Müša und Mēmele (auch Nemunėlis) zur Kurländischen Aa (heute Lielupe) bestreiften. Von einem Kosaken-Trupp, den Leutnant von Dargitz von den 1ten Dragonern hatte gefangen nehmen können, brachte man in Erfahrung, dass der in und um Bauske versammelte Pulk nur die Vorhut eines größeren Verbandes sei, den der russische General Friedrich von Löwis (russ.: Fedor Fedorovich Levizov) bei Eckau (heute Iecava, LVA; etwa 20 km nördlich von Bauske) positionieren würde. Nachdem ausgesandte Husaren die Schilderungen bestätigt und berichtet hatten, dass ein etwa divisions-starker Verband bei Eckau (heute Iecava, LVA), beidseits der Brücke über den gleichnamigen Fluss, eine Verteidigungs-Linie befestigte, war der von Marschall MacDonald noch am 18. Juli versammelte General-Stab – Charles Louis Dieudonné Grandjean, Kommandeur der 7ten Infanterie-Division, und Julius August Reinhold von Grawert, Kommandeur des preussischen "Hülfs-Corps", sowie die Kommandeure der beiden Avantgarde-Abteilungen, der preussische General Friedrich von Kleist und der französische General Étienne Pierre Sylvestre Ricard – zur Entscheidung gekommen, am kommenden Tag in drei Kolonnen und mit insgesamt 20 Geschützen gegen die russischen Stellungen vorzugehen.

Karte von Liv-, Est- und Kurland (um 1898). Verlag N. Kymmel – Riga, 1898. Herausgegeben von Dr. Henry Lange. Lithographie von W. Greve im Königlich-Preussischen Lithografischen Institut, Berlin. Bildquelle: ► »Regio« (Geo-Kartografische Daten-Gesellschaft, Tartu, EST)
General Magnus Gustav (Iwan Nikolajewitsch) von Essen – General-Gouverneur von Livland und Militär-Gouverneur von Riga – hat General Löwis den Befehl erteilt, den Anmarsch des X. Corps mit allen Mitteln zu stören und nach Möglichkeit solange aufzuhalten, bis die aus Kurland nahenden bzw. erwarteten Proviant- und Fourage-Kolonnen (u.a. die im Umland zusammengetriebenen Vieh-Herden) eingetroffen und die Ende Juni begonnenen Vorbereitungen zur Verteidigung der strategisch wichtigen und entsprechend stark befestigten Hafen-Stadt abgeschlossen sind. Zu diesem Zweck hat der Gouverneur seinem General acht Infanterie-Bataillone, elf Kavallerie-Schwadronen und zehn Geschütze unterstellt, die die direkt nach Wilna führende Heer-Straße etwa 40 Kilometer vor "Vecriga" (die von Schloss und Alt-Stadt geprägte Festung Riga) verlegen. Die insgesamt rund 5.700 Mann – knapp ein Drittel des General Essen in Riga gegebenen Korps – waren nach russischen Quellen zum größten Teil unerfahrene Rekruten, die taktische Manöver nur langsam und unbeholfen durchführen können, eiligst von den Feldern oder aus ihren Werkstätten geholte und mobilisierte Reservisten und einige Kompanien "Jäger" (wobei in der kaiserlich-russischen Armee neben den regulären Jäger-Regimentern auch sämtliche Freiwilligen, die Waffen und Uniform weitestgehend selbst finanzieren konnten, als Jäger bezeichnet wurden und in Elite-Einheiten zu Fuß oder zu Pferd zum Einsatz kamen).
General Friedrich von Kleist, der den rechten Flügel der drei Angriffs-Kolonnen stellt, bricht am frühen Morgen des 19. Juli das Biwak nahe Brunowiszky (heute Brunavišķi, LVU) ab und marschiert mit der ihm unterstehenden Avantgarde-Abteilung (das 2te und 4te Füsilier- und das ost-preussische Jäger-Bataillon, zwei Husaren-Eskadronen und eine reitenden Batterie) den Beschreibungen nach im Eil-Marsch über die von Birsen über Schönberg (heute Biržai, LIT; bzw. Skaistkalne, LVA) nach Riga führenden Land-Straße. Nahe Draken (auch Drakken; Hof bei Neugut, heute Gemeinde Vecumnieki, LVA) schwenkt die Truppe ab und nähert sich Eckau aus östlicher Richtung.
Auch Oberst Eugen von Raumer, der mit seiner 3ten Infanterie-Brigade (drei Bataillone Infanterie, vier Eskadronen Kavallerie und einer halben Batterie; zusammen über 3.000 Mann) den linken Flügel kommandiert, hat den Eil-Marsch befohlen. Dem Lauf der Aa folgend, marschiert seine Abteilung über Stalgen gegen die kurländische Provinz-Hauptstadt Mitau (heute Staļģene bzw. Jelgava, LVA; etwa 40 km nor-östlich von Bauska). Er hat die Aufgabe, nach der Einnahme der gut befestigten jedoch nur von Reservisten und einer Bürger-Miliz gedeckten Stadt aus westlicher Richtung auf Eckau vorzugehen.
General Julius von Grawert hat das Kommando über die etwa 4.500 Mann der mittleren Kolonne. Er marschiert mit fünf Bataillonen Infanterie und den Batterien der Fuß-Artillerie am rechten Ufer der Müša direkt auf Bauske. Ihm voran Oberst Friedrich Erhard von Röder, der den Befehl hat, die festgestellten Kosaken mit vier Eskadronen Dragoner und einer weiteren Halb-Batterie aus der Stadt zu drängen. Im Ergebnis der hier geführten Scharmützel setzen die Kosaken die Brücken in Brand und räumen gegen Mittag die Stadt. Ein Offizier und rund 20 Mann der russischen Nachhut geraten in Gefangenschaft, etwa 80 werden schwer verwundet oder tot zurückgelassen. Während Grawert mit der Infanterie Bauske besetzt und die Pionier-Kompanie westlich der Stadt kurzerhand eine Floß-Brücke über die Kurländische Aa (heute Lielupe) legt, nehmen die Dragoner die Verfolgung der Kosaken auf, die sich beim "Rothen Kruge" – einem Gast-Hof etwa auf halber Strecke zwischen Bauske und Mitau – mit einer aus Richtung Eckau kommenden Ulanen-Einheit vereinigen, der vier zur Rück-Eroberung von Bauske Infanterie-Bataillone folgen. Oberst Röder läßt seine Halb-Batterie in Stellung gehen und seine – durch vier eiligst nachgezogene Dragoner-Eskadronen deutlich verstärkte – Kavallerie zur "Attaque en muraille" aufreiten. Mit der Ankunft der zweiten Halb-Batterie und dem Anrücken der preussischen Infanterie, die zwischen-zeitlich die Aa passiert hat, leitet die russische Brigade den Rückzug auf Eckau ein.

Ohne Titel (Die preussische Armee im Feld) Gemälde von Friedrich Kaiser, im Mai 2021 im »Düsseldorfer Auktionshaus« versteigert.
Bei Eckau hat der russische General Löwis eine sehr vorteilhafte Stellung bezogen: Mit Haupt-Quartier in der auf dem linken Ufer der Eckau gelegenen "Burg Eckau" – tatsächlich ein mauer-umfasster Guts-Hof mit dem aus Stein gemauerten, zwei-stöckigen Herren-Haus des Kavallerie-Generals Peter Petrowitsch von der Pahlen (heute nur noch einige Fundament-Steine) –, mit Blick auf eine so gedeckte Brücke hinüber zum eigentlichen Dorf Eckau bzw. zur Straße nach Friedrichstadt (heute Jaunjelgava, LVA), haben die russischen Infanterie-Bataillone hinter dem rechten Ufer einer ausholenden Biegung des Flusses bzw. am westlichen, südlichen und östlichen Rand einer halbinsel-artigen Land-Zunge hinter Hecken und Garten-Mauern Deckung gefunden. Die Artillerie ist auf einer kleinen Anhöhe hinter Eckau in Stellung gegangen, die von einer Kirche samt zugehörigen Pfarr-Haus bestimmt wird. Eine mannshohe Feldstein-Mauer umgibt den gesamten Kirch-Platz und den ebenfalls hier angelegten Friedhof. Die hier vorstehenden Obst-Bäume, die das Sicht- und damit das Schuss-Feld der Artillerie beeinträchtigten, sind am Vortag abgeholzt worden; hingegen blieben die Bäume auf dem Kirch-Platz zur Tarnung der Geschütze verschont. Beidseits der Wege hinter der Anhöhe steht die russische Kavallerie-Reserve in Bereitschaft.
Am frühen Abend dröhnen die ersten Kanonen-Schüsse: Im Schutz des hügeligen, dicht bewaldeten Geländes hat die von General Kleist geführte Abteilung gegen 18:00 Uhr die Straßen-Kreuzung vor Lambertshof erreicht (auch Balka, heute Balticovo, etwa 3 km nord-östlich vom Iecava). Das überraschende Auftauchen der Preussen an der östlichen Flanke und im Rücken der russischen Stellungen und der Anblick der schnell heranrückenden preussischen Füsiliere verunsichert die Schützen der beiden hier platzierten Infanterie-Bataillone derart, dass die Soldaten noch weit außerhalb der Reichweite ihrer Musketen das Feuer eröffnen. General Kleist erteilt daraufhin seiner Artillerie den Feuer-Befehl, die nach einigen Schüssen das Mauer-Werk gesprengt -, die Büsche mit Kartätschen zerfetzt und ... die russischen Schützen in die nächst-liegenden Häuser gejagt hat. Zwar leisten die russischen Soldaten aus ihren vorteilhaften Deckungen heftigen Widerstand, doch sind die Schüsse schlecht gezielt; und die preussischen Füsiliere erobern die hier gelegenen Gehöfte Haus für Haus mit dem Bajonett.

19. Juli 1812: "Gefecht bei Eckau" (heute Iecava, LVA). Colorierter Stich von August Friedrich Andreas Campe; Blatt 21 aus einer über 100-teiligen Serie in der Sammlung der »Brown University Library« (Rhode Island, USA).
Gegen 18:30 Uhr verlagern sich die Gefechte zunehmend auf den süd-westlichen Stadt-Rand von Eckau, wo General Grawert, von Bauske kommend, frontal auf die russischen Stellungen vorgehen lässt. Der hier aus dem Marsch begonnene Sturm-Angriff muss jedoch angesichts der aufreitenden russischen Dragoner wieder abgebrochen werden; salven-schießend zieht sich die preussische Infanterie hinter die eigene berittene Artillerie unter Major von Viebig zurück, der die Attacke mit Kartätschen-Feuer abwehren kann. Den sofort nachsetzenden preussischen Dragonern gelingt es, die russische Kavallerie wieder in die Stadt zurückzutreiben, doch können die Reiter gegen die verschanzte Infanterie nichts ausrichten und geraten darüber hinaus nun ihrerseits unter Beschuss der auf der Kirchhof-Anhöhe platzierten Artillerie.
Während General Grawert den beiden Batterien seiner zwischenzeitlich angekommenen Artillerie zu Fuß den Feuer-Befehl auf die Stellungen der russischen Infanterie am Dorf-Rand erteilt und jedes auf der Kirchhof-Anhöhe ausgemachte Geschütz belegen lässt -, Oberst Röder mit der Kavallerie an der linken Flanke gegenüber der "Burg Eckau" aufreitet und die Füsiliere an der rechten Flanke antreten -, die Musketier-Bataillone beidseits der Straße nach Riga Aufstellung nehmen und Vorbereitungen für den nächsten Angriff treffen, kann General Kleist mit seinen Füsilier-Bataillonen in das östliche Eckau einbrechen und die russischen Schützen-Bataillone bis vor die Anhöhe des Fried-Hofes zurückdrängen. Laut den russischen Schilderungen gelingt es den preussischen Füsilieren im Verlauf der hier geführten Gefechte, dem 2ten Bataillon des Revaler Infanterie-Regiments eine Fahne abzunehmen (diese Trophäe – die einzige, die Russland im Krieg von 1812 verloren hatte – wurde nach der Schlacht vom 1ten preussischen Dragoner-Regiment übernommen und nach Königsberg überführt; 1834 dann von Zar Nikolaus I. in Berlin wiederentdeckt und gegen die 1759 in der Schlacht bei Kunersdorf vom 24ten preussischen Musketier-Regiment "Schwerin" an die Russen verlorene Fahne ausgetauscht).
Gegen 20:00 Uhr haben die russischen Schützen die zerschossenen Mauern am süd-westlichen, südlichen und süd-östlichen Stadt-Rand aufgegeben und in den dahinter liegenden Gehöften eine zweite Verteidigungs-Linie bezogen. Noch einmal versucht General Löwis, seine Truppen zu sammeln und gegen die anrückenden Preussen zu führen, nur war der Gegen-Angriff, der auf eine Umgehung der linken (westlichen) Flanke der preussischen Aufstellung und damit der hier stehenden Kavallerie setzt, unzureichend vorbereitet, verläuft von Beginn an ungeordnet und wird nur zaghaft vorangetragen. Nach einigen Salven ziehen sich die Russen – dicht gefolgt von der preussischen Infanterie – wieder zurück. Die Preussen können jedoch nur bis an das südliche Ufer der Eckau vorrücken; das etwa 250 Meter breite und von steilen Hängen gebildete Fluss-Tal macht die Passage schwierig. Und obwohl das Wasser nur hüft-hoch ist, erschweren der felsige Grund und die schnelle Strömung das Durchwaten. Als es den Füsilieren etwa um 21:00 Uhr gelingt, die von einem Jäger-Bataillon auf der "Burg Eckau" gedeckte Brücke zu erobern und einen Brücken-Kopf zu errichten -, die von Kleist kommandierten Infanteristen in der selben Stunde den Kirch-Berg auch von Nord-Osten umgehen können, und die russische Stellung auf der Anhöhe durch die unmittelbar bevorstehende Erstürmung zur Bedrohung für sämtliche darunter stehenden Truppen wird -, die Verteidiger auf der durch die Fluss-Biegung gebildeten Halb-Insel infolge der Eroberung der Kirch-Höhe direkt vor der Gefahr stehen, von allen Flucht-Wegen abgeschnitten zu werden -, sich schließlich alle anfänglichen Vorteile zu offensichtlichen Nachteilen gekehrt haben, befiehlt General Löwis seinen Truppen den Rückzug in Richtung Keckau (heute Ķekava, LVA; etwa 20 km südlich von Riga), wo die nächste Verteidigungs-Stellung vorbereitet ist; Löwis selbst gibt sein Haupt-Quartier auf der "Burg Eckau" nach etwa einer Stunde hinhaltender Kämpfe gegen 22:00 Uhr auf und macht sich bei Einbruch der Dunkelheit mit einigen Eskadronen Kavallerie unter Aufgabe der Munitions- und Proviant-Wagen auf den Weg nach Mitau.

"Delineation derer Städte und Schlößser in dem Herzogthum auf Ordre S´Königl. Mayt. zu Schweden von dem Königl. GeneLieut. Gouvern. und General-Quartiermeister Baron Stuart in jezigen Kriegszeiten Fortificirt." Ansicht von Mitau, Bauske und Libau nach einem anonymen Kupferstich aus der Zeit des Nordischen Krieges (frühestens um 1702). Beilage in der »Sammlung verschiedener Liefländischer Monumente, Prospecte, Wapen, etc.« (Teil III, Seite 115). (Bildquelle: ► Sammlung der Bibliothek »Latvijas Universitāte« (Riga, LVA)).
In der kurländischen Hauptstadt Mitau streitet sich der dort ansässige Zivil-Gouverneur und Adels-Marschall Friedrich Wilhelm (Fedor Fedorovich) von Sivers seit den ersten Sichtungen des nahenden preussischen Kontingents mit den Offizieren seiner Garnisons-Truppen, die sich nicht nur weigern, die der Bürgerschaft befohlenen Evakuierung zu unterstützen, sondern sich geradezu persönlich von der Weisung beleidigt fühlen, den Preussen die gut befestigte Stadt kampflos überlassen zu sollen, und voller Unverständnis auf den Befehl reagieren, auch die bereits begonnenen Vorbereitungen zum Niederbrennen der Gebäude wieder einstellen zu müssen. Auch General Löwis, der für die rund 30 Kilometer von Eckau nach Mitau mindestens zwei Stunden benötigt haben dürfte und somit frühestens erst nach Mitternacht in der Stadt eintrifft, kann den friedlichen Abzug der Garnison und die geordnete Räumung der Stadt nicht abwenden: Am späten Vormittag des 20. Juli – kurz nachdem die Stadt-Miliz noch etwa zwanzig Delinquenten erschossen hat, die bei der Plünderung bereits verlassener Wohn-Häuser aufgegriffen worden waren – verlässt Gouverneur Sivers als letzter seine Stadt (wobei Beschreibungen einer persönlichen Übergabe sehr zweifelhaft sind, denn die zwei preussischen Infanterie-Kompanien, die am Nachmittag in Mitau einrücken, schlagen sich zusammen mit der am Abend heran-befohlenen Kavallerie die ganze Nacht mit umherziehenden Banden von Plünderern, Deserteuren und Vagabunden herum, die es auf die in den Magazinen lagernden Mehl-Vorräte für die Armen-Speisung -, vor allem aber auf die in den Bürger-Häusern zurückgelassenen Alkohol-Bestände und vermuteten Silber-Verstecke abgesehen haben oder einfach nur trunken und randalierend durch die Straßen toben.
Am 21. Juli hat Oberst Eugen von Raumer die Ordnung weitestgehend wieder hergestellt. Seinen Soldaten lässt er die von Gouverneur Sivers hinterlassene Proklamation verkünden: "Der Uebermacht zu weichen, gebietet die Vernunft, Stadt und Land zu schonen, die Menschlichkeit. Letzteres erwartet von einem civilisierten Feinde - Friedrich Sievers, Gouverneur."
Die Generäle Grawert und Kleist lassen ihre Truppen in der Nacht vom 19. zum 20. Juli in und um Eckau biwakieren. An Toten, Blessierten und Vermissten hat das Hilfs-Corps insgesamt 5 Offiziere sowie 88 Unter-Offiziere und Gemeine verloren, wovon 2 Offiziere und 2 Unter-Offiziere, 6 Gemeine und 36 Pferde tot -, 68 Mann verwundet und 15 vermisst sind. Die russische Seite gibt an Toten 2 Offiziere, 4 Unter-Offiziere und 169 Gemeine an; 8 Offiziere, 16 Unter-Offiziere und 197 Gefreite werden als vermisst gemeldet, was wiederum der von den Preussen genannten Zahl von gefangenen russischen Soldaten entspricht. Unter den preussischen Verwundeten auch General Grawert, der gegen Ende der Schlacht von seinem Pferd gestürzt war und einen komplizierten Bein-Bruch erlitten hat (in dessen Folge er im August sein Kommando an General Yorck abgeben wird). General Kleist übernimmt stellvertretend das Kommando, überträgt die Führung der Avant-Garde Oberst Heinrich Wilhelm von Horn, Kommandeur des mit drei Bataillonen vertretenen Leib-Infanterie-Regiments, der den Befehl erhält, dem russischen Verband am nächsten Morgen mit zwei Kompanien der ost-preussischen Jäger, den Füsilier-Bataillonen Nr. 2 und 6 und zwei Eskadronen des 3ten Husaren-Regiments zu folgen.
In Abstimmung mit dem schwer verletzten General Grawert beschließt der am 22. Juli einberufene Kriegs-Rat Einzelheiten des weiteren Vorgehens: Ausgehend von einem bei Mitau anzulegenden Haupt-Magazin wird das kleine Örtchen Olai (heute Olaine, LVA; etwa 20 km süd-westlich von Riga) zum Haupt-Quartier bestimmt. Oberst Heinrich Wilhelm von Horn wird mit Stellung bei Dahlenkirchen der rechte Flügel und die Aufgabe zugewiesen, von hier aus die Verbindungen in Richtung der Festung Dünaburg (heute Daugavpils, LVA) zu kappen. Oberst Ferdinand Wilhelm von Jeanneret erhält den linken Flügel, hat bei Schlock an der Bucht von Riga (heute Sloka, LVA) einen Beobachtungs-Posten gegen die Baltische See einzurichten und von hier aus die Küsten- als auch die von den Häfen Libau und Windau (heute Liepāja und Ventspils, beides LVA) kommende Land-Straßen zu verlegen.
In den ersten Morgen-Stunden des 23. Juli beginnt der Marsch in Richtung Riga. General Kleist folgt der von Oberst Horn geführten Avant-Garde mit der Masse der Infanterie über den Wald-Weg nach Plakahn (heute Plakanciems, LVA; ca. 21 km nördlich von Eckau); die Feld-Artillerie sowie der Bagage-Train ist aufgrund der schlechten Weg-Verhältnisse gezwungen, zurück nach Bauske zu marschieren und von dort aus den Umweg über Mitau zu nehmen, um über die hier verlaufende Post-Straße Tilsit-Schaulen-Mitau-Riga zum Sammel-Punkt Olai zu gelangen. General Eberhard Friedrich Fabian von Massenbach übernimmt mit seiner Kavallerie die Eskorte; Major Friedrich Volmar Karl Heinrich von Clausewitz, älterer Bruder des auf russischer Seite stehenden und von König Friedrich Wilhelm III. inzwischen zum "Fahnen-Flüchtigen" erklärten Taktikers Carl Philipp Gottlieb von Clausewitz, übernimmt mit den beiden ihm verbliebenen Kompanien seiner ost-preussischen Jäger, einem gemischten Kavallerie-Kommando und der halben reitenden Batterie Nr. 1 die Sicherung des Weges und der Ortschaft Olai.
Oberst Horn, der am 20. Juli über die Misa gegangen war, hat am 21. Juli Baldohn (Baldones, LVA) passiert und die von den Russen verlassenen Posten bei Keckau und Dahlenkirchen an der Düna erreicht (heute Ķekava bzw. Doles Baznīcas, etwa 15 km südlich von Riga). Dem gleich-namigen Fluss Keckau zu seiner Mündung in die Düna folgend, macht der Oberst am Morgen des 23. Juni auf der Düna einige Kanonen-Boote aus, die neben dem doppel-köpfigen Adler des russischen Reiches zu seiner großen Überraschung auch den "Union Jack" – die Flagge des Vereinigten Königreichs – zeigen.

"Blick auf Riga von Pardaugava" (Sicht vom linken bzw. westlichen Ufer der Düna Anfang des 19. Jhds.; im linken Drittel das alte Burg-Schloss von Riga, Sitz des Gouverneurs). Gemälde von Carl Traugott Fechhelm in der Sammlung »Historisches Museum Riga - Stadt-Geschichte und Schiff-Fahrt« (Riga, LVA).
Schilderungen nach lässt General Löwis bei seiner Rückkehr die Einheiten des ihm unterstellten Verbandes "fröhlich und energisch zu klingendem Spiel" im Parade-Marsch in die Stadt einziehen; unter dem Jubel der Einwohner beglückwünscht Gouverneur Essen die Soldaten zu ihrem Sieg und zeichnet die Offziere aus. Bei der anschließenden Inspektion der Festungs-Werke informiert der Gouverneur seinen General-Stab, dass er dem Vize-Gouverneur von Livland, Osip Osipovitsch du Hamel, den Befehl zur Evakuierung aller Regierungs-Behörden über den See-Weg erteilt hat. Und um ein freies Schuss-Feld für die Kanonen zu schaffen -, auch um der gegnerischen Artillerie keine Deckung zu bieten, hat Essen auch Vorbereitungen getroffen, bei Annäherung des Feindes die Vor-Städte von Riga niederbrennen zu lassen.
Bis zum Beginn der von Napoleon verhängten Kontinental-Sperre hatte die Stadt über den hier abgewickelten See-Handel pro Jahr Export-Überschüsse von durchschnittlich 12 Millionen Rubel erwirtschaftet. Und obwohl es Napoleon nie gelungen war, die russischen Ostsee-Häfen mangels eigener Kriegs- oder Küsten-Flotte unter Kontrolle zu bringen – die von russischer Seite zunehmend perfektionierte Umgehung der Blockade von Napoleon zu einem der gewichtigsten Vorwände für seine Kriegs-Erklärung instrumentalisiert wurde –, hatte Riga neben seiner wirtschaftlichen vor allem eine militär-strategische Bedeutung: Die im Schutz der Bucht von Riga am östlichen Ufer der Düna gelegene Hafen-Stadt eröffnete einerseits einem Invasoren die Möglichkeit, über den Fluss weit in das Landes-Innere vorzudringen; bot aber gleichso die Option, unter der Deckung der Befestigungen Truppen und Kriegs-Gerät anlanden oder verschiffen zu können. Folge-richtig, dass die zwischen 1808 und 1810 unter Vorsitz von General und Kriegs-Minister Michael Andreas Barclay de Tolly tagende Defensions-Kommission im Ergebnis der Beratungen zur Verteidigung Russlands zur Entscheidung gekommen war, auch die Befestigungen der Hafen- und Festungs-Stadt Riga zu modernisieren, zu verstärken und nach Möglichkeit auszubauen.

"Riga" (wie es Anno 1700 aus dem Polnischen Lager communicirt worden). Plan der Zitadelle und der befestigten Hafen-Stadt Riga. Darstellung von Gabriel Bodenehr dem Älteren (1664–1758). Bildquelle: ► WIKIPEDIA.

"Panorama von Riga am Ende des 18. Jahrhunderts.". (Blick vom westlichen Ufer der Düna auf die Zitadelle, das alte Burg-Schloss und die Bastionen der Stadt-Befestigung) Colorierter Stich, unbekannter Künstler in der Sammlung »National-Bibliothek Belarus« (Minsk, BLR).
Nicht alle der 1810 geplanten und beschlossenen Bauvorhaben waren bis zum Beginn der Invasion fertig-gestellt. Die seit dem frühen Mittelalter stetig erweiterten Befestigungen – ab Mitte des 17. Jahrhunderts von Erik Dahlberg, schwedischer Gouverneur, Militär-Ingenieur und Festungs-Baumeister, im Stil der Zeit aufwendig modernisiert und ausgebaut – bildeten ein System ineinander übergehender und sich dabei gegenseitig deckender Wall-Anlagen von 8 bis 15 Metern Höhe, bis zu 30 Metern Breite und sämtlich von Wasser-Gräben umgeben. Als Haupt-Festung gilt die aus neun Bastionen bestehende Wall-Anlage am rechten Ufer der Düna, die die rund 20.000 Einwohner zählende Stadt samt Wohn- und Werk-Stätten, Handels-Kontoren, Lager-Häusern und Magazinen einschließt; davor die Holz-Hütten der etwa 10.000 Tage-Löhner, Hafen-Arbeiter und Land-Arbeiter, die die schnell wachsenden Vor-Städte bewohnen. Fluss-abwärts grenzt die aus sechs Bastionen gebildete Zitadelle an; dort der "Yakovlevsky"-Kasernen-Komplex. Zwischen beiden das alte Burg-Schloss. Am linken Ufer die aus einer Bastion, zwei Halb-Bastionen, drei Ravelins und einer Redoute gebildete "Kober-Schanze", die als Brückenkopf-Befestigung dient. Auf einer Insel an der Fluss-Mündung rund 14 Kilometer nord-westlich von Riga dann die Festung Dünamünde (seit 1893 Festung Daugavgriva), die die Hafen-Zufahrt von der See-Seite abschirmt.

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General-Gouverneur Magnus Gustav von Essen (1759-1813) und General Friedrich (Fedor Fedorovich) von Löwis (1767-1824). Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
Den Quellen nach verfügt General und Gouverneur Essen zur Sicherung und Verteidigung der Hafen- und Festungs-Stadt Riga über 42 Bataillone Infanterie mit rund 18.500 überwiegend neu eingezogenen und entsprechend mangelhaft ausgebildeten Rekruten, die dem Befehl des Stadt-Kommandanten General Iwan Fedorowitsch (Johann Georg Friedrich) von Emme unterstehen. Auf den Festungs-Werken sind insgesamt 585 Geschütze verschiedenster Kaliber verteilt; davon 305 Stücke in der Haupt-Festung, 167 in der Zitadelle und 113 in den Zadvinsky-Befestigungen; die Festung Dünamünde ist mit 135 Geschützen bestückt (allerdings sind nur knapp 150 Geschütze kampfbereit; für die anderen Stücke fehlen entweder die Kanoniere, die passenden Kugeln oder die Lafetten sind schadhaft; eiligst werden Bürger zu Artilleristen ausgebildet).
Anmerkung
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"Garnison Riga"
Kommandeur der Garnisons-Truppen: General-Leutnant Friedrich (Fedor Fedorowitsch) von Löwis.
Stabs-Chef: Oberstleutnant Karl Ludwig Heinrich von Tiedemann (1777-1812; 1811 Adjutant von Scharnhorst).
- 30te Reserve-Infanterie-Division
- 6 Reserve-Bataillone der Regimenter der 4te Infanterie-Division
- 6 Reserve-Bataillone der Regimenter der 14te Infanterie-Division
- 31te Reserve-Infanterie-Division
- 6 Reserve-Bataillone der Regimenter der 5te Infanterie-Division
- 6 Reserve-Bataillone der Regimenter der 17te Infanterie-Division
- 39te Reserve-Infanterie-Division
- Rekrutierungsdepot Podgoschinsky
- 6 Reserve-Bataillone der Regimenter der 25te Infanterie-Division
- Rekrutierungsdepot Starorusskoje
- 6 Reserve-Bataillone der Regimenter der 25te Infanterie-Division
- 40te Reserve-Infanterie-Division
- Rekrutierungsdepot Kholm
- 6 Reserve-Bataillone der Regimenter der 5te Infanterie-Division
- (Die Reserve-Bataillone des Rekrutierungs-Büros Toropets der 40te Reserve-Infanterie-Division waren Teil des Smolensker Reserve-Korps)
Darüber hinaus verfügte die Garnison über ein konsolidiertes Kavallerie-Regiment, das von den Reserve-Eskadronen der Dragoner-Regimenter Riga, Mitavsky, Kurland und Livland gestellt wurde; dazu mehrere Kosaken-Regimenter. An technischen Truppen waren in der Stadt je eine Kompanie Mineure und Pioniere vom 1ten Pionier-Regiment und ein Garnisons-Bau-Bataillon stationiert, die zusammen mit der Ponton-Kompanie Nr. 11 der 1ten Reserve-Artillerie-Brigade unter General Christian Fedorowitsch Schwanebach unterstanden.
Zum see-seitigen Schutz der Hafen-Anlagen -, für Patrouillen-Fahrten auf der Düna und entlang der Küsten verfügte die Garnison über 6 Kanonen-Boote in der Klasse kleiner Schaluppen (Schlopka genannt), die mit (den wenigen) leichten Geschützen, Drehbassen und Karronaden bewaffnet waren. Und mit der Ratifizierung des zwischen Schweden und Russland am 5. April 1812 in St. Petersburg noch insgeheim geschlossenen Friedens- und Allianz-Vertrages wurde es Russland möglich, die vor der See-Festung Sveaborg (heute Suomenlinna, FIN) und Kronstadt (russische Festungs-Insel vor St. Petersburg) kreuzende Ostsee-Flottille – insgesamt 67 leichte und mittlere Kanonen-Boote unter Vize-Admiral Nikolai Iwanowitsch Scheschukow – in die Bucht von Riga zu beordern, wo die ersten Schiffe am 19. Juli -, der Groß-Teil der Flottille dann am 31. Juli eintrafen.
Erwähnenswert auch insgesamt acht weitere Kanonen-Boote, die von der britischen Marine speziell für den Kampf-Einsatz in Küsten- bzw. Flussufer-Nähe entwickelt und von der Rigaer Werft nach Bau-Plänen gefertigt worden waren, die Gouverneur Essen noch vor dem offiziellen Abschluss der russisch-englischen Friedens-Verträge von Örebro vom englischen Kaufmann William Cumming, der mit dem englischen Kapitän d'Anclam in Verbindung getreten war, erhalten hatte. Die Kanonen-Boote wurden kurz nach nach Beginn der Invasion vom britischen Konter-Admiral Thomas Byam Martin, Kommandeur des von England entsandten Ostsee-Geschwaders, mit leichten englischen Schiffs-Geschützen ausgerüstet und mit englisch-russischen Besatzungen bemannt.

Riga "Das rigische Schloß nach der Dünaseite ab 1760" (im Plan von Riga zwischen Zitadelle und Festung). Aquarell von Johann Christoph Brotze in der »Sammlung verschiedener Liefländischer Monumente, Prospecte, Wapen, etc.« (Teil X, Seite 192). Bildquelle: ► Sammlung der Bibliothek »Latvijas Universitāte« (Riga, LVA).

Russland; "System Araktschejew": 24-pfündige Festungs-Kanone (Mod. 1805) aus Guss-Eisen. (Gewicht: 2.948,5 kg, Kaliber: 5,96 Zoll (151,4 mm), Rohr-Länge ohne Stoß (Cascable) und Traube: 3180 mm, Kaliber-Länge: 21, Geschoss-Gewicht (Voll-Kugel): 12 kg, Pulver-Ladung: 3 bis 4 kg, Spreng-Bombe: 8,2 kg, Brand-Bombe: 9,83 kg, Anfangs-Geschwindigkeit 470 m/s, Reichweite (maximal): 3.564 m.
Seit Beginn des Jahres 1812 hat Gouverneur Essen begonnen, die Festung auf eine Belagerung vorzubereiten: Die außerhalb der Stadt gelagerten Vorräte an Schieß-Pulver waren in die Kasematten der Zitadelle gebracht worden; die Proviant-Reserven, die auf sechs Wochen angelegt waren, sollten derartig aufgestockt werden, dass die Versorgung bis zum Sommer für vier bis sechs und nach der Ernte für bis zu zwölf Monate sicher-gestellt ist. Beinahe sämtliche Kirchen sind in Lebensmittel-Lager umgewandelt; auch die Bürger wurden angewiesen, Lebensmittel-Vorräte für mindestens vier Monate einzulagern und Fässer für Trink- und Lösch-Wasser samt geeignete Lösch-Gerätschaften und Werkzeuge bereitzustellen. In den Vor-Orten wurden Meilen-Steine eingelassen, deren Positionen nach der Reich-Weite der Festungs-Geschütze bemessen wurden und insgeheim den Bereich abstecken, der zur Beräumung bzw. Vernichtung vorgesehen ist. Mit den ersten Meldungen vom Beginn der Invasion wurden in den Provinzen Kurland und Livland Schlacht-Vieh und Pferde zusammen- und auf die stadt-nahen Weiden von Riga getrieben. Alles, was nicht entfernt werden konnte, musste zerstört oder unbrauchbar gemacht werden. Landes-weit wurden Fuhr-Werke und insbesondere Räder zerstört, Straßen aufgerissen, Brücken niedergebrannt. Und mit der Sichtung der ersten "blauen Uniformen" bei Olai, Keckau und Dahlenkirchen befahl Gouverneur Essen die Evakuierung der auf dem westlichen Ufer der Düna gelegenen Mitauer Vor-Stadt vorzubereiten; am 22. Juli werden Lunten und Feuer-Kränze an die Mineure und Pioniere ausgegeben.
Oberst-Leutnant Karl Ludwig Heinrich von Tiedemann, Stabs-Chef der Garnison von Riga, der im März 1812 die von Major Carl von Clausewitz quittierte Position als Adjutant des preussischen Generalstabs-Chefs Gerhard Johann David von Scharnhorst besetzt -, jedoch schon im Mai 1812 selbst seinen Abschied aus der preussischen Armee genommen hatte und zusammen mit vielen anderen jungen preussischen Offizieren in den Dienst der russischen Armee getreten war, erhält von Essen den Befehl, die Lage um Riga und die Positionen des "Hülfskorps" aufzuklären und die Garnison zu alarmieren, falls die gegnerischen Truppen versuchen, auf das östliche Ufer zu gelangen.
Das Gerücht, dass die Preussen nördlich von Keckau die Düna hinüber zum Gut Jungfernhof überqueren (heute Ķekava bzw. Jumpravmuiža, LVA; etwa 20 km südlich von Riga), führt dazu, dass in der Nacht vom 23. zum 24. Juli nicht nur die Mitauer Vor-Stadt in Brand gesetzt werden, sondern kurz darauf auch die auf dem östlichen Ufer gelegenen Moskauer und Petersburger Vororte brennen (was seitens der Militär-Kommandantur anfänglich mit dem an diesem Tag vorherrschenden West-Wind -, dann auch mit dem infolge des bald aufkommenden Feuer-Sturms einhergehenden Funken-Flug begründet wurde).
Dass der von den Russen befürchtete Übergang angesichts von acht auf dem Fluss patrouillierenden Kanonen-Booten und selbst mit Unterstützung durch die preussische Artillerie nur wenig Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, schien im russischen General-Stab niemand bedacht zu haben.
Wie auch immer. In der Nacht gerät das Feuer außer Kontrolle, Plünderer legen weitere Brände; drei Vor-Städte brennen beinahe vollständig ab, 705 Wohn-Häuser und 35 öffentliche Verwaltungs-Gebäude, 36 Lager-Häuser und 4 Kirchen sind letztendlich zerstört; gut ein Viertel der Bürger verlieren Hab und Gut und werden obdachlos; die Zahl der Opfer wird nie festgesellt (laut Stadt-Polizei wurden lediglich vier Plünderer erschossen).
Riga: "Blick von der Festung auf die Peterburger Vorstadt ... ... am Mittag des 23. Juli 1812" (links) und ... in der Nacht vom 23. zum 24. Juli 1812" (rechts). Gemälde von Carl Traugott Fechhelm. Bildquelle: »Valsts izglītības satura centrs« (Nationales Zentrum für Bildungsinhalte, Riga, LVA).
Die preussischen Abteilungen haben ihre jeweiligen Abschnitte am 24. Juli erreicht und die befohlenen Beobachtungs-Posten besetzt. Oberst Horn sichert Dahlenkirchen und Oberst Jeanneret ist bei Schlock in Stellung gegangen. Hier treffen am späten Nachmittag drei Kompanien des Füsilier-Bataillons Nr. 1 unter Kommando von Oberst-Leutnant Jürgaß ein, die am 12. Juli im Detachement von General Johann David Ludwig von Yorck in Richtung Memel (heute Klaipėda, LIT) aufgebrochen waren, dort Befehl erhalten hatten, ausgehend von der preussisch-russischen Grenze die Küste zwischen Libau und Windau zu sichern und anschließend mit der Verfolgung der sich gegen Mitau und weiter nach Riga zurückziehenden Garnisonen beauftragt worden waren. Das Gros des preussischen "Hülfs-Corps" ist in und um Olai versammelt; wo die Truppen bis zur Ankunft des Belagerungs-Parks – Schanz-Gerät, Feld-Schmieden und Munitions-Wagen sowie 130 groß-kalibrige Kanonen und Mörser, die ab Mai in Danzig gesammelt worden waren – ein Feld-Lager befestigten.
Bis zur Ankunft der Artillerie müssen sich die Preussen darauf beschränken, die Straßen-Verbindungen von und nach Riga aus sicherer Distanz (und nur vom westlichen Ufer) abzuschneiden; der von Gouverneur Essen erwartete Sturm-Angriff bleibt aus.
Tiedemann muss es wohl relativ schnell gelungen sein, mit den preussischen Truppen in Kontakt zu treten: In einem Schreiben an Ingenieur-General Jan Pieter van Suchtelen in St. Petersburg, datiert vom 3. (greg. 15.) Juli, berichtet Gouverneur Essen bereits vom Eintreffen erster preussischer Überläufer, die sich der französischen Kommando-Hoheit nicht fügen wollten. Vor allem aber ist der Militär-Rat überzeugt, dass die Preussen ohne jegliche Belagerungs-Artillerie gegen die Befestigungen Rigas nichts ausrichten können und ein Transport schwerer Geschütze über russische Land-Straßen nicht vorstellbar ist. Und da die Truppen-Stärke des preussischen Korps weder genügt, um die Stadt land-seitig einzuschließen, die Preussen auch über keine Kriegs-Flotte verfügten, um den Hafen zu blockieren, ist der russische General-Stab sich einig, dass eine förmliche Belagerung nicht zu erwarten steht.
In dem seit den Zeiten des Zaren Peter I. währenden Intrigen-Spiel der russischen Generalität gegen ausländlische Offiziere gerät somit auch Gouverneur Essen in das Visier seiner Neider; der Gouverneur, der bereits bei Vorlage der ersten im Jahr 1810 entworfenen Verteidigungs-Konzepte erhebliche Vorbehalte gegen die hier angeführten Zerstörungs-Direktiven geäußert hatte, war es jedoch unmöglich, sich den von Kriegs-Minister Barclay de Tolly veranlassten Weisungen im nunmehr eingetretenen Ernst-Fall zu verweigern. Doch mit der sich bald abzeichnenden und immer höher steigenden Schadens-Summe von über 15 Millionen Rubel -, auch um keine Zweifel an der Politik des Kriegs-Ministeriums aufkommen zu öassen, wird Essen zum Allein-Verantwortlichen erklärt und als Brand-Stifter diffamiert.
Am 28. Juli wird der preussische General-Stab vom Großen Haupt-Quartier informiert, dass die 1te (russische) West-Armee das Lager von Drissa aufgegen -, bei Ostrowno eine schwere Niederlage erlitten habe und im vollen Rückzuge sei. Major Johann August Friedrich von Hiller, Adjutant des Generals Grawert, wird mit einem Schreiben nach Riga gesandt, das Gouverneur Essen zur Kapitulation und zur Übergabe der Festung auffordert: "... Die Schwäche der Festung ist sowohl mir als auch Ihnen bekannt. Trotz unerschrockenem Widerstand wird sie in wenigen Tagen oder jedenfalls in einigen Wochen zur Kapitulation gezwungen sein ... und eine beträchtliche Anzahl tapferer Truppen, angeführt von einem angesehenen Kommandanten, werden für erfolglosen Widerstand geopfert."
"... Wenn ich zugeben könnte, dass der preussische General aus eigenem Antrieb in der Lage war, einen Brief wie den, den ich von Ihnen erhalten habe, zu schreiben, würde ich ihn einer Antwort für unwürdig halten. Aber da der französische Stil darin deutlich sichtbar ist, schreibe ich diese Zeilen als Antwort auf Ihren Brief und bin weiterhin davon überzeugt, dass Sie als Instrument der despotischen Macht dienen, der Sie bedingungslos gehorchen müssen ...", gibt Essen zur Antwort und lehnt das preussische Angebot ab.
Am selben Tag gehen die ersten der insgesamt 130 zur Belagerung von Riga bestimmten Geschütze über die Memel-Njemen-Grenze in Richtung Riga; in der Stadt Riga wird am 29. Juli der Belagerungs-Stand erklärt.
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Marschall MacDonald, der gemäß den am 10. Juli aus dem Großen Haupt-Quartier von Wilna ergangenen Befehle zusammen mit den preussischen Corps in Richtung Riga marschiert war, hatte am 19. Juli Grawerts Nachhut in Bauske abgelöst und die Stadt besetzt. Hier erreichte ihn noch am selben Tag ein weiterer Befehl des Kaisers, der ihn anwies, mit den Brigaden der 7ten Division "Grandjean" umgehend ostwärts in Richtung Friedrichstadt (heute Jaunjelga, LVA) aufzubrechen, dem Lauf der Düna zu folgen, bei Jakobsstadt (heute Jēkabpils, LVA) eine Brücke über die Düna zu legen und sich am rechten (östlichen) Ufer bereitzuhalten, um entweder die Chaussee nach St. Petersburg zu verlegen oder das II. Corps des Marschalls Oudinot gegen das 1te (russische) Infanterie-Korps des Generals Wittgenstein zu unterstützen; bei Bedarf aber auch die Festungen Riga oder Dünaburg von der Land-Seite abriegeln und einschließen zu können.
Napoleon hatte am 16. Juli den Entschluss gefasst, sein Haupt-Quartier in Wilna abzubrechen und wieder in die Offensive zu gehen. Am 18. Juli war er in Glubok (heute Hlybokaje, BLR; 160 km nord-östlich von Wilna) eingetroffen. Kurz nach seiner Ankunft erreichte ihn hier die gleichso überraschende wie alarmierende Nachricht, dass der russische General Barclay de Tolly das Lager von Drissa aufgegeben hatte und über die Düna gegangen war, am östlichen Ufer auf Polozk (heute Polazk, BLR) marschierte und offensichtlich den Plan gefasst hatte, seine Armee bei Witebsk (auch Wizebsk, BLR) mit der 2ten (russischen) West-Armee unter General Bagration zusammenzuführen. An der Düna zurückgeblieben war das inzwischen auf etwa 35 bis 40.000 Mann verstärkte 1te (russische) Infanterie-Korps unter General Wittgenstein, das – mit Haupt-Quartier bei Osweja (heute Asweja, BLR) – zusammen mit der Garnison von Riga und den in St. Petersburg vermuteten Reserven zu einer ernst zu nehmenden Bedrohung für den gesamten linken (nördlichen) Flügel der "Grande Armée" werden könnte. MacDonald erhielt somit die Aufgabe, sich zentral zwischen den Stand-Orten zu positionieren und die Verbindungen zwischen den Festungen Riga, Petersburg und Dünaburg zu unterbrechen.
Noch am 19. Juli bricht die von General Étienne Pierre Sylvestre Ricard geführte 2te (oder Avantgarde-) Brigade der 7ten Division in Richtung Osten auf; der Vortrab folgt dem Lauf der Mēmele (auch Nemunėlis) und hat bei Einbruch der Dunkelheit Schönberg (heute Skaistkalne, LVA). Bereits am 20. Juli trifft Ricard in Friedrichstadt an der Düna ein und steht am 21. Juli vor Jakobsstadt, wo er mit Teilen seiner Truppe über den Fluss setzt und die am anderen Ufer gelegene Schloss- und Festungs-Anlage der alten Ordens-Burg Kreutzburg (heute Krustpils, LVA) von der garnisonierten russischen Besatzung – rund 1.900 Mann der aus sechs Reserve-Bataillonen gebildeten Brigade der 1ten Grenadier- (32. Infanterie-) Division unter General Alexey Jurjewitsch Gamen – verlassen vorfindet. Und während Marschall MacDonald am 22. Juli bei Kreutzburg mit dem Bau einer provisorischen Brücke beginnen -, das Schloss verbarrikadieren lässt und sein Haupt-Quartier im Palas des Schlosses einrichtet, prescht General Ricard mit seiner (vom preussischen Hilfs-Corps "entliehenen") Avantgarde-Kavallerie dem russischen General Gamen nach, der mit seiner Brigade am 22. Juli in die Festung Dünaburg (heute Daugavpils, LVA) einzieht.

"Prospect des Schloßes Kreutzburg 1792" Aquarell von Johann Christoph Brotze in der »Sammlung verschiedener Liefländischer Monumente, Prospecte, Wapen, etc.« (Teil V, Seite 51). Bildquelle: ► Sammlung der Bibliothek »Latvijas Universitāte« (Riga, LVA).
Gefolgt von der aus den Bataillonen des 5ten (polnischen) Linien-Infanterie-Regiments gebildeten Brigade des polnischen Generals Michal Gedeon Radziwiłł und gesichert von zwei Eskadronen preussischer Husaren, trifft General Ricard am 27. Juli in der Nähe der Festung Dünaburg ein. Bei Illuxt, am linken Ufer der Düna (heute Ilūkste, LVA; etwa 15 km nördlich des Kronwerkes Daugavgrīva), lässt Ricard einen Beobachtungs-Posten errichten. Ausgesandte Kundschafter überbringen die Meldung, das auf dem östlichen Ufer gelegene Kronwerk vollständig verlassen -, die Reste der Wach-Häuser und Unterstände, Baracken und Block-Häuser abgefackelt -, die Palisaden niedergerissen und die Brücke über die Düna weitestgehend zerstört vorgefunden zu haben. Aufgegriffene russische Holz-Fäller, vom Festungs-Kommando mit der Reparatur der Brücke und der Instandsetzung des Vorwerkes beauftragt, berichten, dass General Gamen, der kurz nach seiner Ankunft den Festungs-Kommandanten General Lev Michailowitsch Yashvil abgelöst und das Kommando über die Festung -, die rund 2.500 Mann der zehn Garnisons-Bataillone und die zur Verfolgung des II. Corps (Oudinot) ausgerückten vier Husaren-Eskadronen übernommen hatte, nach Eingang der Meldung vom Anrücken der französisch-polnischen Abteilung das Vorwerk wieder besetzt hat.
Noch am selben Tag kommt es vor der Brückenkopf-Befestigung zu einer heftigen Schießerei zwischen Einheiten des Generals Radziwiłł und einer russischen Garnisons-Kompanie.
Général Étienne Pierre Sylvestre Ricard (1771–1843) und General Michał Gedeon Radziwiłł (1778-1850). Bildquelle: Eigene Sammlung.
In Abstimmung mit dem polnischen General Radziwiłł fasst Ricard den Entschluss, in der Deckung einer nahe-gelegenen Düna-Biegung den Bau eines weiteren Fluss-Übergangs vorbereiten zu lassen, dessen Brücken-Kopf bei Jaunus, auf dem rechten Ufer (nahe Lixna, heute Līksna, LVA) entstehen soll.
Am 30. Juli gibt MacDonald dem Gros der 7ten Infanterie-Division bei Jakobsstadt den Befehl zum Aufbruch in Richtung Dünaburg.
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Sa., 18. Juli, bis Fr., 31. Juli: Gefechte am Nord-Flügel |
Am 18. Juli, dem Tag an dem Napoleon in Glubok (heute Hlybokaje, BLR; 160 km nord-östlich von Wilna) einzieht; Marschall MacDonald vor Bauske (heute Bauska, LVA; über 200 km nordlich von Wilna) die Weisung erhält, umgehend nach Jakobstadt (heute Jēkabpils, LVA) abzurücken und sich dort bereitzuhalten, die Garnison der Festung Dünaburg von Riga abzuschneiden; Marschall Oudinot, von Dünaburg kommend, Vorbereitungen trifft, mit seinem II. Corps die Befestigungen des verlassenen Lagers von Drissa niederzureißen und Marschall Ney sein auf rund 30.500 Mann zusammengeschmolzenes III. Corps am Ufer des Braslauer Sees ausruhen lässt; Marschall Murat sein Marsch-Ziel Druja an der Düna (heute Druya, BLR) infolge des Abzugs der russischen Armee von Drissa aufgegeben hatte, mit seinen beiden Kavallerie-Corps ost-wärts auf die Straße nach Disna (heute Dsisna, BLR) eingeschwenkt war und den Rückzug der russischen Infanterie-Korps östlich der Düna mit nur einem halben Tages-Marsch Abstand am westlichen Ufer flankiert, erreicht die Spitze der 1ten (russischen) West-Armee samt den Offizieren des "Gefolges Seiner kaiserlichen Majestät des Zaren" Polozk (heute Polazk, BLR). Gemäß der vom Großen Militär-Rat im Lager von Drissa getroffenen Beschlüsse übergibt Zar Alexander das bis dahin von ihm beanspruchte Ober-Kommando an General Barclay de Tolly, verabschiedet sich von den Truppen und reist weiter nach Moskau, um von dort aus die Verteidigung des russischen Reiches vorzubereiten.
Hintergrund des erstaunlichen Kommando-Wechsels war der einfache Umstand, dass der von Barclay de Tolly zwischen dem 13. und 17. Juli in Drissa geplante Zusammenschluss mit der von General Bagration geführten 2ten (russischen) West-Armee gescheitert war. Nicht nur, dass sich das nach den Plänen des ehemaligen preussischen Generals Karl Ludwig August Friedrich von Pfuel errichtete Feld-Lager als Biwak für über 180.000 Mann als vollkommen ungeeignet erwiesen hatte, sondern auch, weil Marschall Davout durch geschickte Manöver Bagration zwingen konnte, erhebliche Umwege nehmen zu müssen, in deren Ergebnis die 2te (russische) West-Armee immer weiter in süd-östliche Richtung abgedrängt wurde. Zwar gelang es Bagration, seine Verbände ohne größere Verluste vor den aus drei Richtungen an- und nachrückenden Corps der "Grande Armée" in die an der Beresina gelegene Festung Bobruisk (heute Babrujsk, BLR) zu retten, doch ist diese Festung über 300 Kilometer vom befohlenen Sammel-Punkt entfernt.
Mit der in der Nacht vom 15. zum 16. Juli getroffenen Entscheidung, das Feld-Lager von Drissa aufzugeben, auf das östliche Ufer der Düna zu wechseln und gut 100 Kilometer weiter östlich bei Witebsk (auch Wizebsk, BLR) einen neuerlichen Versuch der Vereinigung beider Armeen zu unternehmen, war es dem russischen General-Stab auch gelungen, den Zaren zu überzeugen, seine Person nicht länger mit dem bislang erfolgten und nun erneut notwendig werdenden Rückzug in Verbindung zu bringen, der die einfachen russischen Soldaten zunehmend demoralisiert und von den Truppen-Offizieren als entehrend und feige empfunden wird.
Am 19. Juli erhält Barclay de Tolly in seinem Marsch-Quartier in der Nähe des Gutes Obol am gleich-namigen Fluss (heute Obal, BLR) die Nachricht von der Ankunft Napoleons in Glubok (heute Hlybokaje, BLR; etwa 80 km süd-westlich von Polozk). Auch geht die Meldung ein, dass es Bagration mit der 2ten (russischen) Armee gelungen ist, einen deutlichen Vorsprung zu seinen Verfolgern an der westlichen Beresina zu gewinnen, der es ihm endlich ermöglicht hat, bei Staryi Bykhov (heute Novyi Bykhov, BLR; etwa 80 km östlich von Bobruisk) in Richtung Norden abschwenken zu können. Dem Lauf des Dnjepr über Mogilew und Orsha (heute Mahiljou und Orscha, beides BLR) hinauf nach Smolensk folgend, plant Bagration, die gut 250 Kilometer innerhalb von vier bis fünf Tagen zurückzulegen. Barclay de Tolly beschließt darauf, seine Verfolger aufzuhalten, Bagration etwas Zeit zu verschaffen und sich nach den vielen taktischen Rückzügen den Franzosen bei Witebsk zur Schlacht zu stellen. Noch ist er den rund 20.000 Kavalleristen Murats weit überlegen: Das III. Corps (Ney) marschiert über 200 Kilometer entfernt durch die dichten Kiefern-Wälder an den Braslauer Seen; das II. Corps (Oudinot) steht über 150 Kilometer entfernt bei Drissa; am gefährlichsten das IV. Corps (Eugène), das sich zwischen Glubok und Uszaczka bewegt und am 20. Juli Kamen erreicht (heute Hlybokaje, Ushachy und Kamien, alles BLR) und damit nur 50 Kilometer entfernt ist; dahinter der Kaiser mit der Garde.
Barclay de Tolly gibt seinen Soldaten den Befehl zum Eil-Marsch in Richtung Witebsk.
Zurück bleibt General Ludwig Adolph Peter Graf zu Sayn-Wittgenstein, der im Ergebnis der vom Großen Militär-Rat im Lager von Drissa getroffenen Beschlüsse den Befehl erhalten hatte, mit den rund 25.000 Mann seines Infanterie-Korps und 128 Geschützen am östlichen Ufer der Düna Stellung zu beziehen, den über 80 Kilometer langen Abschnitt zwischen Drissa und Polozk gegen feindliche Übergänge zu sichern und im Fall feindlicher Vorstöße die an den hier gelegenen Furten beginnenden Verbindungen nach St. Petersburg zu verlegen. Um all diesen Verantwortungen entsprechen zu können, erhält Wittgenstein noch die sechs Bataillone der 1ten Grenadier- (32. Infanterie-) Division unter General Alexey Jurjewitsch Gamen – rund 1.900 Mann, die noch vor Tagen die Garnison der alten Ordens-Burg Kreutzburg) stellten –, die zehn Garnisons-Bataillone der Festung Dünaburg und einige Bataillone der 1ten West-Armee. Auf dem Gut Pokaevtzy (Pokoevtsy, BLR; gegenüber dem verlassenen Feld-Lager von Drissa) bezieht er sein Haupt-Quartier; als Basis für seine Truppen hat er die Festung Dünaburg bestimmt.

General Ludwig Adolf Peter zu Sayn-Wittgenstein (1768-1842) Unbekannter Künstler in der Sammlung "Porträts des Kaisers und seiner Feldherren"; Ausstellung des Staatlichen Militärhistorischen Museums »Schlachtfeld Borodino« (bei Moskau, RUS).
Am 20. Juli trifft Wittgenstein zur Inspektion der Festung ein. Noch während der Besichtigung gerät er mit General Lev Michailowitsch Yashvil aneinander: Der Kommandeur der Festungs-Artillerie und inzwischen auch Kommandant der Festung hat bereits die vollständige Zerstörung des Vorwerkes auf dem linken Ufer der Düna und die schritt-weise Beräumung bzw. Zerstörung der Depots befohlen. Die Artillerie-Werkstatt und das Feuerwerker-Labor sind bereits gesprengt; Teile der Garnison sind in Richtung der alten Ordensritter-Burg Rezhitsa (auch Rositten, heute Rēzekne, LVA; ca. 85 km nord-östlich von Dünaburg) abgerückt, um die sich dort kreuzenden Verbindungen von Riga nach Moskau bzw. von Kowno nach St. Petersburg zu sichern. Besonders erbost ist Wittgenstein über die schon vollzogene Versenkung der 24-pfündigen Festungs-Geschütze. Von den zwanzig 12-Pfündern des Vorwerkes sind vierzehn auf dem Weg nach Pskow (Pskow, RUS), sechs Stücke waren den Garnisons-Bataillonen in der Festung überlassen -; alle nicht benötigten Lafetten zerhackt worden.
Noch am selben Tag geht ein Schreiben an den Militär-Ingenieur Egor Fedorovich Heckel: Wittgenstein beauftragt den Baumeister der Festung, den Zustand der Gesamt-Anlage vor Ort zu begutachten und Möglichkeiten einer Wiederher- und Fertig-Stellung der Wälle zu klären.
Am 21. Juli zieht General Gamen mit seiner Grenadier-Division in der Festung ein. Zum großen Ärger des Artillerie-Generals Yashvil betraut Wittgenstein den Infanterie-General Gamen mit dem Kommando über Garnison und Festung. Von General Gamen ausgesandte Patrouillen kommen mit der Meldung zurück, dass Oudinot in Jeziorosy (auch Ezerosy oder Yezoros, heute Zarasai, LIT; 25 km westlich von Dünaburg) eine leichte Beobachtungs-Abteilung von zwei Kompanien Infanterie und einem gemischten Detachement Ulanen und Jäger zu Pferd zurück-gelassen hat. Im Morgen-Grauen des 22. Juli überfällt ein Kommando von knapp 60 Husaren des Elisabethgrader Regiments und ein gutes Dutzend Kosaken des 2ten Don-Regiments den Posten, der vollkommen überrumpelt werden kann: Die Franzosen verlieren über 50 Soldaten und Offiziere; über 60 Soldaten und Offiziere werden gefangen-genommen; beinahe sämtliche Pferde werden davon-getrieben.

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Schon am 23. Juli trifft Festungs-Baumeister Heckel in Dünaburg ein. Wittgenstein, der für die von ihm geplanten Operationen im Hinter-Land des Feindes möglichst schnell, sicher und unkompliziert über die hier etwa 250 Meter breite Düna gelangen will, beauftrgt den Ingenieur mit der Wieder-Herstellung der Brücke; Heckel lässt rund 500 Bauern aus der Umgebung für einfache Hand- und Transport-Arbeiten und einige Dutzend Arbeiter eines nahen Säge-Werkes verpflichten. Hingegen würde die Fertig-Stellung der nord-östlichen, noch im Ausbau befindlichen Bastionen größere Anstrengungen erforderlich machen. Im Fall eines Angriffs von der Land-Seite her, wäre die Anlage nicht zu halten.
Mit der in der Nacht vom 25. zum 26. Juli eingehenden Meldung, dass aus Richtung Kreutzburg – und bereits auf dem rechten Ufer der Düna – "eine beträchtliche Anzahl Infanterie, Artillerie und Kavallerie" im Anmarsch ist (wahrscheinlich Vorposten des Marschalls MacDonald), und der Nachricht, dass am 27. Juli auch auf dem linken Ufer bei Illuxt (heute Ilūkste, LVA; etwa 15 km nördlich des Kronwerkes Daugavgrīva) eine weitere feindliche Brigade aufmarschiert (General Ricard und General Radziwiłł), erhält General Gamen die Weisung, mit der Hälfte der Feld-Truppen nach Rezhitsa (heute Rēzekne, LVA; ca. 85 km nord-östlich von Dünaburg) abzurücken und sich dort bereitzuhalten, als operative Reserve innerhalb eines Tages die Übergänge bei Kreutzburg, Dünaburg und Drissa absichern zu können; nötigenfalls aber auch die strategisch wichtige Kreuzung von Pskow (heute Pskow, RUS) zu verlegen.
Am 28. Juli erhält Wittgenstein von den an der Düna patrouillierenden Kosaken des Generals Jakow Petrowitsch Kulnew die alarmierende Botschaft, dass das aus Richtung Drissa ostwärts marschierende Corps des Marschalls Oudinot allem Anschein nach Vorbereitungen trifft, bei Polozk (heute Polazk, BLR; rund 100 km östlich von Drissa und damals nur am östlichen Ufer der Düna gelegen) über eine dort gelegene und nur wenig bekannte Furt bei Kazmirowi (heute Kazimirovo, BLR) über den Fluss zu gehen. Die hinter Polozk beginnende Post-Straße führt direkt nach St. Petersburg...
Wittgenstein beschließt, Oudinot mit der zweiten Hälfte seines Korps bei Klyastitsy (auch Klasticy, BLR; knapp 50 km nördlich von Polozk) den Weg zu verlegen...
In der Festung zurück bleiben die rund 2.500 Mann der zehn Garnisons-Bataillone und genau 454 Mann des (aus je zwei Reserve-Eskadronen des Isjumer und des Elisabethgrader konsolidierten) Reserve-Husarenregiments unter Major Igor Iwanowitsch Bedrjaga. Mit der Meldung vom Anmarsch des Marschalls MacDonald – der bereits auf dem rechten (östlichen) Ufer vorrückt – gibt die russische Garnison die Festung auf und rückt in der Nacht vom 28. zum 29. Juli in Richtung Rezhitsa ab.
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Von Dünaburg kommend, erreicht das II. Corps am 22. Juli das verlassene Lager von Drissa. Noch immer ist Marschall Charles Oudinot verärgert über das schon beleidigende Schreiben des Generals Louis-Alexandre Berthier, Generalstabs-Chef der "Grande Armée", der aus der Deckung des Großen Haupt-Quartiers und fern der Situation vor Ort die Operationen des II. Corps und insbesondere Oudinots Führung kritisiert hat. Tatsache ist und bleibt somit der Umstand, dass der russischen Armee – vor allem den rund 27.000 Mann Wittgensteins – mit der Festung Dünaburg eine Operations-Basis geblieben ist, aus der nicht nur jederzeit Wilna bedroht und die Nachschub-Routen gestört werden können, sondern auch die von Napoleon geplante Fluss-Schifffahrt für den schnellen Transport von Truppen und Getreide unmöglich ist.
Obwohl Palisaden und Wach-Türme, Unterstände und Block-Häuser bereits von der russischen Armee nieder-gebrannt worden waren, ordnet Oudinot auch die Zerstörung der Schanzen an, die die Mannschaften der drei Infanterie-Divisionen innerhalb eines Tages weitestgehend eingeebnet haben.
Am 24. Juli wird der Aufbruch nach Polozk befohlen (heute Polazk, BLR, rund 100 km östlich von Drissa und damals nur am östlichen Ufer der Düna gelegen). Die Stadt am Fluss Polota – im frühen Mittelalter bedeutendes Handels-Zentrum, Jesuiten-Hochburg und einflußreicher Bischofs-Sitz; seit der Annektion Litauens im Jahr 1772 im Verfall – wird am 26. Juli erreicht. Hier hatte sich der Zar vor knapp einer Woche von seiner Haupt-Armee verabschiedet; hier hatten erst zwei Tage zuvor die Soldaten des III. Corps (Ney) die letzten Vorräte aufgespürt, und Oudinot sieht sich gezungen, bis zur Ankunft seiner Proviant-Wagen Requirierungs-Kommandos auszusenden.

"Vor Polotzk den 25. Juli 1812." Colorierte Lithografie nach einer Zeichnung von Oltn. Christian Wilhelm von Faber du Faur aus dem Skizzen-Buch "Blätter aus meinem Portefeuille im Laufe des Feldzugs 1812 in Russland an Ort und Stelle gezeichnet" in der Sammlung der »Universitätsbibliothek Tübingen« (GER).
Am 27. Juli erhält Oudinot den überraschenden – von General-Stabschef Berthier schwammig formulierten – Befehl des Kaisers, die linke Seite der "Grande Armée" zu flankieren, "damit Sie uns auf jeden Fall unterstützen können, wenn es nötig wird", so möglich aber nicht weiter entlang der Düna in Richtung Osten zu marschieren, sondern bei Polozk über die Düna zu gehen und Wittgensteins Bewegungen zu beobachten, dabei zu verhindern, dass das 1te (russische) Korps in Richtung Norden oder Osten durch-bricht, mit dem Eintreffen des X. Corps bei Dünaburg den Kontakt mit Marschall Étienne MacDonald aufzunehmen und anschließend über Sebezh und Pskow (heute Sebesch bzw. Pskow, beides RUS) die Chaussee nach St. Petersburg hinaufzumarschieren und die Residenz des Zaren zu bedrohen. Und so General Wittgenstein den Vor-Stoß behindern sollte, bekommt Oudinot auch die Order, das 1te (russische) Infanterie-Korps zu zerschlagen.
Oudinot ist irritiert, doch noch am selben Tag geht die 5te (leichte) Kavallerie-Brigade unter General Bertrand-Pierre Castex an der Furt von Kazmirowi (heute Kazimirovo bei Polosk, BLR) über die Düna und sichert das östliche Ufer; der Vortrab erreicht bis zum Mittag die Drissa, schlägt dort einen provisorischen Übergang und kann bis zum Abend ungehindert bis Sokolischzy vorstoßen (Sokolishche, BLR; knapp 40 km nördlich von Polozk). Innerhalb von acht Stunden errichten die 97 Pontonniers der 5ten oder 6ten Kompanie des 2ten Bataillons Pontonniers eine 58 Meter langen Bock-Brücke, über die am Nachmittag die 6te Infanterie-Division unter General Claude Juste Alexandre Legrand als Avant-Garde marschiert.
Die 8te Infanterie-Division unter General Jean Antoine Verdier und die 6te (leichte) Kavallerie-Division unter General Jean-Baptiste Juvénal Corbineau decken Artillerie-, Train- und Bagage-Kolonne; die als Arrière-Garde eingesetzte und noch bei Disna (heute Dsisna, BLR; ca. 40 km westlich von Polozk) stehende 9te Infanterie-Division unter General Pierre Hugues Victoire Merle, erst am Vor-Tag aus dem ruinierten Feld-Lager von Drissa abmarschiert, passiert die Düna durch die dort ausgemachte Furt und erhält die Weisung, bei Sivoshino (heute Wüstung; Gedenk-Stätte von General Jakow Petrowitsch Kulnew [Pamyatnik General-Mayoru Kul'nevu]) den Anschluss an das Corps zu finden und die Route als möglichen Rückzugs-Weg zu decken. Mehrfach wird die Kolonne von russischen Hussaren und Kosaken angegriffen. Infolge des Verlustes von knapp 100 Reit- und Zug-Pferden und wiederholt nötiger Halts zum Aus- und Einspannen erreicht General Corbineau das ihm befohlene Etappen-Ziel erst kurz vor Mitternacht.
Oudinot biwakiert mit dem Gros des Corps zwischen Borowucha und Biala (heute Borovtsy bzw. Belae, BLR).
Am frühen Morgen des 29. Juli machen Vedetten der von den Generälen Jakow Petrowitsch Kulnew und Michail Dmitrijewitsch Balk kommandierten Vorhut – 1.500 Husaren und Kosaken mit drei Kompanien Artillerie zu Pferd und 4.000 Mann Infanterie, die bei Valenczi (heute Volyntsy, BLR) biwakieren – die ersten französischen Streif-Trupps auf dem östlichen Ufer der Düna aus.
Eine knappe Stunde später erteilt Wittgenstein, der mit Haupt-Quartier bei Kokonowo lagert (heute Kokhanovichi, BLR; knapp 20 km nördlich von Volyntsy), seinem halbierten Korps den Marsch-Befehl in Richtung Kljastizy (heute Klyastitsy, BLR).
General Gamen, erst vor zwei Tagen nit dem zweiten Teil des 1ten Korps nach Rezhitsa aufgebrochen, erhält die Order, an der von dort abgehenden und ost-wärts führenden Straße nach Moskau bei Sebezh (heute Sebesch, RUS) eine zweite Auffang-Linie zu errichten.
Am Vormittag des 29. Juli treffen Einheiten der Kavallerie-Brigade "Corbineau", die die Verbindung zwischen der von Marschall Oudinot kommandierten Haupt-Streitmacht und der 9ten Infanterie-Division herzustellen hat, bei Filippov (heute Filipovo, BLR) auf die von den Generälen Kulnew und Balk geführten Husaren des Grodnoer Regiments und einen Pulks Don-Kosaken. In den dann ausbrechenden Reiter-Kämpfen verlieren das 20ste Regiment Jäger zu Pferd und das 8te Regiment (polnische) Lanciers insgesamt 167 Soldaten und Offiziere. Oudinot erreicht mit seiner Haupt-Streitmacht Siwoszina, geht über die Drissa (rechter Neben-Fluss der Düna) und marschiert auf Sokoliszcze (Sokolishche, BLR).
Am 30. Juli besetzt Oudinot das Dorf Kljastizy (auch Klasticy oder Klascice, BLR; knapp 50 km nördlich von Polozk) mit rund 28.000 Soldaten und 114 Geschützen. Ihnen gegenüber zieht General Wittgenstein etwa 13.000 Soldaten und 72 Geschütze seines Korps zusammen, die im Lauf des Tages noch von Kulnews 3.700 Reitern und weiteren 12 Geschützen verstärkt werden. Trotz der beinahe doppelten Überlegenheit des französisch-schweizerischen Corps ist Wittgenstein zum Angriff entschlossen. Westlich des Dörfchens Jakubow (Yakubovo; ca. 3 km westlich von Klyastitsy) treffen die Avant-Garden beider Parteinen 14:00 Uhr aufeinander. Kulnew gelingt es nicht nur, erneut die französische Kavallerie zurückzuschlagen, sondern auch der gegen 16:00 Uhr zur Verstärkung gekommenen 6ten französischen Infanterie-Division unter General Legrand mit Kartätschen-Feuer derartige Verluste zuzufügen, dass Oudinot nach etwa sechs Stunden heftigster Gefechte den Rückzug nach Jakubow befiehlt, wo die Infanterie-Division Verdier und die von General Grouchy abgegebene 3te Kürassier-Division unter General Jean-Pierre Doumerc als zweites und drittes Treffen in die Schlacht eingreifen, gegen 20:00 Uhr auf Jakubow zurück-gehen und sich dort am Abend verschanzen.
Im ersten Licht des 31. Juli befiehlt Wittgenstein den Sturm-Angriff. Im Ergebnis der dann bis zum Nachmittag geführten Angriffe und Gegen-Angriffe ziehen sich die Franzosen erst hinter den Lauf der Nishcha (Nisjtja) und – nachdem es den Soldaten des 2ten Bataillons des Pawlowsker Grenadier-Regiments gelungen ist, die in Brand gesetzte Brücke über die Nishcha zu erobern und zu löschen – nach Klyastitsy zurück, wo sich seine Soldaten erneut verschanzen. Der Bajonett-Angriff des 2ten Bataillons der Pawlowsker Grenadiere reißt die gesamte russische Infanterie mit, und Oudinot, der bereits bei Jakubow seine persönliche Bagage verloren hat, befiehlt nach Bekanntwerden erster Verlust-Schätzungen (die beiden Infanterie-Divisionen haben in den gnadenlos geführten Kämpfen inzwischen rund fünfzehn Prozent ihres Personalstands verloren; spätere Berichte melden 464 Tote, 2.925 Verwundete und 867 Gefangene) und eingehenden Meldungen, dass die Kosaken bereits begonnen haben, das Dorf von Norden her zu umgehen und die abgekämpften Verbände des II. Corps vor der unmittelbaren Gefahr stehen, eingeschlossen zu werden, den sofortigen Rückzug auf das westliche Ufer der Düna, der noch in der Nacht eingeleitet wird. Wittgenstein nimmt im Dorf Quartier, lässt seine Soldaten mit Front zum Feind ordnen und an Ort und Stelle biwakieren.

"Schlacht bei Kljastizy." (Kulnews Attacke an der Spitze der Grodnoer Husaren) Gemälde von Mykola Semenowytsch Samokysch im »Staatlichen Militärhistorischen Panorama-Museum Borodino« (nahe Moskau, RUS). Bildquelle: ► »Art-Katalog« (Sammlung von Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen russischer Museen).

"Schlacht bei Kljastizy." (Das 2te Bataillon des Pawlowsker Grenadier-Regiments überquert die brennende Brücke über die Nishcha) Gemälde von Peter Hess in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
Am Morgen des 1. August melden Kulnews Kosaken, dass die Franzosen bereits über die Drissa gegangen sind und ein stark gesichertes Biwak nahe des Gutes Bojarschina (heute Wüstung zwischen den Seen Kleshno und Lon'ye, BLR) bezogen haben. General Kulnew, der mit den Grodnoer Husaren und den Rigaer Dragonern, einigen Hundert Don-Kosaken, einer Batterie Artillerie zu Pferd und einem Infanterie-Bataillon die Verfolgung des französischen Corps aufgenommen hat, gerät nach seinem Übergang über die Drissa in einen Hinterhalt von Einheiten der 8ten Infanterie-Division des Generals Verdier, die in den dichten Wäldern beidseits des Weges nach Polozk in Deckung gegangen sind und die russische Vorhut mit einem heftigen Musketen- und Kartätschen-Feuer belegen.
Mit hohen Verlusten und verfolgt von den korsisch-italienischen-walliser Tirailleurs des 11ten (leichten) Infanterie-Regiments unter Colonel Pierre Francois Vincent de Casabianca zieht sich Kulnews Abteilung wieder über die Drissa zurück. Bei Golovshchina (Golovchitsy, BLR) treffen die Franzosen auf Wittgensteins Korps, das sofort zum Gegen-Angriff übergeht und wiederum die voreilige französische Infanterie zurück-wirft.

Hinterhalt bei Bojarschina. Karte aus der russischen Kriegs-Geschichte: »Militärische Konflikte, Feldzüge und Militäreinsätze russischer Truppen von 860 bis 1914«. Bildquelle: ► russischen Online-Bibliothek »Runivers«.
Colonel Casabianca, der an der Spitze seines Regiments den Rückzug der Division deckt, wird in den hier erbittert geführten Nah-Kämpfen tödlich verwundet. Kurz darauf finden die Kosaken nahe der Drissa General Kulnew in seinem Blut: Eine Kanonen-Kugel hat dem in der Truppe beliebten Vorhut-Kommandeur beide Beine oberhalb der Knie abgerissen.
Am Abend des 1. August muss Marschall Oudinot seinem Kaiser eine weitere Niederlage melden: Der Vormarsch auf St. Petersburg ist gescheitert; er hat bereits den Rückzug über die Düna eingeleitet und wird die Passagen nahe Polozk und bei Disna sichern. Die 8te Division Verdiers muss infolge der außerordentlichen Verluste neu geordnet werden.
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Nach einer fünf-tägigen Marsch-Pause bei Raskimosy nahe Braslau (heute wahrscheinlich Ratiunki oder Raciunki, BLR) gibt Marschall Michel Ney den Soldaten des III. Corps am 19. Juli den Befehl zum Aufbruch nach Witebsk, auf das auch die von Napoleon geführte Haupt-Armee marschiert. Dem Lauf der Düna mit mehr oder weniger deutlichem Abstand zu den gefährlichen Ufer-Regionen folgend, marschiert das Corps – laut dem "Tagebuch von 1812", geschrieben von Ernst Wilhelm von Baumbach, Leutnant im 1ten (würtembergischen) Infanterie-Regiment "Prinz Paul" – über Okoloky (19. Juli), Bonachon (20. Juli), Kruki (21. Juli), Disna (heute Dsisna, BLR; 22. Juli), Banoni (23. Juli), Kazmirowi (Kazimirovo bei Polosk, BLR; 24. Juli), Uswicha (25. Juli), Dubischa (Dubishche, BLR; 26. Juli) und Beshankovichi (heute Beshankovichy, BLR).
Am 27. Juli erreicht die Avant-Garde des III. Corps Ostrowno (Ostrovno, BLR; ca. 25 km westlich von Witebsk); noch am Vortag Schauplatz der blutigen Gefechte zwischen dem I. Reserve-Kavallerie-Corps Murats und dem IV. (italienischen) Corps des Vize-Königs Eugène gegen Verbände des 3ten und 4ten (russischen) Korps unter den Generälen Alexander Ostermann-Tolstoy und Pjotr Petrowitsch Konownizyn. Am Straßen-Rand und in den umliegenden Wäldern liegen noch immer Hunderte Tote, Sterbende und Schwer-Verletzte beider Parteien; hilflos den Scharen von Plünderern ausgesetzt, die sich um den Besitz der Soldaten prügeln. Aber auch Neys Soldaten können sich ihrer Kameraden nicht annehmen: Der Kaiser, der am 28. Juli vor Witebsk eine Bataillie gegen die etwa 75.000 Mann starke Armee des russischen Generals Barclay de Tolly schlagen will, benötigt jede verfügbare Kompanie und erteilt Marschall Ney den Befehl, noch in der Nacht rund 20 Kilometer weiter bis Dobreika (ca. 8 km süd-westlich von Witebsk) zu marschieren und sich dort mit Murat und Eugène zu vereinen.
Am Morgen des 28. Juli bezieht das III. Corps am linken Ufer des Flüssches Luchesa (heute Lučosa) ein Biwak. Auf dem anderen Ufer sind noch die Rauch-Säulen der verloschenen russischen Wacht-Feuer sichtbar, und bald bestätigt sich das Gerücht, dass sich die russische Armee über Nacht und in aller Stille "in Rauch aufgelöst" hat.
Napoleon ist außer sich vor Wut.
Wieder hat sich Barclay de Tolly einer entscheidenden Schlacht entzogen, und die "Grande Armée" – verteilt über ein riesiges Operations-Gebiet und aufgelöst in einzelne Kolonnen – ist nach vier Wochen ununterbrochener Verfolgungs-Märsche unter Abriss der rückwärtigen Verbindungen -, somit ohne Proviant und entgegen allen Planungen auch weitestgehend ohne Möglichkeiten der Proviantierung -, weder in der Lage, der russischen Armee weiter über die alte russische Grenze nach Smolensk zu folgen, noch in einem Zustand, der dem Kaiser eine Schlacht erlaubt. Napoleon hat Einsehen und gönnt seiner Armee die dringend nötige Marsch-Pause.
Das III. Corps, das über Falkowiczy (Sokol'niki, BLR; 29. Juli) und Krasinsky (Krasyni, BLR; 30. Juli) in Richtung Smolensk vorverlegt wird, bezieht am 31. Juli mit Haupt-Quartier in Liozno (Ljosna, BLR) die zugewiesenen Kantonierungen. Und obwohl kurz darauf sogar einige Fuhren Brot und Brannt-Wein die Truppe erreichen, zerschlägt sich die Hoffnung, dass die versprochenen Proviant-Konvois in wenigen Tagen eintreffen und die Soldaten besser und vor allem regelmäßig versorgt werden, schnell. Bereits nach drei Tagen müssen die Requirierungs-Kommandos wieder ausrücken. Doch die Gegend ist überbelegt, die Felder von den Kosaken verwüstet -, die Scheunen beräumt; die Suche nach Lebens-Mitteln wird tagtäglich anstrengender und gefährlicher; die provisorischen Spitäler sind bald überfüllt und als Seuchen-Herde gefürchtet. Und verfügte das Corps im Feld-Lager von Braslau vor genau zwei Wochen noch über 30.500 Mann, weisen die Personalstands-Berichte, die die Kompanien an die Bataillone -, die Bataillone an ihre Regimenter und diese wieder an den Stab ihrer jeweiligen Division melden, in der Summe, wie sie letztendlich am 1. August Marschall Ney vorgelegt werden, die Gesamt-Stärke des III. Corps mit nur noch 25.760 Mann aus.
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"Neben der Straße von Braslaw nach Disna den 21. Julius 1812."
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"Auf dem Weg von Braslaw nach Dzisna, 21. Juli 1812." |
"Bivouac vor Disna den 23. Julius 1812." |
"Am Ufer der Düna oberhalb Polotzk den 25. Juli 1812." |

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"Im Bivouac vor Ula den 26. Julius 1812." |
"Bei Beschenkowitschi den 28. Julius 1812. Morgens 5 Uhr." |
"Bei Beszinkowiczi am Ufer der Düna den 29. Julius 1812."
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"Vorstadt von Beschenkowitschi auf dem rechten Ufer der Düna den 29. Julius 1812." |

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"Vor Beschenkowitschi den 30. Julius 1812." |
"Auf der Straße zwischen Beschenkowitschi und Ostrowno, 31. Julius 1812." |
"Bei Ostrowno den 1. August 1812." |
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Colorierte Lithografien nach Zeichnungen von Oltn. Christian Wilhelm von Faber du Faur aus dem Skizzen-Buch "Blätter aus meinem Portefeuille im Laufe des Feldzugs 1812 in Russland an Ort und Stelle gezeichnet" in der Sammlung der »Universitätsbibliothek Tübingen« (GER). |
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Sa., 18. Juli, bis Fr., 31. Juli: Gefechte der Haupt-Armee |
Napoleon, der am 16. Juli Wilna verlassen und am 17. in Kobylnik (heute Narač, BLR; etwa 100 km östlich von Wilna) Quartier genommen hatte, trifft am 18. Juli in Glubok ein (heute Hlybokaje, BLR; etwa 160 km nord-östlich von Wilna bzw. auf halber Strecke nach Witebsk). Die Meldungen, dass Barclay de Tolly das Lager von Drissa aufgegeben hat und mit seiner Armee über Polozk in Richtung Witebsk marschiert (heute Polazk bzw. Wizebsk, BLR) und Bagration seine Armee in Bobruisk (heute Babrujsk, BLR) ordnet und sich darauf vorbereitet, dem Lauf des Dnjepr nordwärts zu folgen und bei Mogilew (heute Mahiljou, BLR) die französischen Linien zu durchstoßen, lässt für Napoleon nur den Schluss zu, dass die Vereinigung beider Groß-Verbände am Kreuz-Punkt beider Straßen – bei Witebsk – erfolgen soll. Der Erfolg seines nunmehr improvisierten Planes, mit der Masse seiner Armee zwischen Witebsk und Smolensk in Stellung zu gehen, dort der 1ten (russischen) West-Armee den weiteren Rückzugs-Weg zu verlegen und den Verband anschließend im Zusammen-Wirken mit dem von Murat heran-geführten linken (nördlichen) Flügel in die Zange zu nehmen, hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, die einzelnen Corps der "Grande Armée" auf den Tag genau um Witebsk zusammenzuziehen. Die 1te russische Armee muss entweder die Schlacht annehmen oder in Richtung Pskow ausweichen.
Die Corps der französischen Haupt-Armee – Garden, das IV. (italienische) Corps des Vize-Königs Eugène und VI. (bayerische) Corps unter Marschall Laurent de Gouvion Saint-Cyr bei Dokchytsy (Dokšycy, BLR) – bekommen den Befehl zum sofortigen Abmarsch in Richtung Polozk-Beshankovichi (heute Beshankovichy, BLR) mit Ziel Witebsk, wohin auch Marschall Michel Ney bestellt wird, der seit dem 15. Juli mit dem III. Corps bei Raskimosy am Braslauer See (heute Ratiunki oder Raciunki, BLR) biwakiert. Oudinot, der an diesem Tag das verlassene Lager von Drissa besichtigt, erhält die Order, mit den knapp 40.000 Mann seines II. Corps gegen das bei Druja (heute Druya, BLR) an der Düna zurückgebliebene 1te russische Korps Wittgensteins vorzugehen. Die von Murat kommandierte Avantgarde-Kavallerie hat der russischen Armee zu folgen, die einzelnen Korps zu beobachten und ausgemachte Änderungen der Marsch-Richtungen sofort an das Haupt-Quartier zu melden.
Die wichtigste Aufgabe erhält Marschall Louis-Nicolas Davout, der mit dem I. Corps östlich von Igumen in Richtung Holowczin vorrückt, das dessen Avant-Garde bereits am 17. Juli erreicht hat (heute Tscherwen bzw. Holowczyn, beides BLR; ca. 60 bzw. 150 km östlich von Minsk): Mit allen verfügbaren Kräften hat Davout den Marsch der 2ten (russischen) Armee den Dnjepr hinauf in Richtung Witebsk zu stoppen und die beiden Korps des russischen Generals Bagration nach Möglichkeit zu zerschlagen. Zu diesem Zweck erhält Davout auch das Ober-Kommando über das V. (polnische) -, das VIII. (westphälische) und indirekt auch über das XII. (kaiserlich-österreichische) Corps. Davout hat damit das Kommando über sämtliche Verbände des rechten (südlichen) Flügels und löst damit nunmehr auch offiziell Jérôme, den jüngeren Bruder des Kaisers, als Ober-Befehlshaber ab.

Karte des Gouvernements Witebsk um 1820 Kartographie von Wasili Petrowitsch für das »Militär-Kartografische Depot« (St. Petersburg, um 1820). Bildquelle: ► »Library of Congress« (Washington, D.C., USA).
Ab dem 19. Juli gehen die Corps der "Grande Armée" in die Offensive: Die fünf Brigaden des Kavallerie-Korps der Garde unter Marschall Jean-Baptiste Bessières -, die zwanzig Bataillone der Jungen Garde unter Marschall Édouard Mortier und die der Garde unterstellte bayerische Kavallerie-Division stoßen bis Uszaczka (Ushachy, BLR) vor und vereinigen sich hier mit dem IV. Corps (Eugène); General Édouard de Colbert-Chabanais dringt mit der 3ten (Avant-Garde-) Brigade der Garde-Kavallerie bis Orsha vor (heute Orscha, BLR) und verlegt hier mit dem 2ten und 3ten Regiment "Chevau-Légers Lanciers de la Garde Impériale" die Straße, über die Bagration nach Witebsk marschieren oder Barclay de Tolly nach Süden ausweichen könnte (in der augenscheinlich eiligst verlassenen Stadt machen die leichten Reiter der Garde ein Armee-Magazin aus, das neben einer Masse von Uniform-Teilen und Hand-Waffen aller Art auch beträchtliche Mengen von Mehl und Hafer enthält).
Chevau-légers Lanciers de la Garde impériale. V.l.n.r.: 1er Regiment "Lanciers polonais". Aquarell von Jan Chełmiński. Bildquelle: ► »AGRAART« (Warschau, POL). 2e Regiment "Lanciers hollandaise" (Lanciers rouges - tenue de campagne). Aquarell von Lucien Rousselot, lt. ► »mutualart« in Privat-Besitz. 3e Regiment "Lanciers lituaniens" - Trompeter. Aquarell von Bronislaw Gembarzewski, lt. Auktions-Haus ► »OneBid« (Warschau, POL) in Privat-Besitz.
Angetan vom Geschick der polnischen Ulanen im Umgang mit der Lanze, befahl Napoleon mit Dekret vom 5. April 1807 die Errichtung von vier Eskadronen Lanciers, die als 1tes Regiment Chevau-légers Lanciers in die Mittlere Garde -, für die Verdienste in Spanien dann ab 1809 in die Alte Garde eingereiht wurden. Das 2te Regiment ging aus der niederländischen Garde zu Pferd hervor, die nach der Angliederung des König-Reichs Holland an das napoleonische Kaiser-Reich mit Dekret vom 13. September 1810 in die Mittlere Garde aufgenommen und in ein Lancier-Regiment umgewandelt wurde. Aufgrund ihrer scharlach-roten Uniformen anfänglich mit dem Spott-Namen "Fluss-Krebse" bedacht, wurde dieser Titel in Russland bald in einer Mischung aus Respekt und Entsetzen genannt und die vier holländischen Eskadronen der "Lanciers rouges" erhielten infolge ihrer – herausragenden und gleichso verlust-reichen – Einsätze gegen Kosaken und Partisanen den Status einer Elite-Einheit. Mit Dekret vom 5. Juli 1812 wurden schließlich in Wilna und Grodno drei weitere Eskadronen formiert, die mit den beiden zeit-gleich in Warschau aus litauischen Adeligen errichteten Eskadronen das 3te (litauische) Regiment Chevau-légers Lanciers bildeten. Dieses Regiment erlitt im Verlauf des Russland-Feldzuges derart hohe Verluste, dass die Reste mit Dekret vom 22. März 1813 im 1ten Regiment aufgingen.
Von Disna kommend, erreicht Marschall Murat an der Spitze seiner Kavallerie am 20. Juli das Dörfchen Kazmirowi (Kazimirovo, BLR) am westlichen Ufer der Düna. Die hier gelegene Furt ermöglicht die Passage hinüber in die ehemalige Erz-Diözese Polozk (heute Polazk, BLR), die erst am Vortag von der Nachhut der russischen Haupt-Armee geräumt wurde. General Étienne Marie Antoine Champion de Nansouty, der mit dem I. Reserve-Kavallerie-Corps im Dorf Ekiman bei Polozk biwakiert, bekommt von Murat den Befehl zum beschleunigten Marsch auf Witebsk; als Avant-Garde ein Detachement vom 2ten preussischen (konsolidiertes) Husaren-Regiment unter Johann Wilhelm von Czarnowsky.
Die zwanzig Husaren unter Führung von Leutnant von Borcke treffen am 21. Juli auf einer Ebene nahe der Ula (bei Ul'yanovka ausgehender Neben-Arm der Düna) auf einen Kosaken-Streiftrupp, der sich nach kurzem Geplänkel und verfolgt von dem übermütigen Leutnant auf das rechte Ufer des Flüsschens zurückzieht. Als die Husaren kurz darauf vor der Gefahr stehen, von den plötzlich überall auftauchenden Kosaken überwältigt zu werden, geht der nächste Zug unter Leutnant von Hobe über den Fluss; schließlich sind beide Eskadronen des brandenburgischen Kontingents auf dem östlichen Ufer versammelt und reiten zur Attacke gegen die russischen Reiter an, die sich bald in voller Stärke – über 1.000 Mann und damit zwei Pulks – präsentieren.
Die rund 300 brandenburgischen Husaren werden von den beiden weit überlegenen Kosaken-Pulks gegen die Ula zurückgeworfen, wo sich inzwischen auch die beiden pommerschen Eskadronen des Regiments formiert haben. Zu ihrer Überraschung tauchen hinter den Kosaken die blauen Husaren vom Mariupol'schen Regiment auf, womit die russische Reiterei der preussischen um das Dreifache überlegen ist. In dem dann ausbrechenden Gemetzel schlagen sich die Preussen so erbittert, dass der russische Kavallerie-Verband unter hohen Verlusten und Zurücklassung einer erheblichen Zahl von Blessierten das Schlacht-Feld verlässt.
Am 23. Juli werden die Preussen in der Avant-Garde vom 8ten (französischen) Husaren-Regiment abgelöst.
Noch am 21. Juli trifft Murat in Bocheikovo ein (ca. 60 km süd-östlich von Polozk); die von General Hippolyte-Marie de Rosnyvinen (de Piré) geführte Avant-Garde steht bei Beshankovichi; General Nansouty rückt bis zur Stadt Ulla am westlichen Ufer vor. Napoleon selbst zieht mit seinen Garden in Kamien ein (heute Kamen, BLR; etwa 70 km östlich von Dokchytsy), das Eugène mit dem IV. Corps bereits am Vortag erreicht hat. Etwa 40 Kilometer dahinter marschiert Marschall Saint-Cyr mit dem VI. (bayerischen) Corps in Kubluczi ein (heute Kublichi, BLR; 40 km östlich von Glubok).
Am 22. Juli erhält General Louis-Pierre Montbrun von Murat den Befehl, mit dem II. Reserve-Kavallerie-Corps bei Kazmirowi über die Düna zu gehen und der russischen Haupt-Armee nunmehr auf rechten Ufer zu folgen.
Am 23. Juli steht das kaiserliche Haupt-Quartier noch immer in Kamien, Eugène mit dem IV. Corps biwakiert bei Beshankovichi, wo er von Murat informiert wird, dass Barkley de Tolly die Düna-Brücke hinüber nach Witebsk erreicht hat. Murat erteilt den Generälen Jean Pierre Joseph Bruguière (genannt Bruyères), Kommandeur der 1ten (leichten) Kavallerie-Division, und Antoine Louis Decrest de Saint-Germain, Kommandeur der 1ten (schweren) Kürassier-Division, die Order, schnellst-möglich am westlichen Ufer der Düna vorzustoßen und die nach Westen und Süden führenden Straßen zu besetzen. Am 24. Juli lässt Napoleon das kaiserliche Haupt-Quartier nach Beshankovichi verlegen.

"Convoi d´ambulances en avant de Dokscice le 20 Juillet" (Sanitäts-Konvoi vor Dokscice am 20. Juli). Stich nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...", in der Sammlung der Polnischen »National-Bibliothek« (Warschau, POL).

"In der Nähe von Beschenkowitschi am 23. Juli." Colorierte Lithografie nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ..." Bildquelle: ► WIKIPEDIA.

"Hauptquartier bei Beschenkowitschi am 24. Juli." Colorierte Lithografie nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ..." Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
Mit Napoleons Entscheidung, am Morgen des 17. Juli von Kobylnik aus nicht in Richtung Nord-Osten über Mėrai (heute Mjory, BLR) auf die inzwischen gewonnenen Düna-Übergänge zu marschieren, sondern sich ostwärts nach Glubok zu wenden, bestätigt sich für den russischen Militär-Rat um General Barclay de Tolly die Annahme, dass Napoleons Ziel nicht St. Petersburg ist, sondern der Haupt-Angriff auf Moskau zielt; der Kaiser damit an seiner These festhält, dass der Krieg gewonnen ist, so er die gegnerische Haupt-Stadt gewonnen hat. Die 1te (russische) West-Armee, die am 19. Juli bei Polozk und hier vor der Entscheidung steht, nach Norden über Pskow (Pskow, RUS) die Residenz- oder nach Osten, an der Grenze nach Alt-Russland, die Haupt-Stadt decken zu müssen, zieht ab dem 20. Juli über die am rechten Ufer der Düna verlaufende Straße weiter in Richtung Osten und erreicht am 23. Juli Witebsk. Hier gehen das 1te Kavallerie- und das 3te, 4te und 5te Infanterie-Korps wieder über die Düna und beziehen vor der Stadt – am rechten Ufer des Flüsschens Luchesa (heute Lučosa) – Stellung; das 2te Infanterie- und 2te Kavallerie-Korps bleiben bis auf weiteres am rechten Ufer bei Witebsk und sichern den Übergang bis zur Fertig-Stellung der Lager-Verschanzungen. Das 6te Infanterie- und das 3te Kavallerie-Korps haben bereits am Vortag bei Kuzylow (auch Kurilovshchina, heute Wüstung etwa 6 km westlich von Staroe Selo) einen Beobachtungs-Posten gegen das II. Reserve-Kavallerie-Corps unter Marschall Montbrun besetzt; beide Verbände ziehen sich nun ebenfalls in Richtung Witebsk zurück, um hier die vom 2ten Korps gestellte Brücken-Wache abzulösen. General Alexander Iwanowitsch Ostermann-Tolstoi, Kommandeur des 4ten Infanterie-Korps, erhält den Befehl, die aus Richtung Beshankovichi kommende Straße zu verlegen und die französische Kavallerie aufzuhalten, bis die russische Artillerie eingetroffen ist. General Bagration, der nach Schätzungen Barclay de Tollys zwischen Bychow und Mogilew steht (heute Bychau bzw. Mahiljou, BLR), wird in spätestens zwei bis drei Tagen den Schau-Platz erreicht haben und bestenfalls einen Angriff aus der Bewegung auf die linke Flanke der "Grande Armée" beginnen können.
Zusammen mit den beiden von Bagration geführten Infanterie-Korps hofft Barclay de Tolly, stark genug zu sein, die einzeln heran-marschierenden Corps Napoleons nacheinander schlagen zu können.

"Napoleon rekognosziert mit vier bayerischen Kavallerie-Regimentern das rechte Düna-Ufer, 24. Juli 1812." Lithografie nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ..." (Nr. 31). Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
Am 24. Juli haben die fünf Infanterie-Korps der 1ten Armee die ihnen zugewiesenen Bereitstellungs-Räume vor Witebsk bezogen und eine halbkreis-förmige Front zu den beiden aus Westen kommenden Straßen gebildet. Und so sehr die meisten Soldaten zum Kampf entschlossen sind und den Invasoren in der bevor-stehenden Schlacht keine Gnade gewähren wollen, so sehr hoffen die übermüdeten und weitestgehend entkräfteten Infanteristen nach rund 500 Kilometern Eil-Marsch auf wenigstens drei Tage Ruhe und Erholung; die Kosaken ziehen ein weites Netz von Vorposten.
Am Morgen des 25. Juli werden knapp 3 Kilometer süd-östlich vor dem "Ruhe-Lager" der russischen Armee Reiter gesichtet, die anfänglich als Vor-Trab der aus dieser Richtung erwarteten Armee Bagrations gedeutet werden, sich aber bald als französische Reiter-Patrouillen erweisen, die augenscheinlich die Straßen von und nach Bialynicze bzw. Orsha erkunden (heute Belaya Lipa und Orscha, BLR), ohne dass die überall herum-streifenden Kosaken oder die bereits auf der Straße Beshankovichi-Witebsk aufgestellten Vorposten Alarm geschlagen haben. Die Armee bezieht die vorbereiteten Verteidigungs-Positionen, die – da das Erscheinen des Feindes eigentlich aus westlicher Richtung erwartet worden war – eiligst nach Süden erweitert werden.
Kurz darauf melden auch die Vorposten des 4ten Infanterie-Korps des Grafen Osterman-Tolstoi Sichtungen französischer Kavallerie, die bereits das Dörfchen Ostrowno (Ostrovno, BLR; ca. 25 km süd-westlich von Witebsk) passiert hat und sich den dichten Kiefern-Wälder nähert, die sich über gut 10 Kilometer bis hin zum Dörfchen Dobreika (Dobreika, BLR; ca. 8 km süd-westlich von Witebsk) ziehen. Vier Musketier- und zwei Jäger-Regimenter der 11ten russischen Infanterie-Division unter General Nikolai Nikolaiewitsch Bachmetew in zehn Bataillonen sind in den Wäldern längs der Straße nach Witebsk -, nördlicher-seits an den Trampel-Pfaden am Ufer der Düna und südlich des Straße in den hier gelegenen Bruch-Wäldern in Stellung gegangen, hinter ihnen in zweiter Linie die 23te russischen Infanterie-Division unter General Modest Matwejewitsch Okulow, Kommandeur der 1ten Brigade, mit sechs Bataillonen; zusammen rund 10.000 Mann. Dazu die 11te und 23te Feld-Artillerie-Brigade mit insgesamt 72 Geschützen; größtenteils aber noch im Anmarsch.
Einigen Quellen nach eröffnet eine schnell aufgefahrene russische Batterie zu Pferd das Feuer auf die anrückenden Jäger des 6ten und die Husaren des 8ten (französischen) Regiments der 4ten (leichten) Kavallerie-Brigade des Generals de Piré, die von General Philippe Antoine Ornano geführt wird und hier schwere Verluste erleidet. Anderen Beschreibungen nach attackieren die Husaren des russischen Garde- und des Sumsker Regiments, die Dragoner des Garde- und des Ingermanland-Regiments und die berittenen Jäger (bzw. leichten Dragoner) des Nezhinskiier Kavallerie-Regiments Front und Flanke der französischen Avantgarde-Kavallerie, die zwar kurz darauf vom 2ten preussischen (konsolidierten) Husaren-Regiment verstärkt wird, sich aber – verfolgt von der russischen Kavallerie – nach Ostrowno -, hin zu der dort inzwischen aufgerittenen 1ten (leichten) Kavallerie-Division unter General Bruguière (Bruyères) zurückzieht. General Nicolas François Roussel d'Hurbal, Kommandeur der 15ten (leichten) Kavallerie-Brigade, führt den französischen Gegen-Angriff, und unter ebenfalls schweren Verlusten zieht sich nunmehr die russische Kavallerie wieder zurück. Auch die russische Infanterie, die General Osterman-Tolstoi zwischen-zeitlich durch die Wälder beidseits der Straße geschickt hat, um die Flanken der französischen Kavallerie zu umgehen und anzugreifen, ist gezwungen, schnellstens wieder in den Schutz der Wälder zurückzuweichen. Aus der Deckung der Bäume eröffnen die Musketiere das Schnell-Feuer.

"Combat l´Ostrovno le 25 Juillet" (Gefecht bei Ostrovno am 25. Juli). Lithografie nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...", in der Sammlung der Polnischen »National-Bibliothek« (Warschau, POL).
Zusammen mit den Husaren des 7ten (französischen) Regiments gehen auch die preussischen Husaren gegen die immer zahlreicher vertretene russische Artillerie vor: Unter zahlreichen Verlusten kommen die Preussen zwischen die russischen Kanonen, hauen die Bedienungen nieder und könnten ganze Batterien mit zurück-nehmen, so das 7te Husaren-Regiment den Angriff unterstützt hätte...
Im dann folgenden Musketen- und Kartätsch-Feuer verlieren die Preussen 37 Mann und 43 Pferde an Toten und 43 Mann und 37 Pferde an Verwundeten.
Murat, der noch am Vormittag mit der 1ten Kürassier-Division unter General Saint-Germain vor Ort eintrifft (anderen Quellen nach dort bereits sein Haupt-Quartier hat), fehlt es an Infanterie und angesichts von nur zwei berittenen Batterien vor allem an Geschützen. Im Ergebnis der dann folgenden, den ganzen Tag währenden Gefechte gelingt den Franzosen zwar die Vernichtung von zwei Schwadronen der russischen Garde-Husaren und die Eroberung einer russischen Batterie, doch weitere Vorstöße über die Straße nach Witebsk brechen im Kreuz-Feuer der russischen Bataillone, die den Schilderungen nach beidseits der Weg-Ränder Karrees formieren, und der Kartätschen-Salven der nachgeholten Artillerie zusammen. Erst das Eintreffen einiger französischer Batterien zu Pferd, die systematisch das Gebüsch an den Wald- und Weges-Rändern unter Feuer nehmen, und infolge des Umstandes, dass der russischen Artillerie und bald auch der Infanterie die Munition ausgeht, macht es der leichten französischen Kavallerie möglich, die eigene Artillerie näher heranzubringen.
Nach verschiedenen Schilderungen verharren die russischen Infanterie-Bataillone vollkommen wehrlos im Kartätsch- und Kugel-Hagel und werden reihenweise nieder-geschossen. Angesichts des sinnlosen Sterbens und des Gemetzels prägt Graf Osterman-Tolstoi der Legende nach noch auf dem Schlacht-Feld von Ostrowno die Devise, mit der noch im 21. Jahrhundert die gepriesene Standhaftigkeit der Soldaten der russischen Armee durchgesetzt wird: "Steht und sterbt!", befiehlt er seinen Musketieren.

25. Juli 1812: "Prinz Eugene de Beauharnais bei Ostrovno." Gouache von Albrecht Adam, lt. »Christie's« im Juni 2022 verkauft.

"Transport de prisoniers de guerre Russis le 25 Juillet" (Transport russischer Kriegs-Gefangener am 25. Juli). Stich nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...", lt. Auktions-Haus »OneBid« (Warschau, POL) in Privat-Besitz.
Erst mit der Ankunft der 13ten (1ten italienischen) Infanterie-Division unter General Alexis Joseph Delzons, der die Avant-Garde des IV. (italienischen) Corps führt, geht die Initiative an die Franzosen und ihre Verbündeten: Mit Hilfe kollaborierender Orts-Kundiger kann Delzons die an der linken Flanke der Russen gelegenen Sumpf-Wälder umgehen. Und in der Gefahr, von seinen rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten zu werden, stimmt General Osterman-Tolstoi dem Rückzug der 11ten russischen Infanterie-Division in das Dorf Kukaviachina zu (heute Kukovyachino, BLR; ca. 14 km süd-westlich von Witebsk). Hier wird die schwer angeschlagene Division noch in der Nacht zum 26. Juli von der dem 3ten Korps zugehörigen 3ten Infanterie-Division unter General Pjotr Petrowitsch Konownizyn abgelöst und in die Reserve gestellt; gegen die gefürchteten französischen Kürassiere führt General Fjodor Petrowitsch Uwarow, Kommandeur des 1ten Reserve-Kavallerie-Korps, die 1te Kürassier-Division.
V.l.n.r.: General Alexander Iwanowitsch Ostermann-Tolstoi (1770-1857), Kommandeur des 4ten Infanterie-Korps, General Nikolai Nikolaiewitsch Bachmetew (1774-1841), Kommandeur der 11ten Infanterie-Division, und General Modest Matwejewitsch Okulow (1765-1812), Kommandeur der 23ten Infanterie-Division (gefallen bei Ostrwno).
V.l.n.r.: General Pjotr Petrowitsch Konownizyn (1764-1822), Kommandeur der 3ten Infanterie-Division, General Fjodor Petrowitsch Uwarow (1769-1824), Kommandeur des 1ten Reserve-Kavallerie-Korps, und General Nikolai Alexeyevich Tuchkov (1765-1812), Kommandeur der 1ten Grenadier-Division. Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).

"Schlacht bei Ostrowno am Morgen des 26. Juli 1812." Gouache von Albrecht Adam (Voyage pittoresque, Nr. 36), lt. Kunstauktionshaus »Neumeister« im Juli 2019 verkauft.

"Schlacht bei Ostrowno am 26. Juli 1812." Gouache von Albrecht Adam, lt. »artnet« als verkauft gelistet.
Am Morgen des 26. Juni erwartet der russische Verband den französischen Angriff hinter einer Schlucht in der Nähe von Kukaviachina. Während Murat das 92te und 106te Linien-Infanterie-Regiment der 13ten Infanterie-Division erneut durch die Sümpfe gegen den linken russischen Flügel marschieren lässt -, das 8te leichte Infanterie-Regiment durch die Wälder beidseits der Straße vorrückt, gehen die Jäger und Schützen der 3ten (russischen) Infanterie-Division durch die Wälder am Ufer der Düna gegen den linken Flügel der Franzosen vor und schlagen in einem überraschenden Angriff das 1te kroatische und 84te französische Regiment in die Flucht. Murat persönlich stoppt den Angriff mit den 6ten und 8ten (polnischen) Ulanen der 15ten (leichten) Kavallerie-Brigade unter General Józef Niemojewski. Auf dem rechten Flügel geraten die französischen Infanteristen in der Schlucht vor Kukaviachina unter heftiges Artillerie-Feuer; für die französische Kavallerie ist das unebene Terrain in Formation noch schwerer passierbar und eine Attacke ist unmöglich; ihnen gegenüber die russische Kürassier-Division, die ebenfalls nichts ausrichten kann.
Gegen 14:00 Uhr trifft überraschend der Kaiser auf dem Schau-Platz ein. Laut den Schilderungen im Tage-Buch des 2ten Königlich Preussischen kombinirten Husaren-Regiments "... sprengten vier Garde-Chasseurs seines Gefolges vor, saßen gleichfalls ab, nahmen ihre Karabiner in die Hand und bildeten ein Viereck um den Kaiser; in den Bereich dieses Kreises durfte Niemand ohne des Kaisers besonderen Befehl hineintreten." An seiner Seite Vize-König Eugène. Beide beobachten den Aufmarsch der 14ten und 15ten Infanterie-Division des IV. (italienischen) Corps, die sofort zum Angriff übergehen. Gegen 15:00 Uhr befiehlt General Konownizyn den Rückzug auf das Dörfchen Komary (Komary, BLR; ca. 12 km süd-westlich von Witebsk), der schnell in eine ungeordnete Flucht ausartet. Bataillone, Regimenter und Brigaden geraten durcheinander, und die Soldaten fliehen bis Dobreika (nur noch 8 km süd-westlich von Witebsk), wo General Nikolai Alexeyevich Tuchkov mit der 1ten Grenadier-Division des 3ten Korps eine dritte Verteidigungs-Linie formiert hat (da Tuchkov von Barclay de Tolly auch das Ober-Kommando über sämtliche Truppen vor Witebsk erhalten hat, verlassen Osterman-Tolstoi und Konownizyn empört den Schau-Platz, ohne ihre Divisionen in die Reserve zu führen und dort neu zu ordnen). Tuchkov, mit den Vorbereitungen der Verteidigung und der Wiederherstellung der Ordnung überfordert, kann nicht verhindern, dass seine Grenadiere in das Durcheinander zurück-weichender Einheiten geraten und von der schnell um sich greifenden Flucht-Bewegung mitgerissen werden; gegen 17.00 Uhr befiehlt er den Rückzug auf das rechte Ufer der Luchesa und damit auf Witebsk.

"Combat d´Osstiovno" (Napoleons Eintreffen bei Ostrowno) Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS). Bildquelle: ► WIKIMEDIA.
Gegen 22:00 Uhr bricht Generał Józef Niemojewski, Kommandeur der 15ten (leichten) Kavallerie, zusammen mit General Nicolas-François Roussel d'Hurbal, Kommandeur des 8ten (polnischen) Ulanen-Regiments zu einer Inspektion der Vedetten auf. In der Dunkelheit wird beiden Offizieren das Durcheinander der unzähligen Uniformen, die in der "Grande Armée" getragen werden, und das Gewirr der vielen Sprachen, die eine einfache Verständigung beinahe unmöglich machen, zum Verhängnis, denn wahrscheinlich treffen die Generäle auf einen Posten italienischer Infanteristen, die noch vor wenigen Stunden den Ulanen des 2ten (russischen) Kavallerie-Korps gegenüberstanden. Und da die ursprünglich litauische Litewka (der typische Waffen-Rock der Ulanen) erst von Polen, dann von den Russen und bald auch – gleich den bunten und prächtigen Dolmanen der ungarischen Husaren – von allen anderen europäischen Armeen getragen wurde, waren Verwechslungen unvermeindlich: Die Vorposten halten die polnischen Offiziere für Russen und eröffnen das Feuer. Generał Niemojewski wird schwer verwundet und muss das Kommando über die Division an General Roussel d'Hurbal abgeben.

"Napoleon in der Schlacht von Ostrowno am Abend des 26. Juli 1812." Gouache von Albrecht Adam (Voyage pittoresque, Nr. 40), lt. »Christie's« im Juni 2022 verkauft.

"Pres Ostrowno" (In der Nähe von Ostrovno - Hauptquartier am 26. Juli 1812) Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" (Blatt Nr. 41) in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS). Bildquelle: ► WIKIMEDIA.
Die französischen Avant-Garden – zu erschöpft von den Märschen, abgekämpft, ohne Verpflegung und letztendlich zu schwach für einen Angriff auf die russische Haupt-Armee – gehen gegen 19:00 Uhr beidseits der Straße nach Witebsk an den Wald-Rändern nahe Dobreika und mit Sicht auf die nur knapp 6 Kilometer entfernten russischen Feld-Schanzen in Bereit-Stellung. Die hinter der Luchesa aufsteigenden Rauch-Säulen Tausender Lager-Feuer lassen darauf schließen, dass die russischen Soldaten bereits mit dem Abkochen begonnen haben und sich darauf vorbereiten, den Franzosen am kommenden Tag eine Schlacht zu bieten.
Napoleon, der einen Blick auf die russischen Stellungen und anschließend auf die Karte mit den dort markierten Stand-Orten seiner einzelnen Corps geworfen hat, reagiert ärgerlich, wütend und ungeduldig: Ärgerlich über die steilen, geschwungenen Ufer der Luchesa, die nur über zwei Furten passierbar ist und somit eine "Attaque en colonne" unmöglich macht. Wütend über die russische Armee, die sich ihm nicht zur offenen Feld-Schlacht stellt, sondern hinter hoch gelegenen Schanzen und Palisaden Deckung gesucht hat (deren Erstürmung der "Grande Armée" neben Tausenden Soldaten vor allem Zeit kosten wird). Und ungeduldig angesichts der Tatsache, dass seine Armee-Corps frühestens in zwei Tagen vor Ort versammelt sind. Einzig Vize-König Eugène kann mit seinem IV. (italienischen) Corps bis zum nächsten Morgen vor Witebsk aufmarschieren; auch die beiden Kürassier-Brigaden im I. Reserve-Kavallerie-Corps des Generals Nansouty sind verfügbar. General Montbrun steht mit dem II. Reserve-Kavallerie-Corps etwa auf gleicher Höhe – nur auf dem rechten Ufer der Düna – östlich des Dorfes Kuzylow und hier vor dem Problem, dass die Brücken über die Schewinka zerstört und die Passagen hinüber nach Witebsk von überlegenen russischen Verbänden verlegt sind. Marschall Bessières marschiert mit den Garden zwischen Beshankovichi und Budzilow (Budzilava, BLR); Marschall Ney, dessen Kolonnen-Spitze Beshankovichi (heute Beshankovichy, BLR) erreicht hat, wird mit dem III. Corps für die knapp 50 Kilometer bis Witebsk noch mindestens einen Tag benötigen, und Marschall Saint-Cyr, mit dem VI. (bayerischen) Corps knapp 100 Kilometer entfernt bei Uszaczka (Ushachy, BLR), kann frühestens am Morgen des 28. Juli eintreffen.
Marschall Oudinot ist mit seinem II. Corps zwischen Drissa und Polozk unerreichbar.
Sehr wahrscheinlich weist Napoleons Karte auch den ungefähren Standort des 1ten (russischen) Infanterie-Korps zwischen Drissa und Polozk auf dem rechten Ufer der Düna aus. Der Kommandeur dieses Korps, Ludwig Adolf Peter zu Sayn-Wittgenstein, war Napoleon schon in den Schlachten von Austerlitz und Friedland als einfallsreicher Taktiker aufgefallen, der sich mit der jeweils von ihm geführten Vorhut-Verbände als erheblicher Stör-Faktor erwiesen hatte. Napoleon will es nicht darauf ankommen lassen, was dieser General mit einem kompletten Infanterie-Korps im Rücken der "Grande Armée" anrichten könnte und erteilt Oudinot den Befehl, über die Düna zu gehen und das russische Korps anzugreifen...

"Gesamtansicht von Witebsk vom Ufer der Luchesa" Aquarellierter Stich nach einer Vorlage von Józef Peszka um 1800. Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
Im Morgengrauen des 27. Juli trifft Graf Nikolai Menschikow, Adjutant des Generals Bagration, im Lager an der Luchesa ein. Er überbringt Barclay de Tolly die Meldung, dass Marschall Davout der 2ten (russischen) Armee am 23. Juli bei Soltanovka (etwa 10 km südlich von Mogilew [Mahiljou, BLR]) den Weg verlegt hat, General Bagration zu einem neuerlichen Umweg über Klimowisze (heute Klimawitschy, BLR) gezwungen ist und den Anschluss an die 1te Armee nunmehr bei Smolensk suchen wird. Und in Abwägung der Situation, dass der Kaiser mit den nach und nach eintreffenden Corps spätestens in drei Tagen über eine Streit-Macht von mindestens 120.000 Mann verfügen wird – die 1te Armee hinter der Luchesa zwar über eine nach Westen und Süden gut zu verteidigende Stellung eingenommen hat, der "Grande Armée" jedoch nur 75.000 Mann entgegen-stellen kann und darüber hinaus vor der Gefahr steht, im Fall einer Umgehung von der Straße nach Smolensk abgeschnitten zu werden –, beschließt der Militär-Rat die Aufgabe von Witebsk und den Rückzug nach Smolensk. Die Wagen-Kolonne erhält Befehl zum Aufbruch über Janowischje nach Poretschje (heute Janavičy; BLR, bzw. Poriecze oder auch Porech'e, RUS); General Dmitry Sergeyevich Dokhturov, mit dem 6ten Korps noch jenseits der Düna, erhält die Order, mit dem Groß-Teil seiner Truppen noch in der Nacht über den Fluss zu gehen, Witebsk zu passieren und in Richtung Smolensk abzurücken, dort die von Minsk direkt nach Smolensk führende Straße zu sichern und die Stadt somit gegen mögliche Vorstöße des I. Corps (Davout) oder des ebenfalls aus dieser Richtung drohenden IV. Reserve-Kavallerie-Corps von Latour-Maubourg zu sichern. Am 28. Juli nimmt Dokhturov im Dörfchen Rudnya (auch Rudnja, RUS; ca. 60 km östlich von Witebsk) Marsch-Quartier; der Krieg hat damit Kern-Russland erreicht.
General Peter Petrowitsch von der Pahlen, der vom Militär-Rat wieder mit dem Kommando über die Nachhut betraut wurde, geht am Morgen des 27. Juli mit den rund 3.000 Dragonern seines 3ten Kavallerie-Korps und einigen Kosaken, etwa 4.000 Infanteristen und sechs Batterien über die Luchesa, marschiert auf Dobreika und nimmt vor den dort stehenden Vorposten der französisch-italienischen Armee Aufstellung. Napoleon, der den Aufmarsch von einer Anhöhe südlich der Straße beobachtet, hat lediglich einen Teil von Nansoutys Kavallerie und die 13te und 14te Infanterie-Division aus dem IV. Corps Eugènes zu Verfügung, die sofort alarmiert werden. Doch mit Blick auf die Staub-Wolken, die in der Ferne den Blick auf die Türme der über zwanzig Kirchen und Klöster von Witebsk verlegen, befürchtet der Kaiser, dass Barclay de Tolly die "Grande Armée" bereits im Aufmarsch angreifen will und einen Ausfall befohlen hat. Der Kaiser beschließt, die russische Armee an Ort und Stelle aufzuhalten und hofft auf die baldige Ankunft seiner Garden. Und während Eugène seine beiden Infanterie-Divisionen aufziehen lässt, verfolgt Napoleon einer Anekdote nach gespannt das Geschehen zwischen den Fronten: Bei Sonnen-Aufgang waren zwei Voltigeur-Kompanien beauftragt worden, die Reparatur-Arbeiten eines Bach-Übergangs westlich der Luchesa zu decken. Mit dem Aufmarsch der russischen Kavallerie geraten die Soldaten zunehmend in die Gefahr, von ihrem Rückzugs-Weg abgeschnitten zu werden. Doch anstatt sich zurückzuziehen, sammeln sich die knapp 300 Voltigeure vor der Brücke und halten die Stellung gegen eine schnell anwachsende Übermacht bis zum Abschluss der Arbeiten "mit großer Gelassenheit". Nach einer Stunde sind mehr als 300 russische Reiter aus dem Sattel geschossen (unter den Toten auf französischer Seite u.a. Oberst François Liédot, einer der talentiertesten Offiziere und Stabs-Chef des Ingenieur-Corps). Bei der Rückkehr der Soldaten erkundigt sich Napoleon nach deren Einheit. "Vom Neunten!", erhält er zur Anwort. Und den respektlosen Nachsatz: "Drei Viertel der Kinder von Paris!" Der Kaiser ist von der Frechheit amüsiert, lobt die Tapferkeit seiner Soldaten und erklärt: "Sie alle verdienen das Kreuz!"

"Les conscrits parisiens à Witepsk" (Die Pariser Wehrpflichtigen bei Witebsk) Stich von Jean Jacques Outhwaite nach einer Vorlage von Horace Vernet (Bildquelle: Befreundeter Sammler).
Die dann folgenden Gefechte, in denen die 14te Infanterie-Division unter General Jean-Baptiste Broussier bis zum Aufmarsch der 13ten Infanterie-Division unter General Delzons und der 4ten (leichten) Kavallerie-Brigade des Generals de Piré erst den Angriff der russischen Garde-Kosaken und dann mehrere Attacken der gesamten Kavallerie hauptsächlich mit der Divisions-Artillerie abwehrt, dauern bis etwa 14:00 Uhr. Nach dem die russische Kavallerie wieder in die Schlacht-Ordnung zurück-gekehrt ist, eröffnet die russische Artillerie von einem Höhen-Kamm beidseits der Straße das Feuer. Roll-Schüsse reißen tiefe Schneisen in die französisch-italienischen Reihen; die preussischen Husaren – wieder in der ersten Linie – verlieren weitere 6 Mann 7 Pferde an Toten und 5 Mann 3 Pferde an Verwundeten. Französische Tirailleurs gehen in aufgelöster Formation gegen die Artillerie vor. Die von den russischen Artilleristen darauf verschossenen Kartätschen haben gegen die sprung-weise vorgehenden, jede Deckung nutzenden, bald die Höhe hinauf kriechenden und dabei ununterbrochen feuernden Plänkler wenig Wirkung; die russische Infanterie übernimmt die Deckung der Artillerie, die am frühen Nachmittag den Rückzug einleitet.

"Schlacht vor Witebsk am 27. Juli." (Im Hintergrund der Angriff der französischen Tirailleurs)

"Schlacht von Witebsk." Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS). Bildquelle(n): ► »Фонд Связь Эпох« (Stiftung Portale der Jahrhunderte, Moskau).
Gegen 15:00 Uhr befiehlt General Pahlen den Rückzug hinter die Luchesa. Napoleon verbietet entgegen seinen Regeln die Verfolgung; er verbringt den Rest des Tages damit, das Schlacht-Feld zu erkunden und seine Vorbereitungen für den kommenden Tag zu treffen. Am Abend erhält er die Nachricht, dass Marschall Ney mit der Spitze des III. Corps Ostrowno erreicht hat, dort biwakieren und am Morgen des kommenden Tages – wie befohlen – vor Witebsk eintreffen wird.
Noch am Abend erteilt der Kaiser seinem Marschall den Befehl, noch in der Nacht bis Dobreika vorzurücken. Noch in der Nacht inspiziert er persönlich mehrmals seine Vorposten und vergewissert sich, dass die Wacht- und Lager-Feuer am gegenüber-liegenden Ufer noch brennen.

"Die kaiserliche Garde vor Witebsk am 27. Juli 1812." Stich nach einer Vorlage von Albrecht Adam aus seinem Skizzen-Buch "Voyage pittoresque et militaire ...". Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).

"Vor Witebsk am 27. Juli."

"Biwak des Kaisers vor Witebsk."

"In der Nähe von Dobreika am 27. Juli 1812." Gemälde von Albrecht Adam aus dem "Russischen Album" in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS). Bildquelle(n u.a.): ► »Фонд Связь Эпох« (Stiftung Portale der Jahrhunderte, Moskau).
Noch während der Gefechte an der Luchesa hatte die russische Reserve-Artillerie begonnen, Stück für Stück Geschütze aus den Stellungen zu ziehen und samt Munitions-Wagen über die Straße von Poretschje nach Smolensk abzutransportieren. Gegen 13:00 Uhr bekommen auch das 5te und 6te Korps und der größte Teil der Artillerie offiziell den Marsch-Befehl, über die kürzere Chaussee von Liozno-Rudnya (Ljosna, BLR) nach Smolensk abzurücken; als Nachhut das 1te Kavallerie-Korps. Gegen 17:00 Uhr ziehen dann auch das 2te und 4te Korps ab; als Nachhut hier das 3te Kavallerie-Korps; diese Verbände wieder über die nördliche Route auf der Straße von Poretschje mit Etappe bei Agaponowtschina (Agaponovo, RUS). Gegen Mitternacht, den Darstellungen nach in absoluter Stille und bemerkenswertester Ordnung, verlässt dann auch das 3te Infanterie- und das 2te Kavallerie-Korps samt dem Haupt-Quartier das Lager; die Kolonne trifft am Morgen in Veledichi ein (heute Veleshkovichi, BLR; ca. 40 km östlich von Witebsk). Da die Lager- und Wacht-Feuer brennen und die von Barclay de Tolly zurückgelassene Nachhut unter General Pahlen – rund 8.000 Mann zu Fuß und zu Pferd mit sechs Batterien – genügend Bewegung vortäuscht, bleibt der Abzug auf französischer Seite unbemerkt.
Am Morgen des 28. Juli verdunkeln immer dichter werdende Rauch-Säulen das Licht der tiefstehenden Sonne. Und so die Vorposten anfänglich der Meinung waren, dass die Russen ihre Biwak-Feuer löschen und sich zum Kampf vorbereiten, bestätigen die von Murat ausgesandten Aufklärer bald Napoleons Befürchtungen: Das Lager ist verlassen; Kosaken haben die Befestigungen und die "Abrivents" – die provisorischen Feld-Unterstände – in Brand gesetzt; die gesamte russische Armee ist über Nacht abgezogen.
Napoleon, der verschiedenen Quellen nach noch in der Nacht voller Ungeduld jedoch bester Laune war, will der russischen Armee wut-entbrannt seine Kavallerie nachsenden und erkundigt sich bei Murats General-Adjutanten Augustin-Daniel Belliard nach der Einsatz- und Marsch-Bereitschaft der Reiterei. Der für seine Tapferkeit als auch für seine Besonnenheit geschätzte General antwortet freimütig: "Noch sechs Tage Marsch und die Kavallerie existiert nicht mehr!"
Der Kaiser wirft seinen Degen in sein Zelt. "Aus!", brüllt er Murat an. "Der Feldzug von 1812 ist vorbei! Wir werden erst 1813 in Moskau sein; 1814 in St. Petersburg! Der russische Krieg ist ein drei-jähriger Krieg!"
Am frühen Vormittag ziehen die Avant-Garden – die polnischen Ulanen und die Husaren des Königlich preussischen kombinierten Regiments Nr. 2 wieder an der Spitze – in Witebsk ein. Die Stadt mit ihren vor Tagen noch dreißig-tausend Einwohnern ist von der russischen Bevölkerung weitestgehend verlassen, die Häuser und Laden-Geschäfte sind vernagelt, die Depots geräumt. Einzig die wenigen Litauer und die jüdischen Händler sind in der Stadt zurück-geblieben; über die Ziele der russischen Armee können sie keine Informationen geben. Einige Brände, die auf Plünderer und Brand-Stifter zurückzuführen sind, können schnell gelöscht werden, und Napoleon der mit der Alten Garde gegen Mittag in die Stadt einzieht, zeigt Einsehen: In all seinen bisher geführten Kriegen war es ihm gelungen, den jeweiligen Gegner bald nach Beginn des Feld-Zuges zu stellen und zu einer entscheidenden Schlacht zu zwingen, die in der Regel mit der Zerschlagung des feindlichen Heeres ausging. Nach der Verfolgung, Vernichtung oder Kapitulation einzelner Armee-Korps und der Besetzung der jeweiligen Haupt-Stadt endete dann auch der Krieg; das Land wurde besetzt, und der Kaiser diktierte seine Friedens-Bedingungen. Dass er jedoch innerhalb von fünf Wochen 135.000 Mann – ein Drittel seiner Armee – verliert, ohne größere Gefechte geführt zu haben, ist eine Entwicklung, für die der größte Stratege seiner Zeit keine Strategie hat.
Angesichts der ausgehungerten, zu großen Teilen barfüßigen, mit zerschlissenen Uniformen bekleideten Soldaten, die am 28. Juli auf der Straße nach Janowischje zu ihren jeweiligen Regiments-Märschen vor dem Kaiser und seinem versammelten General-Stab vorbei-defilieren, wird erst die Parade und dann auch der weitere Vormarsch gestoppt. Einzig die polnischen Ulanen und die preussischen Husaren erhalten Order, entlang des Laufes der Sukhaya Polennitza eine Posten-Kette zu beziehen. An die Corps der Haupt-Armee ergeht der Befehl, sich im Groß-Raum Witebsk zu sammeln, sich neu zu ordnen und die Ankunft der Proviant- und Munitions-Kolonnen abzuwarten. Artillerie und Kavallerie erhalten Befehl, verlorene Pferde zu ersetzen; die Infanterie soll neues Schuh-Werk erhalten; die gesamte "Grande Armée" hat sich mit Proviant und Fourage einzudecken. Wie diese Weisungen umgesetzt werden sollen, überlässt der Kaiser seinen Generälen, die die Verantwortungen über die "chaîne de commandement" (die Befehls-Kette) weiterleiten.
Noch am 28. Juli verlegt Napoleon sein Haupt-Quartier nach Witebsk. Einer seiner ersten Befehle geht nach Ost-Preussen: Marschall Claude Victor-Perrin (gen. Victor) erhält die Weisung, mit den inzwischen rund 40.000 Rekruten des IX. Corps in Richtung Osten aufzubrechen und bei Tilsit (heute Sowetsk bei Kaliningrad, RUS) über die Memel zu gehen.

"Marktplatz von Witebsk mit Blick über die Große Straße" Links die Kirche des Heiligen Antonius, rechts die Kirche der Auferstehung Christi, im Hintergrund die Kirche des Heiligen Joseph und das Jesuiten-Kloster. Aquarellierter Stich nach einer Vorlage von Józef Peszka um 1800. Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
Dem Lauf des Flüsschens Rustavech folgend, geraten die preussischen Husaren auf der Chaussee nach Poretschje (Porech'e, RUS) am 29. Juli überraschend in eine Kartätsch-Salve, die sofort 5 Mann aus den Satteln reißt. Auf dem östlichen, erhöht gelegenen Ufer der Kasplja hat die russische Nachhut eine Batterie platziert, die aus dieser vorteilhaften Position die Straße und damit den Zugang nach Poretschje kontrolliert. General Nansouty, Kommandeur des I. Reserve-Kavallerie-Corps, der kurz darauf die taktisch gut gewählte Stellung in Augenschein nimmt, befiehlt seinen Adjudanten und den preussischen Husaren, im wilden Galopp möglichst viel Staub aufzuwirbeln. Und obwohl die russische Artillerie ununterbrochen weiter in die immer dichteren Wolken feuert, gelingt es einer eiligst heran-befohlenen reitenden Batterie ungesehen in Stellung zu gehen, verdeckt die Geschütze zu richten und – kaum hatte sich der Dunst etwas gelegt – die russische Batterie im gezielten Schnell-Feuer und einigen Voll-Treffern von der Höhe zu vertreiben. Die preussischen Husaren, die umgehend die Verfolgung aufnahmen, können mehrere Gefangene machen und erbeuteten nahe Poretschje den von den Russen zurückgelassenen Artillerie-Konvoi mit der Reserve-Munition und reichlich Lebensmitteln. Am 30. Juli nehmen die preussischen Husaren in dem vollkommen verlassenen, komplett beräumten und teilweise verbrannten Örtchen Poretschje Quartier.

"Nach der Schlacht." Gouache von Albrecht Adam, lt. Kunstauktionshaus »Neumeister« im März 2015 verkauft.
In seinem Bericht an den Zaren erklärt Barclay de Tolly das Ergebnis der drei Nachhut-Gefechte zwische Ostrowno und der Luchesa, in denen sich beide Parteien mit etwa gleich-starken Verbänden begegnet sind und mit jeweils etwa 2 bis 3.000 Toten und Verwundeten – hauptsächlich durch Artillerie-Feuer – auch vergleichbare Verluste erfahren haben, zum großen strategischen Erfolg der russischen Armee.
Mit den knapp 10.000 Mann der Smolensker Garnison kann Barclay de Tolly seine Verluste wieder ausgleichen.
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Sa., 18. Juli, bis Fr., 31. Juli: Gefechte am Süd-Flügel |
Mit den Nachhut-Gefechten bei Mir (8. und 9. Juli) und Romanowo (14. Juli; heute Lenino, BLR) und unter weiträumiger Umgehung von Minsk und Borissow (heute Baryssau, BLR) war es General Peter Iwanowitsch Bagration gelungen, die durch den Anschluss des "Fliegenden Kosaken-Korps" von General Matwei Iwanowitsch Platow, der 3ten Kavallerie-Brigade unter General Ivan Semyonovich Dorokhov und der 27ten Infanterie-Division unter General Dmitri Petrowitsch Neverovsky von etwa 48.000 Mann auf über 70.000 Mann angewachsene 2te (russischen) West-Armee über einen 240 Kilometer weiten Umweg über Sluckas und Glusk (heute Sluzk und Hlusk, beides BLR) aus der sich immer enger ziehenden Schlinge zu retten, die von vier Infanterie- und zwei Kavallerie-Corps der "Grande Armée" gebildet wurde. Am 18. Juli hatte Bagration die Festung Bobruisk an der Beresina (heute Babrujsk, BLR) erreicht. In der aus drei Bastionen bestehenden Anlage, die zwischen 1810 und 1812 auf den Fundamenten der dafür niedergerissenen mittelalterlichen Burg und der zu diesem Zweck ebenfalls zerstörten Grenz-Stadt errichtet wurde, kann Bagration seine Brigaden und Divisionen sammeln, ordnen und vor allem die Munitions- und Lebensmittel-Vorräte seiner Armee auffüllen.
Am 20. Juli erhält Bagration die von Zar Alexander drei Tage zuvor bei Polozk (heute Polazk, BLR) erlassenen Befehle zum Marsch nach Witebsk. Der General plant, die über 250 Kilometer hinauf an die Düna innerhalb von fünf Tagen zurücklegen zu können und sich dort sätestens zwischen dem 26. und 27. Juli mit den insgesamt rund 110.000 Mann der von General Barclay de Tolly geführten 1ten West-Armee zu vereinigen. Zusammen sind beide russischen Armeen stark genug, sich den etwa 150. bis 180.000 Mann der von Napoleon geführten Haupt-Armee entgegenzustellen und den Marsch auf Moskau an der Grenze zum alt-russischen Reich zu beenden. Beste Route von Bobruisk aus ist die (mehr oder weniger) neu gebaute und befestigte Post- und Heer-Straße nach Rohaczew am Dnjepr; der schnellste Weg führt durch die Wälder nach Staryi-Bychow (heute Rahatschou bzw. Bychau, beides BLR). Von dort – dem Lauf des Dnjepr folgend – sind die nächsten Etappen-Ziele das 1772 eroberte und zur russischen Gouvernements-Hauptstadt erhobene Handels-, Glaubens- und Verwaltungs-Zentrum Mogilew und die ebenfalls 1772 gewonnene und bis dahin immer wieder erbittert umkämpfte Grenz-Stadt Orsha (heute Mahiljou und Orscha, beides BLR).
Von der Bobruisker Garnison, die von den Reserve-Bataillonen der 24ten und 26ten Infanterie-Division sowie zwei Bataillonen Halb-Invalider gebildet wird, unterstellt der General sechs Bataillone mit zusammen rund 1.800 Mann seinem Kommando; zwei dieser Bataillone – das 1te und 33te unter Kommando von Oberst Alexander Iwanowitsch Gresser – erhalten Befehl, auf dem kürzesten Weg nach Mogilew abzurücken und die dortige Garnison zu verstärken (in der Festung, die über insgesamt 344 Festungs- und Feld-Geschützen aller Kaliber, 40 5- und 2-pfündige Mörser und 50 "Einhörner" verfügt, verbleiben 13 Bataillone bzw. über 4.000 Soldaten, die unter dem Kommando von General Gavrila Ignatiev bis zum Ende des Krieges verhindern, dass Bobruisk von den rund 12.000 Soldaten der von General Jan Henryk Dąbrowski [auch Jean Henri oder Johann Heinrich Dombrowski] kommandierten 17ten [polnischen] Infanterie-Division eingenommen werden kann).
Am 21. Juli erteilt Bagration den Befehl zum Weiter-Marsch. General Nikolay Nikolayevich Raevsky, Kommandeur des 7ten (russischen) Infanterie-Korps, erhält die Order, mit den beiden Divisionen seines Verbandes – etwa 16.000 reguläre Soldaten – und sechs Pulks der von General Nikolai Wassiljewitsch Ilovaisky kommandierten Kosaken-Abteilung – rund 3.000 Reiter unter Befehl von Karl Karlowitsch (Carl Gustav von) Sievers – über die kürzere Route durch die Wälder nach Staryi-Bychow vorzugehen, von dort aus nach Mogilew vorzustoßen und die dort gelegene Brücke über den Dnjepr gegen die Franzosen zu sichern. Bagration folgt mit dem 8ten Korps unter General Michail Michailowitsch Borozdin und der 2ten Kürassier-Division des Generals Otto Fedorowitsch Knorring, dem technischen und dem schwer-fälligen Artillerie-Park über die Straße nach Rohaczew. Dem Verband voran die zwei verbliebenen Kosaken-Pulks Ilovaiskys und die 27te Infanterie-Division unter General Dmitri Petrowitsch Neverovsky, die der von General Andrej Iwanowitsch Gortschakow geführten Vorhut zugeteilt ist.
Bagration erreicht noch am selben Tag Rohaczew am Dnjepr; am 22. Juli Nowyi-Bychow (heute Novyi Bykhov, BLR; etwa 25 km südlich von Bychau); die Vorhut rückt auf Staryi-Bychow vor und versucht die Verbindung mit Raevskys Einheiten herzustellen. Die Artillerie und der Train kommen infolge eines Unwetters auf der aufgeweichten Straße nur langsam voran.

General Peter Iwanowitsch Bagration (1765-1812)
General Nikolai Nikolajewitsch Rajewski (1771-1829) und General Nikolai Wassiljewitsch Ilovaisky (1773-1838) Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
Marschall Louis-Nicolas Davout, der Jérôme Bonaparte auf Befehl des Kaisers am 17. Juli das Kommando über die Corps des südlichen Flügels entzogen und anschließend selbst den Ober-Befehl übernommen hatte, marschiert mit allen verfügbaren Einheiten seines Verbandes gut 100 Kilometer weiter nördlich von Bagration bzw. parallel zu dessen Armee zwischen dem 19. und 20. Juli über Igumen nach Holowczin (heute Tscherwen bzw. Holowczyn, beides BLR) und besetzt am 21. Juli mit fünf Regimentern Infanterie (das 83te und 108te der 4ten Division unter General Joseph-Marie Dessaix sowie das 57te, 61te und 111te der 5ten Division unter General Jean Dominique Compans [das 25ste ist mit der Sicherung von Minsk beauftragt]), drei Regimentern Kürassiere der von Napoleon zur Verstärkung des I. Corps abkommandierten 5ten Kavallerie-Division unter General Jean-Baptiste (Cyrus Adélaïde de Timbrune de Thiembronne) de Valence und unter Führung des 3ten Regiments Jäger zu Pferd unter Colonel Charles Joseph de Saint-Mars – alles in allem nicht mehr als 20.000 Mann – Mogilew. Ohne Widerstand zu leisten und ohne den strategisch wichtigen Fluss-Übergang zu zerstören, ziehen sich das russische Garnisons-Bataillon, das dort mit der Bewachung der Brücke über den Dnjepr und der Proviant-Magazine betraut war, und die beiden kurz zuvor aus Bobruisk eingetroffenen Reserve-Bataillone erst aus ihren Stellungen entlang des Baches Lachva und – angesichts der französischen Kolonnen, in denen die russischen Offiziere lediglich die Avant-Garde des I. Corps zu erkennen glauben – in Richtung Soltanovka zurück, wo die Einheiten auf ein Detachement Kosaken unter General Wassili Alexejewitsch Sysoev treffen, das den Vortrab der nach-folgenden Vorhut Raevskys bildet. In Mogilev sieht sich der um seine Stadt fürchtende Zivil-Gouverneur Graf Dmitri Alexejewitsch Tolstoi gezwungen, die auf Befehl Bagrations zurück-gehaltenen Depot-Bestände den Franzosen auszuhändigen. Mit der Besetzung von Mogilew kontrollieren die Franzosen die beidseits des Dnjepr verlaufenden Wege nach Norden.

"Blick auf Mogilev am Dnjepr." (Anfang des 19. Jhds.) Im Vordergrund die hölzerne Joch-Brücke über den Fluss. Colorierte Lithografie nach einer Vorlage von Maxim Nikiforowitsch Worobjew Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
Davout ist sich durchaus bewusst, dass er mit seiner Streit-Macht dem russischen General Peter Iwanowitsch Bagration zahlenmäßig weit unterlegen ist. Doch über die Hälfte seiner Corps-Kavallerie ist unter General Pierre Claude Pajol mit dem 1ten Regiment Jäger zu Pferd von Minsk über Svislach (heute Swislatsch, BLR) auf dem Weg an die Beresina um dort die Verbindung mit Vandamme herzustellen und die Festung Bobruisk abzuriegeln, und die etwa 7.000 Mann der "Légion de la Vistule" unter General Michel Marie Claparède, die Napoleon Anfang Juli erst dem III. Corps (Ney) zugeteilt und dann zur Verstärkung Davouts in süd-östliche Richtung umgelenkt hatte, sind mindestens noch etwa zwei bis drei Tages-Märsche von Orsha entfernt. Vor allem aber sind die Davout seit wenigen Tagen unterstehenden Corps des südlichen Flügels – das V. (polnische) unter Fürst Poniatowski und das VIII. (westphälische) unter dem "ad interim" wieder eingesetzten General Vandamme, das III. Reserve-Kavallerie-Corps unter General Grouchy und das IV. von General Latour-Maubourg – weit hinter dem I. Corps zurück und zu sehr verstreut, primär mit der Beschaffung von Proviant und Fourage beschäftigt und hauptsächlich durch Sicherungs- und Besatzungs-Aufgaben gebunden. Davout hat somit nicht die Mittel, Bagration eine Feld-Schlacht zu liefern. Bis zum Eintreffen von Poniatowski oder Vandamme kann der Ober-Kommandierende nicht mehr tun, als Bagration nach der Devise "mehr Schein als Sein" zu blenden oder die 2te russische Armee bestenfalls in hinhaltende Gefechte zu verwickeln. Oberste Direktive ist es, einen Durchbruch des russischen Groß-Verbandes nach Norden zu verhindern und eine Vereinigung beider russischen Armeen abzuwenden.
Colonel Saint-Mars bekommt von Davout den Befehl, mit seinen berittenen Jägern an der Straße zwischen Mogilew und Staroi-Bychow eine Vorposten-Kette zu beziehen und Vedetten bis Rohaczew vorrücken zu lassen, wo Davout die 2te Armee vermutet. Schon bei Daszkowka (heute Dashkovka, BLR; etwa 20 km südlich von Mogilew) treffen die Jäger gegen 6:00 Uhr morgens auf die von den Kosaken gestellte Vorhut Bagrations, die die Franzosen allem Anschein nach in der Deckung der dichten Wälder erwartet haben, überraschen können und bis zur Lichtung vor dem Dorf Soltanovka zurücktreiben, wobei in dem Durcheinander Colonel Saint-Mars, vier seiner Offiziere und mehr als 200 Gemeine in Gefangenschaft geraten und etwa 100 Jäger tot oder verwundet zurückbleiben. Erst das 85te (französische) Linien-Infanterie-Regiment, das General Jean-Parfait Friederichs gegen 7:00 in Stellung gehen lässt, kann Schlimmeres verhindern, ist aber ebenfalls bald gezwungen, sich in drei Richtungen feuernd hinter den Fatowka-Bach bei Soltanovka zurückzuziehen, wo sich das 108te Linien-Infanterie-Regiment beidseits einer einfachen, aus umgestürzten Bäumen und mit Bohlen beplankten Brücke provisorisch verschanzt hat. Beide Einheiten haben Mühe, den Übergang der von General Sievers geführten Kosaken abzuwehren.
Am frühen Morgen trifft General Raevsky vor Soltanovka ein. Die französische Infanterie hat etwa eintausend Schritt hinter dem Lauf der Fatowka eine vorteilhafte Abwehr-Stellung bezogen, die sich von den Sümpfen am Ufer des Dnjepr über eine fast fünf Kilometer lange Anhöhe bis zu dem direkt an der Straße nach Mogilew gelegenen Dörfchen Selicz zieht (heute Selets, BLR). Die Baum-Brücke über den Bach ist inzwischen verbarrikadiert, die Passage des etwa zwei bis drei Meter breiten doch von steilen Ufern eingefassten Baches ist zwar möglich jedoch zeit-aufwendig und kann zudem von der gegnerischen Seite direkt beschossen werden. Auch können die russischen Offiziere über die Stärke der französischen Truppen als auch deren Zusammensetzung oder die Anzahl vorhandener Geschütze nur spekulieren; im General-Stab ist nur bekannt, dass Davout zu Beginn der Invasion über 5 Infanterie-Divisionen verfügt hat.
Um Davout am weiteren Vorgehen in Richtung Süden auf- bzw. im glücklichsten Fall abzuhalten, befiehlt Raevsky dem 6ten und 41ten Jäger-Regiment der 3ten Brigade in der 12ten Infanterie-Division von General Pjotr Michailowitsch Koljubakin gegen 9:00 Uhr den Angriff.
Auf dem von Sumpf und Wald beengten Gelände können sich die Einheiten nicht entfalten. In drei Angriffs-Spitzen und im Lauf-Schritt gelangen die Jäger schnell bis vor die steilen und stellenweise versumpften Ufer des Fatowka-Baches und vor die verbarrikadierte Brücke hinüber nach Soltanovka, wo sich die Kolonnen stauen. Die dann von den gegenüber-liegenden Höhen in die dicht gedrängten Massen gefeuerten Kartätsch-Salven verursachen schwere Verluste, doch zur Überraschung der Franzosen wenden sich die russischen Jäger nicht voller Panik zur Flucht, sondern bilden Pelotons und erwidern das Feuer: "... es ist einfacher, die russischen Soldaten, die wie Mauern im Feuer stehen, zu vernichten, als sie zum Rückzug zu zwingen", beschreibt Kapitän Jean-Marie-Félix Girod, Adjutant des Generals Dessaix in der 4ten Division und Augen-Zeuge der Schlacht, seinen Eindruck vom Beginn der Gefechte.
Während Marschall Davout gegen Mittag auch das 61te Linien-Infanterie-Regiment aus der zweiten Linie heranzieht und persönlich das Kommando über die Truppen bei Soltanovka übernimmt, ziehen das 5te und 42te Jäger-Regiment der 3ten Brigade in der 26ten (russischen) Infanterie-Division von General Iwan Fedorowitsch Paskewitsch durch die westlich von Soltanovka gelegenen Wälder, umgehen die französischen Stellungen und besetzten das Dorf Fatowo (heute Wüstung nahe der Kapelle und Gedenk-Stätte "Den Helden der Kämpfe vom 11. Juli" (Jul.K.). Der Überraschungs-Angriff auf die rechte (westliche) Flanke der französischen Truppen wird sprichwörtlich im letzten Moment von vier französischen Bataillonen abgefangen. Die dann folgenden Kämpfe bringen keiner Seite den angestrebten Erfolg: Weder gelingt den Russen, die Fatowka zu überqueren, noch können die Franzosen die Gefahr der Umgehung abwenden; am frühen Nachmittag ziehen sich die Gefechte schon bis hinauf vor das Dorf Selicz, das nicht mehr vom Wasser-Lauf gedeckt wird, dessen hölzerne Hütten und Höfe die Franzosen jedoch schnellst-möglich zu Festungen ausgebaut haben.
Davout sieht sich gezwungen, mehr und mehr Bataillone aus dem Zentrum an seine gefährdete rechte Flanke zu verlegen. Infolge des ungeklärten Lage-Bildes gehen der Marschall und seine Generäle davon aus, dass die Angriffe der Russen auf die Brücke vor Soltanovka nur davon ablenken sollen, dass die Haupt-Kräfte der russischen Armee durch die westlich von Fatowka und Selicz gelegenen Wälder marschieren, den Versuch unternehmen werden, die rechte Flanke der französischen Verteidigungs-Stellungen zu umgehen und mit mindestens 25.000 Mann gleichsam Mogilew als auch die Abseite der Infanterie anzugreifen, was Davout in eine mehr als kritische Lage bringen würde.
General de Valence, der mit seinen Kürassieren die Straße und damit die rückwärtigen Verbindungen nach Mogilew sichert, erhält die Weisung, die drei Regimenter seiner schweren Schlachten-Kavallerie bei Selicz mit Front nach Westen aufreiten zu lassen.
Les Cuirassiers - Die Kürassiere. Motive aus dem monumentalen Postkarten-Werk "Les Uniformes du 1er Empire" von Eugène Louis Bucquoy. V.l.n.r.: Chef d'Escadron (1812), Trompette-Major (Brigadier um 1813), Maréchal-des-Logis-Chef (1815) (Quelle: eigene Sammlung)
Die Ausdünnung der französischen Brücken-Verteidigung bleibt auf russischer Seite nicht unbemerkt. Am Nachmittag unternimmt General Raevsky persönlich den Versuch, den Übergang über die Fatowka zu erzwingen. An der Spitze des Garde-Infanterie-Regiments "Ismailovski" (andere Quellen nennen das in der 12ten Infanterie-Division stehende Smolensker Infanterie-Regiment) und an den Flanken gedeckt von den Jägern des 6ten und 42ten Regiments, die jetzt in loser Formation und ununterbrochen feuernd erneut gegen die französischen Stellungen vorgehen, befiehlt Raevsky den Sturm-Angriff mit dem Bajonett. Welchen Zweck jedoch der dann vom 85ten Linien-Infanterie-Regiment begonnene Gegen-Angriff haben soll, ist fraglich: Jetzt drängen sich die angreifenden französischen Bataillone beim Übergang hinter der Brücke und bieten in ihrer Masse unverfehlbare Ziele für die russischen Jäger. Die auf dem südlichen Ufer ankommenden Franzosen sind den Russen hoffnungslos unterlegen, suchen ihr Heil in der Flucht, werden jedoch von ihren nach-drängenden Kameraden behindert und schließlich abgeschnitten. Kurz darauf stehen die Soldaten der russischen Infanterie vor der gleichen Situation: Auf dem schmalen Übergang kommt es zu blutigsten Bajonett-Kämpfen, wobei Tote und Verwundete kurzerhand von der Brücke gestoßen werden...

"Rajewskis Heldentat" Gemälde von Boris Olshansky. Kragen- und Ärmel-Litzen lassen auf ein Regiment der Garde schließen; die Fahne zeigt das Regiment "Ismailovski" an. Bildquelle: ► Internet-Präsenz von Boris Olshansky.

"Schlacht bei Mogiljow." (Saltanovka) "Der mutige General Rajewski führt die Garde bei Saltanovka." Gemälde von Mykola Semenowytsch Samokysch im Staatlichen Militärhistorischen Museum »Schlachtfeld Borodino« (bei Moskau, RUS).

"Schlacht bei Mogiljow." (Saltanovka) "Angriff des Generals Nikolai Nikolajewitsch Rajewski bei Saltanovka." Gemälde von Dmitri Anatoljewitsch Slepuschkin in einer Ausstellung des Museums der Schönen Künste, Kaluga (Oktober 2020). Die hier gezeigte Fahne wurde von der 27ten Infanterie-Division geführt; rote Schulter-Klappen zeigen das 1te Regiment der Division an (hier Infanterie-Regiment "Odessa"). Bildquelle: ► »Культуролог« (Kulturwissenschaftler - Website zum Kultur-Geschehen im Allgemeinen und zur modernen Kultur im Besonderen, RUS).
General Raevsky sieht in dem Umstand, dass die französische Artillerie durch die eigene Infanterie kein freies Schuss-Feld hat, einen taktischen Vorteil und befiehlt einen weiteren Sturm-Angriff. Obwohl durch einen Schuss in die Brust verletzt, besteht er darauf, den Angriff weiterhin persönlich zu führen. Und tatsächlich gelingt es dem für seine Tapferkeit in den Russisch-Türkischen und den bislang geführten Koalitions-Kriegen mehrfach ausgezeichnten, dabei für seine Besonnenheit und Intelligenz geschätzten und für seine kameradschaftliche Art bei den einfachen Soldaten beliebten General die französischen Bataillone über den Bach und in Richtung der Anhöhe von Soltanovka zurückzuwerfen.
Wieder bleibt der Angriff im Feuer der französischen Artillerie stecken.
Nach über 10-stündigen Kämpfen befiehlt General Raevsky gegen 17:00 Uhr den Rückzug nach Daszkowka, wo das 7te Korps ein Lager bezieht und befestigt. Zur Beobachtung des Gegners beauftragt Davout noch einige zusammengefasste Eskadronen des 3ten Regiments Jäger zu Pferd und die leichten Kompanien des 111ten Regiments unter General Compans mit der Verfolgung Raevskys, die jedoch von der russischen Nachut unter General Hilarion Wassiljewitsch Vasilchikow – Husaren des von Oberst Denis Wassiljewitsch Dawydow kommandierten Regiments "Achtyrka" und einigen Kosaken-Pulks – bei Nowosieleki (heute Novoselki, BLR) derart heftig attackiert werden, dass die an der Kolonnen-Spitze reitenden Jäger erneut schwere Verluste erleiden und in Richtung Soltanovka fliehen.

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General Hilarion Wassiljewitsch Vasilchikow (1776-1847) und General Denis Wassiljewitsch Dawydow (1784-1839) Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).

"Dawydow in der Schlacht von Saltanovka" (Husaren-Regiment "Achtyrsk") Illustration von Viktor Boltyshev für »И жили дружною семьею солдат, корнет и генерал« (Und sie lebten als freundliche Familie von Soldaten, Kornetten und Generalen) von Alexander Mikhalenko; Reitar-Verlag, Moskau 2001.
Noch in der Nacht vom 23. Juli überquert Platow mit dem Gros seiner Kosaken den Dnjepr und reitet am Morgen des 24. Juli in voller Stärke am östlichen Ufer bei Mogilev auf, was die kleine französische Garnison, die Davout seinerseits zum Schutz der Brücke zurückgelassen hat, in derartigen Schrecken versetzt, dass die Soldaten in aller Eile die Zerstörung vorbereiten. Davout und seinen Generälen, die jetzt befürchten, aus westlicher, südlicher und östlicher Richtung gleich-zeitig angegriffen zu werden, gelingt es nur mit Mühe, die Brand-Stiftung zu verhindern. Die Brücke über den Dnjepr, an die sich die Straßen nach Holowczin und nach Orsha anschließen, ist der einzigste noch offene Rückzugs-Weg.
Davout zieht seine Truppen in und um Mogilev zusammen, die sich an den Ausfall-Straßen verbarrikadieren.
General Bagration, gleichso wie Davout der Überzeugung, dass ihm die gegnerischen Truppen weit überlegen sind, hat seinen Verband noch am Abend des 23. Juli wieder auf Nowyi-Bychow zurückgenommen. Die 4te Ponton-Kompanie unter Hauptmann Zotov und die beiden Kompanien des 2ten Pionier-Regiments von Hauptmann Orlov, die den technischen Einheiten der 2ten Armee unterstehen, erhalten Befehl zum Bau einer provisorischen Joch-Brücke, die in der Nacht zum 25. Juli fertig-gestellt ist. Bei Tages-Anbruch überquert Bagration mit der Masse der 2ten (russischen) Armee ungehindert den Dnjepr. Ihm bleibt nur noch der Weg nach Smolensk. Raevskys zieht in der Nacht vom 25. zum 26. Juli von Daszkowka ab, geht am Morgen über den Fluss und übernimmt die Nachhut der 2ten Armee. Nach der Ankunft der letzten Husaren und Kosaken auf dem östlichen Ufer am 27. Juli ist die Brücke zerstört.
Davout, der nur noch über knapp 10.000 einsatz-bereite Soldaten verfügt, gibt nach dem Abzug von Platows Kosaken – nach einem Monat verlustreicher Eil-Märsche und unter der seit Tagen drückenden Hitze von weit über 30 Grad – die weitere Verfolgung der 2ten (russischen) Armee auf.
Platows Kosaken erreichen am 26. Juli Gorki und am 27. Dubrowna (heute Horki bzw. Dubrouna, beides BLR), wo sie über den Dnjepr gehen. Am 29. Juli steht Platows Korps bei Lubawitsch (heute Ljubawitschi, RUS; ca. 70 km westlich von Smolensk), wo seine Reiter auf die ersten Streif-Trupps der Leibgarde-Kosaken aus der leichten Kavallerie-Brigade des Generals Orlow-Denissow treffen. Nach vier Wochen Marsch über eine Distanz von mehr als 750 Kilometern meldet sich Platow wieder bei seiner Armee zurück.
Im Ergebnis der Schlacht von Saltanovka nennt die russische Seite später Verluste von 2.548 Mann. Bagration berichtet dem Zaren, dass der Feind etwa 5.000 Mann verloren hat. Davout meldet an das Große Haupt-Quartier nach Beshankovichi (heute Beshankovichy, BLR), dass er bei der erfolgreichen Abwehr des Durchbruchs-Versuchs der 2ten russischen Armee nur 1.000 Mann verloren habe, wovon lediglich rund 100 Mann aus dem 108ten Regiment in Gefangenschaft geraten sind (George Nafziger benennt die französischen Verluste hingegen mit 4.134 Mann). Die russischen Verluste schätzt Davout auf über 1.200 Tote und 4.000 Blessierte und gibt an, rund 800 Gefangene gemacht zu haben.
»Allgemeine deutsche Zeitung für Rußland. No. 201. Mittwoch, den 2. September 1812«: "Warschau, vom 4ten August. Bagration hat, um seine Vereinigung mit der russischen Hauptarmee zu bewirken, den Fürsten von Eckmühl bey Mohilow angegriffen, ist inzwischen so geschlagen worden, daß er 8 Kanonen und 8.000 Mann verlor..."
Quelle: Internet-Projekt »Von der Bastille bis Waterloo«
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Sa., 18. Juli, bis Fr., 31. Juli: Gefechte an der Süd-Flanke |
Am 16. Juli, und nach einem Marsch von mehr als 250 Kilometern von Surash (heute Suraż, POL) nach Kleck (damals LIT, heute Klezk, BLR), hatte der ober-kommandierende General des VII. (sächsischen) Corps, Jean-Louis-Ebenezer Reynier, kurz nach seiner Vereinigung mit dem (zu diesem Zeit-Punkt noch) von Jérôme Bonaparte geführten rechten (südlichen) Flügel der "Grande Armée" aus Napoleons Großem Haupt-Quartier in Wilna den Befehl erhalten, mit seinem Verband wieder umzukehren und zurück nach Rozanni (Ružany, BLR; etwa 50 km nördlich des damaligen Stand-Orts des österreichischen Haupt-Quartiers) zu marschieren.
Am 18. Juli hatte der ober-kommandierende General des (XII.) "kaiserlich-österreichischen Auxiliar-Corps", Carl Philipp Fürst zu Schwarzenberg, von Napoleon den Befehl erhalten, sein Haupt-Quartier bei Pruzany (Pruschany, BLR) abzubrechen, mit seinem Verband rund 180 Kilometer in Richtung Osten zu marschieren und sich bei Nieswisch (Njaswisch, BLR) dem inzwischen von Marschall Davout geführten rechten (südlichen) Flügel der "Grande Armée" anzuschließen.
Über die Gründe, die Napoleon bewogen haben, die noch heute fragwürdigen Ablösungen samt den damit einhergehenden (verlust-reichen) Märschen zu befehlen, kann nur spekuliert werden. Entweder war er von den politischen Verwicklungen in Wilna zu sehr abgelenkt oder er war ganz auf die Planungen des weiteren Vorgehens seiner Haupt-Armee konzentriert oder er unterschätzte tatsächlich die Gefahr, die von den zwei aus südlicher Richtung heraufziehenden russischen Armeen ausging. Weder konnte General Reynier mit seinem inzwischen nur noch 17.000 Mann starken Corps die Grenze des Herzogtums Warschau decken, noch würde er den etwa 90.000 nahenden russischen Soldaten ernsthaften Widerstand entgegenbringen können.
Schwarzenberg hatte versucht, den Aufbruch seines Corps bis zur Ankunft der Sachsen hinauszuzögern; doch ein weiterer Befehl Napoleons, keine Zeit mehr zu verlieren, drängt zur Eile. Am 19. Juli rückt die Avant-Garde ab; am 20. bekommt General Theophil Joseph von Zechmeister von Schwarzenberg Order, von Kobryn aus das gesamte Gebiet östlich des Bug und nördlich des Muchawez mit seinen Husaren zu bestreifen und nach Möglichkeit bis zum Eintreffen der Sachsen zu beschirmen. Die erste Kolonne – der gesamte Fuhr-Park und rund 600 beschlagnahmte Pferde-Wagen und -Karren, die von zwei Infanterie-Brigaden eskortiert werden – stehen unter Befehl von Feldmarschall-Leutnant Johann Maria Philipp Frimont und bricht am 21. Juli von Malecz über Lohyczin (heute Malech bzw. Lahišyn, beides BLR) nach Pinsk auf, wo das Geleit die dort eingelagerten Vorräte zum Transport verladen soll. Die zweite Kolonne mit den Divisionen Bianchi und Siegenthal und der Brigade Wrede (und damit die Masse des "Auxiliar-Corps") wird von Schwarzenberg vom Sammel-Punkt Pruzany über Rozanni, Slonim und Stalowice (heute Pruschany, Ružany, Slanimas und Stalavichy; alles BLR) bzw. von Kobryn über die Karthause von Bereza und Kosow (Bjarosa und Kossawa, BLR) direkt in Richtung Nieswisch (heute Njaswisch) geführt. Am 22. begegnen sich Österreicher und die von der Brigade Klengel gestellte Avant-Garde des sächsischen Corps bei Bijelawiczi (heute Belavichi); am 23. trifft Schwarzenberg im Dorf Podlesje im Kreis Stolbzy (Stowbtsy, BLR) auf General Reynier, der bei Drohiczyn (Drahitschyn, BLR) sein Haupt-Quartier nehmen will.
Die beiden Corps-Kommandeure können nicht wissen, dass der russische General Alexander Petrowitsch Tormassow, Kommandeur der "(Reserve-) Beobachtungs-Armee", erst drei Tage zuvor auch sein drittes, von General Sergei Michailowitsch Kamenski kommandiertes Korps von der Moldau heranziehen konnte. Bei Kowel (heute Kowel, UKR [Wolhynien, am Fluss Turija]) haben sich beide Verbände am 19. Juli vereinigt; Tormassow verfügt jetzt über knapp 60.000 Mann und bis zum Bug – der (weitestgehend ungeschützten) Grenze zwischen Russland und dem Herzogtum Warschau im Westen bzw. dem seit 1772 von Österreich annektierte Galizien – ist es nur ein Tages-Marsch.
Am 20. Juli gibt auch Admiral Pawel Wassiljewitsch Tschitschagow großen Teilen seiner Donau-Armee den Marsch-Befehl in Richtung Norden.
Schon am 22. Juli gerät ein russischer Kosaken-Vortrab, der am Ufer der Pina einen Übergang sucht, nahe Pinsk auf dort aufgestellten Vedetten des östreichischen Feldmarschall-Leutnants Frimont. Zwar gelingt es den Österreichern, das russische Voraus-Kommando mit deutlichen Verlusten zurückzuweisen, doch Frimont, der eigentlich gehofft hatte, bei Sonnen-Aufgang des kommenden Tages mit seinen Infanterie-Brigaden samt der inzwischen beladenen und damit schwer-fälligen Wagen-Kolonne Pinsk an die nahenden Sachsen übergeben zu können und die Stadt unbehelligt verlassen zu können, setzt seine Soldaten in höchste Alarm-Bereitschaft.
General Alexander Petrowitsch Tormassow (1752-1819) und General Iwan Alexejewitsch Chruschtschow (1774-1824) Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
Während das "Auxiliar-Corps" am 23. Juli Slonim erreicht, am 26. Stalowice passiert und am 28. schließlich am befohlenen Marsch-Ziel Nieswisch eintrifft, machen Husaren der sächsischen Avantgarde am 23. Juli bei westlich von Pinsk die Vorhut der russischen Armee aus. Eine weitere russische Division mit starker Kavallerie-Bedeckung wird bei Kowel entdeckt; Kosaken-Patrouillen des Kavallerie-Generals Iwan Alexejewitsch Chruschtschow bestreifen von hier aus bereits das Gebiet zwischen Brest und Kobryn. Das Haupt-Quartier des kommandierenden Generals Tormassow ist bei Lutschesk (heute Luzk, UKR) eingerichtet.
Reynier verfügt insgesamt über zwei Infanterie-Divisionen mit 18 Bataillonen, eine Kavallerie-Division mit 16 Schwadronen, vier Batterien zu Fuß und einer Batterie zu Pferd mit je sechs Geschützen, dazu zwanzig vier-pfündige "Regiments-Stücke". Eine Offensive der russischen Reserve-Armee kann er mit dieser Streit-Macht nicht aufhalten; bestenfalls stören, wobei der französisch-sächsische General-Stab über Tormassows Haupt-Stoßrichtung jedoch nur spekulieren kann. Ein Ziel von besonderem strategischen Wert sieht Reynier in dem etwa 170 Kilometer langen "Pinsk-Brest-Trakt": Die unbefestigte Post-Straße führt direkt nach Warschau und wird aus südlicher Richtung von vier Verbindungen gekreuzt, die im weiteren Verlauf nach Norden auf die rechte (südliche) Flanke der "Grande Armée" führen. Reynier ist gezwungen, sein Corps zu teilen und die vier Kreuz-Wege – und damit die möglichen Angriffs-Routen – bei Pinsk und Janow (Iwanawa, BLR), Kobryn und Brest zu besetzen. Noch am 23. Juli erhält Major von Seydlitz Order, mit seiner Ulanen-Eskadron die Umgebung von Pinsk zu sichern und die Kosaken zurückzuwerfen. Nach Ankunft der Ulanen in Pinsk übergibt der österreichische Feldmarschall-Leutnant Frimont die Stadt an das sächsische Kommando; seine Train-Kolonne erhält Befehl, alles zum Abmarsch nach Nieswisch bereitzumachen. Am folgenden Tag wird auch die österreichische Husaren-Brigade, die General Schwarzenberg unter General Zechmeister in Kobryn zurückgelassen hat, von der sächsischen Avantgarde-Brigade Klengel abgelöst: General Heinrich Christian Klengel, dem neben den drei verbliebenen Eskadronen des Ulanen-Regiments "Prinz Clemens" unter Befehl von Oberst Johann Adolf von Zezschwitz auch vier Bataillone der Infanterie-Regimenter "König" und "Niesemeuschel" samt acht vier-pfündige "Regiments-Stücke" unterstehen, übernimmt die Aufgabe, mit den rund 3.000 Mann seines Verbandes – davon nur knapp 500 Kavalleristen – die etwa 50 Kilometer lange Linie zwischen Kobryn und Brest sowie die unübersichtliche Bug-Grenze zum Herzogtum Warschau zu sichern. Und während General Zechmeister gemäß der ihm erteilten Befehle mit seinen Husaren noch am selben Tag nach Pinsk aufbricht, um von dort aus den Train über Lubiszyn und Baranowitschi (heute Liubishchitsy und Baranawitschy, BLR) nach Nieswisch zum Haupt-Quartier des "Auxiliar-Corps" zu eskortieren, bekommt der Kommandeur des Infanterie-Regiments "König", Oberst Carl Leopold von Göphardt, von General Klengel den Befehl, zusammen mit einer halben Eskadron Ulanen weiter nach Brest zu marschieren und das Ende Juni in der strategisch wichtigen Grenz-Festung stationierte Detachement zu verstärken. Und mit dem Erhalt der Meldung, dass es auch General Heinrich Adolph von Gablenz nach einigen Vorposten-Gefechten am Morgen des 26. Juli gelungen ist, mit seiner Brigade Pinsk und Janow zu besetzen, ist General Reynier der Überzeugung, mit den ihm zur Verfügung stehenden Kräften alles für die Sicherheit der Invasions-Armee und seines Corps getan zu haben.
Am Mittag erhält er die Meldung, dass bereits am 24. Juli russische Einheiten die sächsische Garnison von Brest überwältigt haben und die Festung in den Händen der Russen ist; auch wurde die Ulanen-Abteilung, die Oberst Göphardt seinem zur Verstärkung von Brest beorderten Regiment vorausgesandt hatte, bei Bulkow (Bulkova, BLR) angegriffen und zurückgeschlagen, worauf sich auch das Regiment "König" noch in der Nacht zum 26. Juli wieder nach Kobryn zurückgezogen hat. Letztendlich werden seit den frühen Morgen-Stunden nun auch die wieder vereinten rund 3.000 Mann der sächsischen Avantgarde-Brigade Klengel von Kosaken und Husaren der russischen Vorhut-Kavallerie unter General Karl Osipovich (Charles de) Lambert bedrängt.
Um zu retten was zu retten ist, zieht General Reynier alle ihm noch verfügbaren Einheiten zusammen.
Mit dem Ziel, zusammen mit der Brigade Klengel die für die Versorgung der sächsischen Armee entscheidend wichtige Festung von Brest und damit die Verbindung nach Warschau zurückzugewinnen, bricht Reynier am Morgen des 27. Juli von Drohiczyn (Drahitschyn, BLR) nach Kobryn auf. Etwa auf halber Strecke, zwischen Antopal und Horodez (heute Gorodets, BLR; etwa 20 km östlich von Kobryn), wird der Verband auf Kanonen-Donner aufmerksam, der darauf schließen lässt, dass General Klengel bereits in schwere Gefechte mit den russischen Truppen verwickelt ist. Dunkle Rauch-Schwaden stehen am westlichen Horizont. Und entgegen den ersten Meldungen, dass die Angriffe auf die sächsischen Garnisonen lediglich von stärkeren Aufklärungs-Einheiten der leichten russischen Reiterei ausgeführt werden, zeichnet sich für den französisch-sächsischen General-Stab infolge des Vielzahl direkter Sichtungen feindlicher Truppen bald das Lage-Bild, einem Groß-Verband der Armee Tormassows gegenüberzustehen.
Nach sächsichen Schilderungen finden vorausgesandte Patrouillen die Straße nach Kobryn bereits vor Horodez von starken russischen Kräften besetzt; Kobryn ist damit abgeriegelt und die Brigade Klengel abgeschnitten. Aus dieser Richtung verhallt gegen 15:00 Uhr der Gefechts-Lärm; dafür gerät Reyniers Verband kurze Zeit später unter Artillerie-Beschuss. Und als am frühen Abend mehrerere Meldungen eingehen, dass russische Verbände auch auf das sächsische Haupt-Quartier bei Drohiczyn (Drahitschyn, BLR) und Pinsk im Anmarsch sind; darüber hinaus einige abgekämpfte Soldaten und Offiziere der Brigade Klengel eintreffen und die Nachricht überbringen, dass der Verband etwa gegen 9:00 Uhr vormittags bereits zur Rundum-Verteidigung übergegangen war und gegen Mittag über 1.000 Mann tot oder verwundet in den bald darauf brennenden Häusern lagen, am frühen Nachmittag die Munition zur Neige ging und mehrere Versuche der sächsischen Ulanen, den immer enger werdenden Ring um Kobryn zu durchbrechen, im Kartätsch-Feuer scheiterten, blieb General Heinrich Christian Klengel nach beinahe acht-stündigen Kämpfen -, angesichts ausbleibender Unterstützung und eines inzwischen fünf-fach überlegenen Gegners gegen 15:00 Uhr keine andere Möglichkeit als die Kapitulation. Auch aus östlicher Richtung kommen schlechte Nachrichten: Der von General Gablenz nach Pinsk abkommandierte Verband wurde von russischer Kavallerie nach Janow zurückgeschlagen.

"Schlacht von Kobryn." "Kapitulation des sächsischen Generals Klengel vor dem Portal des Spassky-Klosters (Unser Gnädigster Retter) in Kobryn." Aquarell von Wladimir A. Stelmashonok in der Sammlung des Staatlichen Militärhistorischen Museum »Schlachtfeld Borodino« (bei Moskau, RUS).

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In Auswertung der einzelnen Meldungen und in Anbetracht der Geschehnisse des Tages klärt sich für Reynier und den Generälen seines Stabes am Abend des 27. Juli langsam der Ernst der Lage und das Ausmaß der Bedrohung: Die gegen Brest und anschließend aus West und Ost gegen Kobryn geführten Verbände unter Kommando der russischen Generäle Karl Osipovich (Charles de) Lambert und Alexei Grigorjewitsch Schtscherbatow verfügen zusammen über zehn Bataillone Infanterie, drei reguläre Kavallerie- und sechs Kosaken-Regimenter mit einer Gesamt-Stärke von über 12.000 Mann, dazu mindestens drei reitende Batterien "Einhörner" (leichte Halb- und Viertel-Pfünder). Pinsk wurde von General Alexei Petrowitsch Melissino mit einem Regiment Kavallerie und etwa sechs Bataillonen Infanterie erobert; zusammen rund 5.000 Mann. Im Anmarsch auf das Zentrum der Sachsen konnte ein von General Tschaplitz geführter Vortrab-Verband mit zwölf Eskadronen leichter Kavallerie und einem Regiment Kosaken, zwei Infanterie-Bataillonen und einer reitender Batterie ausgemacht werden; dahinter die von General Tormassow geführte Haupt-Macht mit drei Kavallerie- und elf Infanterie-Regimentern, dazu vier Batterien Feld-Artillerie. Und bereits nördlich von Kobryn ein von Oberst Valerian Grigoryevich Madatov geführtes Kavallerie-Detachement mit noch einmal knapp 1.500 leichten Reitern und dem Befehl, dem sächsischen Corps den Rückzugs-Weg nach Pruzany (heute Pruschany, BLR) zu verlegen.
General Reynier, der an diesem Tag allein in Kobryn neben General Klengel, 3 Obristen, 6 Stabs- und 57 Subaltern-Offiziere sowie 2.234 Unteroffiziere und Soldaten an Gefangenen auch 108 Gefallene und 165 Verwundete verzeichnen muss; vier Fahnen, acht Kanonen und die gesamte Bagage verloren hat, befiehlt noch in der Nacht zum 28. Juli den Rückzug in Richtung Rozanni (Ružany, BLR).
»Allgemeine deutsche Zeitung für Rußland. No. 195. Mittwoch, den 26. August«: "Dresden, den 9ten August. Durch einen aus dem Hauptquartier des 7ten Armeekorps am 31sten July abgegangenen Officier ist die Nachricht eingegangen, daß der General von Klengel, mit seiner aus dem Regiment König und einem Theil der Regimenter Niesemeuschel Infanterie und Prinz Klemens Ulahnen bestehenden Brigade, am 27sten d. M. bey der Vertheidigung des Posten Kobryn (in Brcesk) gegen das Korps des russischen Generals Tormassow, nach einem 10stündigen tapfern Widerstande, der feindlichen Uebermacht unterlegen hat und in Gefangenschaft gerathen ist. Der kommandirende General Graf Regnier hat nach diesem Vorfalle den nachstehenden Armeebefehl erlassen, welcher zugleich das rühmliche Verhalten der Truppen in den Gefechten bey Pinsk und Janowa bezeichnet..."
Quelle: Internet-Projekt »Von der Bastille bis Waterloo«
General Carl Philipp Fürst zu Schwarzenberg, Kommandeur des "kaiserlich-österreichischen Auxiliar-Corps", erfährt am 30. Juli in Nieswisch vom Geschehen in seinem Rücken. Und obwohl er am Tag zuvor vom Großen Haupt-Quartier noch die Order erhalten hat, mit seinem Verband weiter nach Minsk vorzurücken und sich dort den von Marschall Davout geführten Truppen anzuschließen, erteilt er seinem Verband den Befehl, erst einmal auf Snów (Snoŭ, BLR) zurückzumarschieren und dort eine Auffang-Stellung einzurichten.
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(1): Áuxina (polnisch: Złoty); eine frühe, weit verbreitete und im gesamten ost-europäischen Handels-Raum akzeptierte polnisch-litauische Silber-Münze. Ab der Währungs-Reform von 1526–1528 auch als Gold-Münze zu 3,36 Gramm mit einem Wert von 4 Silber- oder 30 Kupfer-Grášas eingeführt. Die Münz-Prägung begann 1564 in Wilna. Zwischen 1671 und 1762 wurden dann regulierte Gold-Münzen geprägt, aus denen die zwischen 1766 und 1795 verausgabten "Konstanten" mit Stückelungen von 8, 4, 1/2, 1/4 Áuxinas hervorgingen. Nach der dritten Teilung Polens und Litauens (1795) wurden nur noch im Herzogtum Warschau Gold-Münzen geprägt. In den Jahren 1834–1841 wurde ein doppelter Nennwert geprägt, der 15 Kopeken entsprach.
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Kapitel-Inhalt
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Allgemeine Lage.
Sa., 1. August, bis Mo., 3. August: Witebsk (BLR; gut 2.250 km östlich von Paris). |
Genau einen Monat brauchte es, bis die Nachricht vom Beginn des Krieges London erreicht hatte: In der Ausgabe vom 25. Juli 1812 berichtete die »Times« erstmals von der Überquerung des Njemen und vom Beginn der Invasion. Für die weitere Geheim-Haltung der zwischen Russland, Britannien und Schweden am 12. und am 18. Juli 1812 im schwedischen Örebro geschlossenen Friedens- und Bündnis-Vertrages bestand nun kein Grund mehr.
Napoleon, der mit dem Großen Haupt-Quartier seit dem 28. Juli in Witebsk lagert, zeigt sich von der neuen Koalition gegen sein Imperium wenig beeindruckt. Laut den letzten Berichten französischer Agenten, die dem Kaiser mit der Kurier-Post täglich aus Paris (jedoch inzwischen mit drei-wöchiger Transport-Dauer) zugestellt werden, steht das Vereinigte Königreich kurz vor einem neuen Krieg mit seinen ehemaligen und nun unabhängigen Kolonien in Übersee, und Napoleon ist der Hoffnung, dass das Empire infolge des bald in der Ferne tobenden Konflikts gezwungen sein wird, große Teile der »Royal Navy« von den europäischen Küsten und bestenfalls auch Truppen des in Spanien mit zunehmenden Erfolg operierenden britischen Expeditions-Heeres unter dem erst im Frühjahr zum Earl of Wellington erhobenen Generals Arthur Wellesley abziehen zu müssen. Auch seine Informanten am Hof des schwedischen Prinz-Regenten, dem ehemaligen französischen Marschall und vom schwedischen König Karl XIII. adoptierten Jean Baptiste Bernadotte, übermitteln gute Nachrichten: Die von Napoleon in seinen strategischen Plan-Spielen bedachte Option der Landung britisch-schwedischer Marine-Truppen an der preussisch- oder russisch-baltischen Ostsee-Küste steht nicht zu erwarten.
Größere Sorge bereitet dem Kaiser der am 23. Juni zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich geschlossene Frieden. Die von den Generälen Carl Philipp Fürst zu Schwarzenberg, Kommandeur des "kaiserlich-österreichischen Auxiliar-Corps", und Jean-Louis-Ebenezer Reynier, Kommandeur des VII. (sächsischen) Corps, gefertigten Berichte über die stetig wachsende Zahl russischer Groß-Verbände an der rechten (südlichen) Flanke der "Grande Armée" hat Napoleon bis zum Eingang der Meldung von der Vernichtung der sächsischen Brigade Klengel am 27. Juli bei Kobryn als vollkommen übertrieben abgetan, war er doch der Überzeugung, dass die türkischen Truppen den Abzug von Teilen der russischen Süd-Armeen zwischen dem alten Grenz-Fluss Dnjestr und dem etwa 100 Kilometer weiter westlich gelegenen Fluss Prut sofort nutzen und die seit Jahren erbittert umkämpften Fürstentümer Moldau und Walachei umgehend besetzen würden. Anfang August bedrohen mindestens 40. bis 50.000 russische Soldaten – nach Aussagen gefangener russischer Offiziere bald über 80.000 Mann – seinen linken Flügel, somit operativ die Ost-Grenzen seiner österreichischen und polnischen Verbündeten und damit die rück-wärtigen Verbindungen der "Grande Armée"...
... der größten Sorge des Kaisers.
"Biwak des Kaisers vorwärts Witebsk am 28. Juli 1812"
Illustration aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
"Vor Vitebsk"
Illustration von Albrecht Adam, lt. »artnet« im Privat-Besitz.
"Gesamtansicht von Witebsk vom Ufer der Vicba"
Aquarellierter Stich nach einer Vorlage von Józef Peszka um 1800.
Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
Imperator Napoleon I.
Unbekannter Künstler (Signatur nicht identifizierbar) in der Sammlung des »Staatlichen Militärhistorischen Panorama-Museums Borodino« (bei Moskau, RUS).
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Innerhalb von fünf Wochen hat Napoleon 135.000 Mann – ein Drittel seiner Armee – verloren, ohne eine Schlacht geschlagen zu haben. Und obwohl der Kaiser seiner von Hunger und Durst, Märschen und Kämpfen, Strapazen und Krankheiten geschwächten Haupt-Armee eine Erholungs-Pause von zehn Tagen zugestanden hat, ist (und bleibt) vor allem die Versorgungs-Lage in und um Witebsk äußerst kritisch: Die Proviant-Kolonnen -, die versprochenen Fuhr-Werke mit Brot und Zwieback -, die Wagen der Feld-Bäckereien samt den zur Schlachtung vorgesehenen Zug-Ochsen sind weit hinter der Armee zurück-geblieben und werden zu allem Übel von den scheinbar überall präsenten Kosaken und den immer zahlreicher werdenden "Partisanyi" attackiert; die Marketender-Karren, beladen mit vollkommen überteuerten Luxus-Artikeln aber auch den Waren des täglichen Bedarfs, halten sich in der Regel in der Nähe Kassen-Wagen der Zahl-Meistereien, die am Ende der Train-Kolonnen liegen, womit die Sold-Zahlungen ausbleiben, Mannschaften und Feld-Offizieren das Geld ausgegangen ist und Plünderungen zur Regel werden.
Mit dem Hunger schwindet die Disziplin: Ein erheblicher Teil der Verlust-Zahlen sind auf Desertationen oder verloren gegangene Requirierungs-Kommandos zurückzuführen.
Tatsächlich sind die Stärke-Meldungen, die Napoleon in dem von Generalstabs-Chef Berthier am Rapport 3. August vorgelegt werden, verheerend: Von den 47.000 Mann der Garde lagern in und um Witebsk nur noch 24.600 Mann. Marschall Michael Ney, der mit dem III. Corps bei Lioszna biwakiert (heute Ljosna, BLR; gut 40 km süd-östlich von Witebsk), sind von seinen anfänglich rund 44.000 Mann nur noch 22.282 geblieben. Vize-König Eugène, der sein Haupt-Quartier bei Surazh (Suraz, BLR; gut 40 km nord-östlich von Witebsk) errichtet und noch vor sechs Wochen ebenfalls über 44.000 verfügt hat, gibt die Stärke seines zwischen Janowischje und Welitschewo (heute Janavičy, BLR, bzw. Welisch, RUS) IV. (italienischen) Corps mit 30.445 Mann an. Marschall Joachim Murat, der sich mit seinem Stab im Dörfchen Rudnya einquartiert hat (auch Rudnja, RUS; ca. 60 km östlich von Witebsk), kann über die Stärken seiner beiden Reserve-Kavallerie-Corps keine genauen Angaben machen; die Einheiten sind in ständiger Bewegung, sichern die Umgebung von Witebsk und patrouillieren auf den Straßen nach Smolensk im Osten, nach Orsha im Süden (heute Orscha, BLR) und den Routen beid-seits der Düna nach Polozk und Glubok (heute Polazk bzw. Hlybokaje, beides BLR). Auch Marschall Laurent de Gouvion Saint-Cyr, der von Napoleon am 2. August den Befehl erhalten hat, sein VI. (bayerisches) Corps wieder marsch-bereit zu machen, zurück nach Polozk zu gehen und dort das II. Corps unter Marschall Charles Oudinot gegen den russischen General Wittgenstein zu unterstützen, kann nur eine Schätzung von etwa 22.000 Mann übermitteln (von Oudinot, der sich nach seiner Niederlage bei Kljastizy in Polozk verschanzt hat, liegen dem General-Stab zu diesem Zeit-Punkt weder Stärke- noch Verlust-Meldungen vor).
Auch auf dem von Marschall Louis-Nicolas Davout geführten rechten (südlichen) Flügel sieht es nicht besser aus: Nicht nur, dass Davout in Mogilew (heute Mahiljou, BLR) nach den dortigen Gefechten nur vage Vermutungen zum Verbleib -, zur aktuellen Position oder zur Marsch-Route der 2ten (russischen) West-Armee unter General Peter Iwanowitsch Bagration melden kann, auch sind die einzelnen Verbände des I. Corps über eine Distanz von knapp 200 Kilometern entlang der Straße von Minsk nach Mogilew verteilt, und es wird mindestens vier bis fünf Tage dauern, die Truppen zusammenzuziehen. Davout hat Dubrowna zum Sammel-Punkt bestimmt, wo er über den Dnjepr gehen will (heute Dubrouna, BLR; etwa 80 km südlich von Witebsk). Zusammen mit sämtlichen zwischen-zeitlich zugegangenen Verstärkungen – u.a. die polnische Division des Generals Claparède und die 5te schwere Kavallerie-Division unter General de Valence – zählt das I. Corps genau 60.171 Mann. Das VIII. (westphälische) Corps unter General Dominique Joseph Vandamme, das bei Orsha den Dnjepr passieren will, hat dem Marsch die Hälfte seiner Soldaten und Offiziere verloren und zählt noch 14.000 Mann; Fürst Józef Antoni Poniatowski, mit dem V. (polnischen) Corps auf dem Weg nach Mogilew, kann von seinen vormals 36.000 Mann noch 22.738 aufbieten.
Die Corps erhalten Order, Kavallerie-Detachements zurückzuschicken, die die "Traineurs" (Zurückgebliebene bzw. Herumtreiber) zusammen-sammeln und die Leicht-Verwundeten aus den provisorischen Feld-Lazaretten entlang der Marsch-Routen zu den Spitälern von Witebsk verschaffen sollen; etwa 6.000 Mann können so zusammen-getrieben werden. Alles in allem stehen dem Kaiser noch knapp 200.000 Mann zur Verfügung (Georges de Chambray [1783-1848], Artillerie-General in der Garde und Militär-Historiker nennt 193.608 Soldaten und Offiziere).
In seiner gewohnten Schnelligkeit trifft der Kaiser am 3. August eine Reihe von Dispositionen: Zur einst-weiligen Sicherung der bedrohten rechten Flanke erhalten die Generäle Schwarzenberg und Reynier die Weisung, ihre Kontingente bei Slonim zu vereinigen; zusammen verfügen Österreicher und Sachsen über knapp 45.000 Mann. Zur Verstärkung unterstellt Napoleon der Süd-Flanke die 12.000 Soldaten der von General Jan Henryk Dąbrowski [auch Jean Henri oder Johann Heinrich Dombrowski] kommandierten 17ten [polnischen] Infanterie-Division, was der Süd-Flanke jedoch keinen praktischen Nutzen bringt: Die Polen stehen vor der Festung Bobruisk an der Beresina (heute Babrujsk, BLR), die von rund 4.000 Russen mit Ausdauer gehalten wird.
An Marschall Davout geht der Befehl, die Corps des Süd-Flügels bei Orsha und Mogilew zu sammeln, bei Dubrowna über den Dnjepr zu gehen und sich dort zur Unterstützung der Haupt-Armee bereitzuhalten.
In Ost-Preussen erhält Marschall Claude Victor-Perrin (gen. Victor) die Order, mit sämtlichen verfügbaren Einheiten des inzwischen auf dem rechten Ufer der Weichsel (heute Wisła, POL) in Bereitschaft stehenden IX. (Reserve-) Corps – etwa 15.000 französische und polnische Rekruten und rund 15.000 deutsche Soldaten aus dem Württembergischen und Badischen -, aus dem Bergischen und den Rhein-Landen (20.000 weitere Soldaten aus Süd-Deutschland befinden sich noch im Anmarsch) – unverzüglich in Richtung Tilsit (heute Sowetsk, RUS) abzurücken und über die Memel zu gehen, nach Witebsk zu marschieren und sich der Haupt-Armee anzuschließen. Marschall Charles Pierre François Augereau mit Haupt-Quartier in Berlin und mit der "Überwachung" des preussischen Verbündeten betraut, bekommt die Weisung, den Aufbau seines sich bei Stettin versammelnden XI. Corps – u.a. zehn Bataillone französische Infanterie, die sog. Fürsten-Division mit den Regimentern der Herzöge von Sachsen, von Anhalt-Lippe und von Schwarzburg, Waldeck und Reuss sowie die rund 12.500 Mann umfassende neapolitanische Infanterie-Division – voranzutreiben.
Zur Überraschung sämtlicher Offiziere im General-Stab beruft Napoleon den nach der Kapitulation von Cintra in Portugal (30. August 1808) in Ungnade gefallenen -, seit dem mit unbedeutenden Kommandos betrauten und kurz vor Beginn des Feld-Zuges dem Stab des IV. (italienischen) Corps des Vize-Königs Eugène beigegebenen General Jean Andoche Junot, Herzog von Abrantès, zum neuen Ober-Kommandierenden des VIII. (westphälischen) Corps.
Napoleon zieht seine Armee zusammen. Nach den beinahe stündlich eingehenden Meldungen seiner Avantgarde-Kavallerie lassen alle Anzeichen darauf schließen, dass sich die rund 130 Kilometer weiter östlich bei Smolensk stehende 1te (russische) West-Armee unter General Michael Andreas Barclay de Tolly an der Grenze zum alt-russischen Reich endlich zur Schlacht stellen wird.
Am 3. August geht im Großen Haupt-Quartier die Nachricht ein, dass beide russische West-Armeen nur noch vom Dnjepr getrennt werden; die Vereinigung nicht mehr zu verhindern ist.
"Soldaten der großen Armee"
Illustration nach Motiven von Karl Ferdinand Weiland aus »1812 - Der Untergang der großen Armee und seine Vorgeschichte« von Theodor Rehtwisch, Berlin (o.J.).
"Soldaten auf der Rast bei einer Marketenderin"
Gemälde von Adrien Moreau, lt. »Auktions-Haus Hampel« im März 2011 versteigert.
"Don-Kosaken bei Panskoe" (nahe Smolensk)
Gemälde von Sergej Nikolajewitsch Troschin.
Bildquelle: Internet-Präsenz von ► Sergej Nikolajewitsch Troschin.
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Allgemeine Lage.
Fr., 24. Juli, bis Fr., 14. August: Moskau (RUS; gut 2.500 km östlich von Paris). |
Im Rahmen einer Versammlung des Obersten russischen Militär-Rates im Lager von Drissa konnte Zar Alexander von den Offizieren des General-Stabs der 1ten West-Armee überzeugt werden, sich als Ober-Kommandierender aller russischen Armeen nicht in vorderster Linie den an der Front gegebenen Gefahren auszusetzen. Die Militärs erinnerten den Zaren daran, dass er in seiner Position als "Vater des Vater-Landes" und oberster "Gebieter aller Reußen" (mittel-alterliche Übersetzung für die Russen als Bewohner der Rus; daraus der kirchen-slawische Titel "Herrscher der ganzen Rus") in der Pflicht stand, die Verteidigung des russischen Reiches aus dem Rückhalt der "Thron-Stadt" zu organisieren. Am 18. Juli war der Zar in Richtung Moskau aufgebrochen, wo er sechs Tage später mit seinem Hof-Staat eintraf.
Mit der Wahl des ersten Romanows zum Zaren Russlands im Jahr 1613 – insbesondere nach dem Ende der blutigen Macht-Kämpfe um den alt-moskowitischen Reichs-Thron – hatte sich in Moskau die Tradition entwickelt, den jeweils amtierenden Regenten als Stifter des Friedens, Beschützer des Reiches und Bewahrer des allein selig-machenden Glaubens bei jedem Auftritt außerhalb der Mauern des Kreml-Palastes mit einem feierlichen Spalier zu begrüßen, zu ehren und zu bejubeln (mit dem Untergang Konstantinopels im Jahr 1453 wurde die Orthodoxe Kirche nicht mehr durch den Byzantinischen Kaiser beschützt; mit der Krönung des jeweiligen Zarewitsch durch den jeweils vorstehenden "Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus" wurde ein Macht-Bündnis auf Gegenseitigkeit geschaffen, das weltlichen und geistlichen Herrschafts-Anspruch über Jahrhunderte festigte). Neu am Spalier des 24. Juli 1812 waren die unzähligen kriegerisch ausstaffierten Untertanen, die zu Dutzenden aufgereiht oder gar in Hundertschaften formiert an den Straßen-Rändern standen, herum-paradierten und von phantastisch uniformierten Offizieren kommandiert wurden.
Schon in und um Smolensk waren bei Eingang der Nachricht vom Beginn der Invasion auf Beschluss der Rats-Versammlung des Gouvernements Smolensk (Adel, Militär, Bürgerschaft und Geistliche) erste paramilitärisch organisierte Abteilungen der Land-Miliz gebildet worden, zu deren Formation jeder Guts-Besitzer verpflichtet wurde, jeden zehnten Leib-Eigenen abzustellen. Auslöser der Kriegs-Begeisterung auf den Moskauer Straßen waren ein noch im Lager von Drissa entworfenes, mit Datum vom 6. Juli (Jul.K.; greg.: 18. Juli) in Polozk verfasstes, am 22. eiligst in der Druckerei des Senats von St. Petersburg gedrucktes und schnellst möglich in allen größeren Bezirks- und Provinz-Städten verbreitetes "Allerhöchstes Manifest des Zaren" und ein ebenfalls vom 6. Juli datierter Appell an die Bewohner "Unserer Mutter-Hauptstadt Moskau": Im typisch pathetischen Stil der von Staats-Sekretär und Vize-Admiral Alexander Semenovich Schischkow fanatisch verteidigten alt-slawischen Kirchen-Sprache forderten beide Edikte den Adel in und um Moskau dazu auf, ihre Leib-Eigenen nach Möglichkeit zu bewaffnen, Miliz-Einheiten zu bilden oder solchen beizutreten, selbst das Kommando zu übernehmen oder die heran-geführten Scharen erfahrenen Kommandeuren zu unterstellen. Schischkows Worte sprachen die Gefühle der Menschen gleich welchen Standes an, war doch jeder Russe von Kindheit an mit klaren und gleichsam verklärten Bildern von Krankheit und Heilung -, von Leiden und Errettung -, von Qualen und Erlösung aufgewachsen, die die Gemeinde-Popen in ihren alltäglichen Andachten und mittels der sakralen Hymnen und Chorälen in den Köpfen der Gläubigen geformt und mit Ausdauer geprägt hatten. Begriffe wie "Mütterchen Russland" oder "Mutter Heimat" waren Versinnbildlichungen, die Russland national personifizierten und sich bestens dazu eigneten, die Vorstellung einer liebenden, nährenden und sich sorgenden Über-Mutter zu erwecken, der von einer martialischen Bestie Gewalt angetan wird.
Welcher Sohn würde die von Schändung bedrohte Mutter nicht retten und rächen wollen?
Manifest vom 6. Juli (Jul.K.; greg.: 18. Juli) 1812
anzeigen
Der Feind ist mit großen Heeren auf das russische Gebiet eingebrochen; er verwüstet unser theures Vaterland. Ungeachtet die russische Armee von Muth brennt, sich den Unternehmungen dieses verwegenen Feindes entgegen zu stellen und sie zu vereiteln, so können wir doch aus väterlicher Vorsorge für Unsere getreuen Unterthanen ihnen die Gefahr nicht verhehlen, von der sie jetzt bedroht werden. Der Feind muß wenigstens seine Fortschritte nicht einem Mangel von Vorsicht unserer Seits zu verdanken haben.
Da wir um deswillen im Innern des Reichs neue Streitkräfte zu unserer Vertheidigung aufzustellen gedenken, so wenden Wir Uns mit dem Antrag dazu zuvörderst an Moskau, diesee alten Residenz unserer Vorfahren. Von jeher stand sie unter den übrigen Städten Rußlands oben an; aus ihren Mauern gingen die Heere hervor, welche ihre Feinde in den Staub warfen. Nach ihrem Beyspiel eilten aus allen umliegenden Ortschaften die Söhne des Vaterlandes zu ihrer Vertheidigung herbey, so wie das Blut immer wieder dem Herzen zufließt.
Das Bedürfniß der Vertheidigung war nie dringender als jetzt, da die Regierung, der Thron und der Staat allesammt von Gefahr bedroht sind. Der Adel und alle übrigen Einwohner des Staats mögen dann sich zum Streit erheben, Gott und unsere rechtgläubige Kirche werden denselben segnen. Möge ein gedeihlicher Wetteifer von Moskau ausgehen, sich über das ganze weite Reich verbreiten und von allen Seiten neue Streitkräfte herbeyführen; Wir werden unverzüglich in Person nach Moskau und nach den andern Städten des Reichs Uns begeben, um Einheit in die Vertheidigungsmittel zu bringen, dem Vordringen des Feindes Gränzen zu setzen, und ihn überall, wo er sich zeigen möchte, zurückzuschlagen.
Möge die Vernichtung, mit welcher er uns bedroht, auf sein eigenes Haupt zurückfallen, und ganz Europa, nachdem wir es von seinem Joche befreyt haben werden, den Namen Rußlands segnen.
Gegeben in Unserm Lager von Polotsk, am 6ten Julius 1812.
Alexander.
Schischkow verstand es, die Imagination eines gemeinen, mit übelsten Mitteln hinterhältig agierenden Gegners zu erschaffen: Die Franzosen, die Schischkow in wütender Polemik u.a. als "Verschmelzung eines Tigers mit einem Affen" überzeichnete, konnten es nur wagen, sich dem etwas unbeholfenen und tapsigen, ansonsten gutmütigen und friedlichen Bären zu nähern, da dieser einmal wieder nichts böses ahnend in den Schlaf gefallen war und nun langsam und träge erwachte (der "Russische Bär" ist eine beliebte Figur aus der russischen Märchen-Welt, die auf einen österreichischen Reise-Bericht aus dem Jahr 1549 zurückgeführt wird). "Der Feind kommt mit Schmeicheleien auf den Lippen, aber mit Ketten in der Hand!" prophezeite Schischkow.
Noch am Tag seiner Ankunft berief der Zar ein Komitee zur Organisation der in Moskau versammelten und noch zu errichtenden Miliz-Truppen. Die beiden Arbeits-Gruppen, bestehend aus erfahrenen Stabs- und Verwaltungs-Offizieren und jeweils unter Vorsitz eines Militär-Gouverneurs, erhielten den Auftrag, innerhalb einer Woche vereinfachte Vorschriften für den Aufbau, die Führung und Ausbildung und der Bewaffnung und Ausrüstung zu verfassen sowie die Beschaffung und Verausgabung von Geldern, Waffen und Uniformen, Proviant und Fourage zu organisieren und zu regeln. Die so entwickelten Direktiven, die als Dienst-Vorschriften auch für die Organisation weiterer bzw. später zu errichtender Provinz- bzw. sog. Zemstvo- (Landstand-) Milizen vorgesehen waren, wurden vom wort-gewandten Staats-Sekretär Schischkow in einfachen und verständlichen Bestimmungen zusammengefasst.
Unter dem Titel "Verordnung über die Zusammensetzung der Moskauer Streit-Kräfte" traten die vom Zaren genehmigten Reglements zur Aufstellung, Ausrüstung und Ausbildung der Provinz-Milizen am 26. Juli in Kraft.
Neben den Einberufungen zur regulären Armee nach dem auch in Russland ab 1762 eingeführten Kanton-Reglement begannen noch im Juli im gesamten Miliz-Bezirk von Moskau großflächige Mobilisierungen der Bauernschaften. Die Miliz-Einheiten wurden nach Vorbild der regulären Armee strukturiert, wobei bevorzugt Kosaken- und Jäger-Regimenter zu Fuß und zu Pferd formiert werden sollten. Der Einfachheit halber ging man schnell dazu über, Kompanien und Korporalschaften in Hunderter- und Zehnerschaften zu untergliedern, wobei das Infanterie-Regiment vier Bataillone zu je vier Hundertschaften -, ein Kavallerie-Regiment zehn Eskadronen umfasste. Und obwohl die seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts in der Miliz übliche Tradition der freien Kommandeurs-Wahl beibehalten wurde, bekamen die so bestimmten Zug- und Kompanie-Führer – in der Regel die Söhne des guts-besitzenden Land-Adels – alsbald reaktivierte und somit ausbildungs- und truppen-dienst erfahrene Unter- bzw. Subaltern-Offiziere zur Seite; Kommando-Stellen auf Stabs-Ebene wurden grundsätzlich mit reaktivierten Offizieren der Armee besetzt, die – bemerkenswert – sämtlich nicht besoldet wurden, jedoch eine Zulage und das Recht erhielten, die offizielle Armee-Uniform zu tragen.
Der Miliz wurden nach Art der Kosaken Uniformen knie-lange graue Kaftane, lange Hosen, Hemden mit schrägem Kragen, ein Schal, eine Schärpe, eine Mütze und gefettete Stiefel verordnet. Im Winter sollte unter dem Kaftan ein Mantel aus Schaf-Fell getragen werden; ebenfalls aus Fell eine Tschapka und Hand-Schuhe. Als Zierde eine Kokarde mit der Devise: "Für den Glauben und den Zaren".
Mit der geplanten "Volks-Bewaffnung" wurden insbesondere unter dem Moskauer und Petersburger Adel – Besitzer von ausgedehnten Gütern, die durch die Sklaven-Arbeit ihrer Leib-Eigenen zu enormen Reichtum gekommenen waren – Befürchtungen laut, dass es in wenigen Tagen zu Revolten und letztendlich zu provinz-weiten Aufständen der unzufriedenen Bauernschaft kommen würde. Allein in der rund 300.000 Einwohner zählenden Stadt Moskau schätzte man die Zahl der Höfe, deren Bewohner im Fall von Unruhen "bereit sind, ein Messer aufzunehmen" auf über 90.000 gewalt-bereite Aufrührer und potentielle Plünderer. "Jeder, der nur einen Leibeigenen hat, weiß, dass solche Leute mit ihren Herren sehr unzufrieden sind. Wenn die Regierung gezwungen ist, die Hauptstadt zu verlassen, bevor der Einfall der Barbaren erfolgt, wird der einheimische Pöbel, hier ohne jedes Vermögen und jede Verwandtschaft, aufgehetzt durch gewalttätige Geister, von denen es hier genug gibt, zusammen mit hergelaufenen Vagabunden, alles plündern, ruinieren, verwüsten...", warnten die Petersburger Kaufleute und Gutsherren.
Chef-Ideologe Schischkow, vehementer Gegner der Alphabetisierung und somit auch der Einführung von Schulen für die einfachen Untertanen (dafür eifriger Agitator für die Beibehaltung der Leib-Eigenschaft), konnte den Zaren beruhigen: Die einfache russische Seele (Guts-Besitzer bezeichneten ihre Leib-Eigenen als Seelen) ist tief religiös und gottes-fürchtig; die breite Masse würde ohne direkten Befehl und einhergehender Absolution der Kirche nichts unternehmen, was ihr Heil im Jenseits gefährden würde (eine ähnliche Erklärung hatte wohl auch Napoleon in einem Gespräch mit Madame Marie-Rose Aubert-Chalmet erhalten; die Besitzerin des größten Handels-Hauses für französische Mode- und Luxus-Artikel in Moskau hatte dem Kaiser bezüglich seiner Verwunderung über die nur zögerliche und schleppende Unterstützung der französischen Armee durch die litauischen und baltischen Bevölkerung erklärt, dass das russische Volk im Dasein in Leid und Qual erfahren und nur schwer zur Revolte zu bewegen sei, neue Ideen – das Ungewisse – mehr fürchten würde, als alles bislang Erfahrene).
Im "Allerhöchsten Manifest des Zaren" vom 18. Juli (Jul.K.; greg.: 30. Juli) »Über die Bildung einer temporären inländischen Miliz« gab Schischkow der um Ruhe und Ordnung und vor allem um ihren Besitz besorgten Ober-Schicht im Namen des Zaren das Versprechen, dass "nachdem der Feind aus unserem Land vertrieben ist, einjeder in Ehre und Herrlichkeit zu seinem ursprünglichen Zustand, in seinem Stand und zu seinen früheren Pflichten zurückkehren wird".
Trotz aller wiedergewonnener Zuversicht wurden die Schätze der Eremitage verpackt und insgeheim nach Petrosawodsk verschafft (ca. 340 km nord-östlich von Petersburg am Onega-See; im Jahr 1703 von Zar Peter I. als Eisen-Hütte und Kanonen-Gießerei gegründet). Die Juwelen der Zaren-Familie wurden heimlich nach Vytegra (ebenfalls am Onega-See) ausgelagert; auch das Geheime Staats-Archiv und die Gemälde-Sammlung wurde evakuiert.
Doch die Sorgen der Hochwohlgeborenen und Begüterten waren unbegründet: Nicht nur, dass die Depot-Verwaltungen die Bewaffnung der Milizionäre verzögerten, vielmehr gaben die städtischen Arsenale weder ausreichende Mengen noch qualitativ brauchbare Arten von Hieb- und Stich- geschweige den Feuer-Waffen her. So konnten an die Wehr-Männer des im Moskauer Bezirk gelegenen Rajons Moschaisk nur 5 Gewehre, 4 Pistolen, 34 Säbel und rund 1.600 Spieße verausgabt werden; die im Rajon Kolomna gestellte Miliz erhielt 9 Gewehre, 29 Säbel, 11 Beile und 485 Spieße; ähnliche Zahlen kamen aus den anderen Land-Kreisen. Größte Sicherheit vor den befürchteten Revolten und Plünderungen bot letztendlich die Weisung, dass sich sämtliche Einheiten der Land-Miliz unter weit-räumiger Umgehung der prachtvollen Haupt-Stadt in drei eiligst errichteten Ausbildungs-Lagern zu sammeln hatten.
Das Manifest vom 30. Juli hatte mit Moskau und St. Petersburg zwei Militär-Bezirke festgelegt, die vom Militär-Rat bereits als ausgemachtes bzw. mögliches Kriegs-Ziel des französischen Kaisers eingestuft worden waren. Die Wolga-Region weit im Hinterland als dritter Bezirk erhielt den Status eines Reserve-, Rückhalt- und Rückzugs-Raumes. Anfänglich umfassten die drei Bezirke insgesamt 16 Provinzen, wobei der Moskauer (I.) Miliz-Bezirk mit den Provinzen Moskau, Twer, Jaroslawl, Wladimir, Rjasan und Tula (im November 1812 auch Smolensk und Kaluga) das erste Aufgebot zu stellen hatte und zur Verteidigung der Haupt-Stadt bestimmt wurde; der Petersburger (II.) Bezirk mit den Provinzen St. Petersburg und Nowgorod für die Sicherung der Residenz-Stadt zuständig war. Jeder Gutsbesitzer wurde verpflichtet, jeden zehnten Leib-Eigenen im Alter von 17 bis 45 Jahren innerhalb einer festgesetzten Frist der Miliz zu unterstellen (wobei der freiwillige Eintritt von Leib-Eigenen als Verbrechen geahndet wurde). Schilderungen nach beschränkten sich Auswahl-Kriterien der Musterungs-Kommissionen einzig darauf, dass der Ausgeloste beide Augen und alle Finger hatte und nicht zu sehr lahmte. Gesunde Zähne, die für das Abbeißen von Papier-Patronen Voraussetzung waren, blieben unberücksichtigt; als Haupt-Bewaffnung für die Milizionäre waren Spieße und Beile vorgesehen. Und obwohl das Komitee die Dienst-Zeit der Leib-Eigenen offiziell auf die Dauer von drei Monaten begrenzt hatte, sahen interne Überlegungen bereits vor, die regional errichteten Miliz-Einheiten als Reserve den regulären Regimentern des jeweiligen Rajons anzuschließen bzw. für diese auch Ersatz zu stellen. Mit Aufnahme in die aktive Armee sollte dann auch die voll-wertige Bewaffnung erfolgen.
Selbst-verständlich, dass die Besitzer für beschädigte oder getötete, verstorbene oder vermisste Milizionäre Entschädigungen erhielten.
General Fedor Vasilyevich Rostopchin, Bürgermeister und Militär-Gouverneur von Moskau, hat bereits mit Eingang des kaiserlichen Manifests die Versammlung der in und um Moskau erfassten Wehr-Männer befohlen. Innerhalb von nur 24 Tagen lässt der General in Stadt und den umliegenden Rajons (Land-Kreise) rund 26.000 Mann einberufen, die nach einer 7-tägigen Ausbildung in den Kasernen bei Golowinski, Chamowniki und Sretenski (alles um und in Moskau) garnisoniert und bis zum 13. August in insgesamt zwölf Regimenter formiert werden. Rund 6.000 Mann dieser Milizen paradieren am 14. August nach einer feierlichen Inspektion vor der Spasski-Kaserne im Kreml zu einem vom orthodoxen Ober-Prokurator Augustinus abgehaltenen Gottes-Dienst, der das bei dieser Gelegenheit verliehene Banner weiht und die Truppen segnet. Anschließend marschieren die Truppen, von denen nur knapp ein Drittel Gewehre tragen, über den Roten Platz in Richtung Westen. Marsch-Ziel ist die zum Sammel-Punkt bestimmte Stadt Moschaisk an der Moskwa (etwa 110 km westlich von Moskau). Am 18. August biwakieren in Moschaisk, Ruza und Vereya (alles im Oblast Moskau), acht Infanterie- und drei Jäger-Regimenter mit einer Gesamt-Stärke von 24.709 Kriegern. Erste Milizionäre beziehen am 20. August auf den etwa 12 Kilometer weiter westlich gelegenen Höhen von Borodino Beobachtungs- und Vorposten; bis zum 26. August hat die gesamte Moskauer Miliz hier die ihnen zugewiesenen Bereitstellungs-Räume bezogen...
Mit der Einberufung der Miliz können die russischen Streit-Kräfte ohne größere Aufwendungen innerhalb kürzester Zeit mehr als verdoppelt werden. In den 16 Provinzen werden über 200.000 Mann mobilisiert; weitere 100.000 Mann werden aus Regionen entsandt, die nicht im Manifest des Zaren erwähnt sind (u.a. aus der Ukraine, vom Don und dem Gebiet der Nördlichen Dwina).
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Alexander I. Pawlowitsch Romanow, Zar von Russland. Chromo-Lithografie aus dem Verlags- und Druck-Haus von Ivan Dmitrievič Syti um 1912 in der Sammlung des »Staatlichen Historischen Museums Moskau« (RUS).
"Der schöne Platz in Moskau" (um 1800; bis Ende des 17. Jhds. waren die Mauern der Kreml-Festung weiß; der "Schöne Platz" ist somit eine Abschleifung von krasny zu krasnoi). Gemälde von Fjodor Jakowlewitsch Alexejew in der Sammlung der »Staatlichen Tretjakow-Galerie« (Moskau, RUS).
"Ополчение 1812 г." (Einberufung der Miliz 1812). Illustration von Georgi Dmitrijewitsch Alexejew in der Sammlung des »Staatlichen Historischen Museums Moskau« (RUS).
"Einsegnung der Miliz-Soldaten im Jahr 1812" Gemälde von Ivan Vasilyevich Luchaninov im »Museum Eremitage« (St. Petersburg, RUS; zweite Fassung im »Rybinsker Museumsreservat« [Rybinsk, RUS]).
Berittener Kosak der Moskauer Miliz.
Wehr-Mann und Offizier der Kaufmanns- und Bürger-Wehr der Moskauer Miliz.
Banner der Moskauer Miliz. Chromo-Lithographie(n) von P.Ferlund nach Zeichnungen von P.Gubarev, A.I.Vilborov u.a. aus Band XVIII der russischen Militär-Geschichte "Historische Beschreibung der Kleidung und Waffen russischer Truppen" von Alexander Wassiljewitsch Wiskowatow, herausgegeben von V.S. Balaschew und Co. (St. Petersburg 1899-1902). Online komplett verfügbar in der ► russischen Online-Bibliothek »Runivers« (Bildquelle: befreundeter Sammler)
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Allgemeine Lage.
Fr., 24. Juli, bis Di., 4. August: St. Petersburg. |
Bei Smolensk stehen die beiden russischen Armeen, die sich am 3. August zur West-Armee vereinigt haben, nicht nur vor dem Problem, dass es mit den Generälen Michael Andreas Barclay de Tolly und Pjotr Iwanowitsch Bagration zwei Ober-Kommandierende gibt, sondern auch vor der Frage, ob die vereinten Armeen über genügend Kräfte verfügen, um gegen die weit verstreuten Corps der "Grande Armée" in die Offensive gehen zu können oder in und um der Festungs-Stadt Smolensk eine vorteilhafte und starke Defensiv-Stellung beziehen und mit allen Mitteln versuchen sollten, die Dnjepr-Linie zu halten. Obwohl Bagration der dienst-ältere General ist, ordnet er sich freiwillig dem größeren Verband Barclay de Tollys unter, behält sich aber das Recht vor, unabhängig operieren zu können.
Die Entscheidung über die Benennung eines Feld-Marschalls wird dem Zaren überantwortet...
Mit dem am 23. Juni 1812 erfolgten Friedens-Schluss zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich hatte ein General wieder ruhmreiche und ehrenvolle Aufnahme am Hof des Zaren gefunden, der seit der verheerenden Niederlage bei Austerlitz am 2. Dezember 1805 die Gunst Alexanders verloren hatte, tief gefallen und entsprechend mühevoll wieder in die Stellung eines Heer-Führers aufgestiegen war: Der 66-jährige General Michail Illarionowitsch Golenischtschew Kutusow, Kommandeur der russischen Armee an der Donau (inzwischen unter Befehl von Admiral Pawel Wassiljewitsch Tschitschagow) und seit dem 20. Juli auf der Reise in Richtung Norden.
Im Jahr 1805 noch Ober-Befehlshaber des gesamten russischen Heeres, fand sich Kutusow 1806 als Militär-Gouverneur von Kiew wieder, wurde 1808 Korps-Kommandeur im Fürstentum Moldau und diente zwischen 1809 bis 1811 als Militär-Gouverneur von Litauen. Im Jahr 1811 wieder Korps-Kommandeur an der Moldau kämpfte er siegreich gegen die Türken und eroberte Moldau und die Walachei. Mit dem – vor allem für Napoleon – überraschenden Frieden von Bukarest wurde das gesamte Gebiet zwischen dem alten Grenz-Fluss Dnjestr und dem etwa 100 Kilometer weiter westlich gelegenen Fluss Prut russisch; ein Friedens-Schluss, der zwar ausschließlich dem Verhandlungs-Geschick des französischen Emigranten Alexandre Andrault de Langeron zu verdanken war; ein Frieden, der letztendlich jedoch von General Kutusow ratifiziert wurde und es möglich machte, dass mehr und mehr Verbände der bis dahin an den Grenzen zum Osmanischen Reich eingesetzten Süd-Armeen abgezogen -, an die südliche Flanke der "Grande Armée" verlegt werden konnten und hier das nur schwach gesicherte Hinterland der napoleonischen Vasallen bedrohen.
Der weitestgehend ungestörte Aufmarsch feindlicher Truppen an der Grenze des alt-russischen Reiches -, der stete Rückzug der russischen West-Armeen über 500 Kilometer -, vor allem aber die nur innerhalb eines Monats entstandene Bedrohungs-Lage für die Haupt- als auch der Residenz-Stadt und die allseits zunehmende Panik stellte die Mitglieder des Moskauer und des Petersburger Komitees zur Organisation der Miliz gleichsam vor die Entscheidung, einen geeigneten und möglichst kriegs-erfahrenen Oberbefehlshaber auszumachen. Am 28. Juli wählte das Moskauer Komitee den Eroberer Bessarabiens, General Michail Kutusow zum Kommandeur der Moskauer Miliz. Und ohne Kenntnis von der Moskauer Abstimmung entschied sich auch das Petersburger Komitee am 29. Juli für Kutusow, der erst fünf Tage zuvor in der Residenz-Stadt – seiner Heimat-Stadt – eingetroffen war.
Kutusow nahm die Berufung am 30. Juli an, wurde vom Kaiser bestätigt und von diesem am 31. Juli zum Kommandeur aller Truppen in St. Petersburg, Kronstadt und Finnland samt aller dort befindlichen Marine-Truppen ernannt. Auch der Zar, der für den unkultivierten und den Schilderungen nach oft launischen und prahlerischen, dafür aber im Volk und vor allem unter den einfachen Soldaten sehr beliebten General nur "wenig" Symphatie hatte, schließt seinen Frieden: Mit Allerhöchstem Dekret vom 29. Juli (greg. 10. August) wird Kutusow zusammen mit seinen Nachkommen in den Fürsten-Stand erhoben.
Kutusow regelt die Aufstellung der Petersburger Miliz nach seiner Art; unkompliziert und zielgerichtet: Erfahrene Offiziere und Unteroffiziere der regulären Armee werden mit dem Befehl aus ihren Einheiten abkommandiert, Ausbildungs-Etappen einzurichten, die sich einzig auf einen Ausbildungs-Inhalt konzentrieren. Die Milizionäre durchlaufen somit nur die nötigsten Abschnitte, in denen ihnen lediglich die Grundlagen der militärischen Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt werden: Exerzier-Übungen für Bewegungen auf dem Marsch und im Gelände, Waffen-Handhabung und Präsentation zum Appell und im Bedienung und Gebrauch im Gefecht, Hieb- und Stich-Techniken, Wach- und Streifen-Dienst, Leben im Felde und im Biwak. Mitte August zählt die Petersburger Miliz bereits über 15.000 Mann.
Zwischen-zeitlich haben die Unstimmigkeiten in der Kommando-Hoheit innerhalb der beiden vereinigten West-Armeen den in Petersburg ansässigen Obersten Militär-Rat erreicht. Der fortwährende Rückzug -, die wachsende Demoralisierung der Truppe -, vor allem aber die kampflose Überlassung ausgedehnter Gebiete westlich der alten Grenze, waren am Hof mit wachsendem Unverständnis kommentiert worden; die Minister und der Behörden-Staat – durch die seit Zar Peter I. selbst-geschaffene und gepflegte Atmosphäre andauernder Intrigen und Ränke nahezu gelähmt – sind sich zumindest im zusammengebrauten Unmut einig: Schon vor dem Krieg waren die Rivalitäten und Eifersüchteleien zwischen dem Kommandeur der 1ten West-Armee, General Michael Andreas Barclay de Tolly (einem Deutsch-Balten schottischer Abstammung), und dem Befehlshaber der 2ten Armee, General Pjotr Iwanowitsch Bagration (immerhin Georgier), bekannt, waren jedoch vom Zaren als Ober-Befehlshaber ignoriert worden. Vermutungen wurden laut, dass der im polnisch-litauischen Pomautsch (heute Pamūšis, LIT) geborene Barclay im Dienst Napoleons stehen würde, hatte er doch die einzig-artige Möglichkeit, die einzeln aufmarschierenden Corps der "Grande Armée" bei Witebsk zu vernichten, nicht genutzt. Folge-richtig, dass sich unter den Petersburger Ministerial-Beamten sowie den Stabs-Offizieren und Generälen im Kriegs-Ministeriums die Überzeugung durchgesetzt hat, dass die gegen Napoleon operierenden Armeen und Kosaken-Verbände, die mobilisierten Milizen als auch die Partisanen-Abteilungen strategisch als auch operativ-taktisch nur von einem gemeinsamen Ober-Kommando geführt werden können. Die Führung dieses Ober-Kommandos macht die Ernennung eines entsprechenden obersten Befehlshabers unumgänglich. Und selbstverständlich, dass der Ober-Kommandierende der russischen Armee nur ein Russe sein kann und orthodoxen Glaubens sein muss.
Zur Wahl des zukünften Feld-Marschalls der russischen Armeen beruft der Zar am 15. August ein Sonder-Komitee ein, das sich bereits einen Tag später einstimmig auf den Russen Kutusow geeignet hat.
Am 20. August wird Kutusow zum Generalissimus und Oberbefehlshaber aller russischen Armeen und Milizen ernannt.
Mit der Ernennung Kutusows löst sich die angespannte Stimmung unter den Bürgern der Residenz. Von national-patriotischer Leidenschaft erfüllt, melden sich Hafen-Arbeiter und Handwerker, Händler, Beamte und Studenten zu Tausenden bei der Miliz. Väter und Söhne gehen gemeinsam zu den Freiwilligen Jägern; die Frauen geben ihren Schmuck zugunsten der Armee; Kirchen, Gilden und Verbände sammeln Spenden-Gelder in Millionen-Höhe.
Napoleon muss sich einen weiteren Irrtum eingestehen: Die von ihm erwartete Erhebung des verarmten russischen Volkes – vor allem der Leib-Eigenen, die mit 23 Millionen Menschen knapp die Hälfte der Bevölkerung Russlands bilden – bleibt aus; der Krieg wird zum Volks-Krieg...
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General Michail Illarionowitsch Golenischtschew Kutusow (1745-1813) Gemälde von Roman Maximowitsch Wolkow in der Sammlung des »Staatlichen Militärhistorischen Panorama-Museums Borodino« (bei Moskau, RUS).
"St. Petersburg: Blick auf den Winterpalast von der Wassiljewski-Insel" (um 1796). Gemälde von Johann Georg de Mayr in der Sammlung der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
"Michail Illarionowitsch Kutusow - Führer der Petersburger Miliz." Gemälde von Sergej Wassiljewitsch Gerassimow in der Sammlung des »Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation« (Moskau, RUS).
Offizier der Zemstvo-Miliz im Jahr 1812. Colorierte Lithografie von Karl Karlowitsch (Carl von Hampeln) aus dem Album "Russische Typen" in der Sammlung des »Staatlichen Historischen Museums Moskau« (RUS).
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Der Vormarsch. |
Sa., 1. August, bis Fr., 14. August: Vormarsch des Süd-Flügels |
Hatte Marschall Louis-Nicolas Davout, seit der Absetzung von Jérôme Bonaparte Ober-Befehlshaber der Corps des rechten (südlichen)
Flügels, noch am 23. Juli das Ziel gehabt, mit seinen eiligst zusammen-gezogenen 26.000 Mann der weit überlegenen 2ten West-Armee
unter General Peter Iwanowitsch Bagration bei Mogilew [Mahiljou, BLR]) die Passage über den Dnjepr und damit den direkten Weg
nach Witebsk zu verlegen, so musste er nach den heftigen Gefechten bei Saltanovka und mit der überraschenden Sichtung des von
Kavallerie-General Matwei Iwanowitsch Platow kommandierten "Fliegende Kosaken-Korps" auf dem östlichen Ufer des Dnjepr
von der Gefahr ausgehen, bereits aus drei Richtungen von russischen Verbänden umfasst worden zu sein. Bis zum Eintreffen von
Verstärkungen blieb Davout nur die Option, sich in Mogilew zu verschanzen. Über die Hälfte seines I. Corps war entlang der Route
Minsk-Mogilew mit Sicherungen betraut; die Spitze des V. (polnischen) Corps unter Fürst Józef Antoni Poniatowski war zwei bis
drei Tages-Märsche entfernt; das VIII. (westphälische) Corps unter General Dominique Joseph Vandamme näherte sich von Minsk
kommend der alten Grenz-Stadt Orsha (heute Orscha, BLR), die zwar nur einen Tages-Marsch entfernt und bereits seit dem 18. Juli
vom 2ten und 3ten Regiment "Chevau-Légers Lanciers de la Garde Impériale" unter General Édouard de Colbert-Chabanais
und einigen Einheiten der Avant-Garde des III. Reserve-Kavallerie-Corps unter General Emmanuel de Grouchy besetzt war, doch
würden sich die Kräfte teilen müssen und auf dem Marsch Gefahr laufen, aufgerieben zu werden, womit letztendlich nicht nur die
Truppe sondern auch Stadt und Fluss-Übergang verloren wären.
Unbemerkt und somit ungestört von den Franzosen hatte General Bagration am 26. Juli mit dem 8ten (russischen) Infanterie-, dem
4ten Kavallerie-Korps und dem gesamten Konvoi der 2ten Armee den Dnjepr bei Nowyi-Bychow (heute Novyi Bykhov, BLR) über eine
provisorisch errichtete Brücke passiert, die General Nikolai Nikolajewitsch Rajewski, Kommandeur des 7ten Infanterie-Korps, nach
seinem Übergang am 27. Juli wieder nieder-reißen ließ. Dem Lauf des Flusses Sosch über Propoisk, Czerykau, Kryczew und Mscislaw
folgend (heute Slauharad, Tscherykau, Krytschau und Mszislau, alles BLR), gingen die beiden Korps zwischen dem 29. und 30. Juli
über die Wichra (auch Vikhra). Am selben Tag waren Platows Kosaken bei Lubawicze (heute Ljubawitschi, RUS; ca. 70 km westlich
von Smolensk) bereits auf die Vedetten der Leibgarde-Kosaken aus der leichten Kavallerie-Brigade des Generals Orlow-Denissow
getroffen. Die 2te Armee stand am 2. August vor den gigantischen Mauern des "Smolensker Kremls", einer imposanten
Festung am südlichen Ufer des Dnjepr, die in ihren Ausmaßen (damals) die Moskauer Kreml-Anlage übertraf.
Am 3. August vereinigten sich beide russischen Armeen.

"Prozession vor den Mauern von Smolensk" (Zum 1.150 Jahrestag von Smolensk) Gemälde von Alexei Ivanowitsch Fedorow Sammlung des »Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation« (Moskau, RUS).
Am 28. Juli erreichten die ersten Einheiten des V. (polnischen) Corps Mogilew. Am 29. Juli – nach der Ankunft weiterer
Verstärkungen – erteilte Marschall Davout den Befehl zum Aufbruch nach Orsha, das auch den nachfolgenden polnischen und
westphälischen Einheiten zum Marsch-Ziel bestimmt wurde. Während Davout am westlichen Ufer der Dnjepr in Richtung Norden zog,
ging Poniatowski mit der Avant-Garde seines Corps zwischen dem 29. und 30. Juli bei Mogilew über den Fluss und marschierte am
östlichen Fluss-Ufer in Richtung Orsha. Ende Juli hatten Davout, General Vandamme und Fürst Poniatowski die Spitzen ihrer
Verbände vereinigt und in und um Orsha und entlang des westlichen Ufers des Dnjepr Marsch-Lager bezogen.
In Litauen zurück bleiben General Jan Henryk Dąbrowski (auch Jean Henri oder Johann Heinrich Dombrowski), der die Aufgabe
bekommt, mit den 12.000 Mann seiner 17ten (polnischen) Infanterie-Division die von den Russen noch gehaltene Festung Bobruisk an
der Beresina (heute Babrujsk, BLR) abzuriegeln, die Depots von Minsk zu sichern und zusammen mit dem IV. Reserve-Kavallerie-Corps
von Latour-Maubourg die rück-wärtigen Verbindungen nach Wilna offenzuhalten. Zur Verstärkung wird diesem Verband noch eine
Division des V. (polnischen) Corps zugeteilt. Beide Verbände marschieren am 5. August nach Rogatschef (Rahatschou, BLR) zurück.
Am 5. August erhält Davout den Befehl, seine Verbände zu sammeln und sich bereitzuhalten, die Haupt-Armee in einer von Napoleon
zwischen Witebsk und Smolensk erwarteten Schlacht zu unterstützen. Am 8. August meldet er dem Kaiser den Stand-Ort seines
Haupt-Quartiers bei Dubrowna (Dubrouna, BLR) am Ufer des Dnjepr und die Bereitschaft, mit seinem Corps über den Fluss gehen zu
können. Über die am gegenüber-liegenden Ufer verlaufenden Land-Straßen können seine Truppen gleichsam direkt auf Smolensk oder
in die Nähe von Witebsk vorstoßen. Auf Napoleons Frage, welches Ufer des Dnjepr besser sei, um nach Smolensk zu gelangen,
antwortete Davout, dass er das linke bevorzugen würde. General Jean Baptiste Eblé, Kommandeur des "Corps des Pontonniers
du Génie", erhielt Order, am Ufer des Dnjepr zwischen Dubrowna über Rasasna nach Ljonitza (Rossasno bzw. Lonnitsa, BLR)
geeignete Übergänge auszumachen; Davout bekam die Weisung, seine Verbände über diesen Bereich zu verteilen.
Bis zum 13. August haben auch die anderen Corps des Süd-Flügels operativ vorteilhafte Aufmarsch-Räume bezogen: Die Verbände des
V. (polnischen Corps), die vom Kaiser Befehl bekommen hatten, von Mogilew in Richtung Krasnoi (Krasny, RUS) vorzugehen, liegen
in Erwartung neuer Befehle zwischen Horki und Romanowo (Gorki bzw. Lenino, BLR). Bei Rasasna hat General Emmanuel de Grouchy
das III. Kavallerie-Corps versammelt. General Louis Pierre Aimé Chastel, Kommandeur der 3ten (leichten) Kavallerie-Division,
erhält den Befehl, mit den Husaren, Jägern zu Pferd und Chevau-Légers seiner drei Brigaden das Dnjepr-Ufer zu sichern,
Posten-Ketten zu bilden und Verbindungen zur Haupt-Armee herzustellen. General Étienne-Maurice Gérard besetzt mit der 2ten
(11ten leichten) Kavallerie-Brigade Karpilovka (heute Kalinovka, Woblast Wizebsk, BLR) und stellt die Verbindung zu General
Étienne Marie Antoine Champion de Nansouty her, der mit dem I. Kavallerie-Corps und Haupt-Quartier bei Ljady (am Ufer der
Mereya; gut 20 km östlich von Rasasna) steht, den östlichsten Vor-Posten der "Grande Armée" stellt und die Straße
über Krasnoi nach Smolensk abriegelt. General Jean-Baptiste Dommanget zieht mit der 3ten (17ten leichten) Brigade am Dnejepr
entlang bis Khomino (heute Wüstung nahe Mikheevka, BLR). Am gegenüber-liegenden Ufer, in der Nähe des Dörfchens Gerasimenki
(RUS), treffen am selben Tag die Pontoniere und Pioniere des III. Corps (Ney) ein und beginnen mit dem Bau einer etwa 150 Meter
langen Bock-Brücke, die gegen 21:00 Uhr fertig-gestellt ist. Noch in der Nacht vom 13. zum 14. August lässt General Eblé bei
Rasasna drei Ponton-Brücken über den Dnjepr errichten, die nach Mitternacht fertig-gestellt sind. Hier geht die 1te (10te
leichte) Kavallerie-Brigade unter General Pierre Edmé Gautherin über den Fluss, sichert mit Haupt-Quartier bei Buda (ca. 10 km
nördlich von Dubrowna) das gegenüber-liegende Ufer und stellt die Verbindung zum III. Corps des Marschalls Michel Ney bei Liozna
(Ljosna, BLR) her. Zwischen Babinowicze und Lubawicze (Babinovichi, BLR; bzw. Ljubawitschi, RUS; ca. 25 km südlich von Liozna)
sind inzwischen auch die 1te, 2te und 3te Infanterie-Division des I. Corps angekommen, die der Kaiser am 28. Juni zur
Verstärkung des linken Flügels Murat unterstellt hatte und die nun wieder zu Davout zurück-kehren.

"Übergang über den Dniepr bei Komino." Aquarell von Christian von Martens nach Faber. Bildquelle: Nachlass der Familie von Martens in der Sammlung des »Landesarchivs Baden-Württemberg« (Stuttgart, GER).
Im Morgen-Grauen des 14. August werden Gautherins Jäger von den vier Dragoner-Regimentern der 6ten (schweren) Kavallerie-Division
unter General Armand Lebrun de La Houssaye verstärkt. Die "Grande Armée" hat damit eine halbkreis-förmige Front von
etwa 150 Kilometer formiert und steht bereit zur Schlacht um Smolensk.

"Kavallerie-Patrouille" (Garde-Husar und -Kosak) Gemälde von Alexander Chagadaev; Aufenthalt unbekannt. Bildquelle: ► »arthiv« (russisches Online-Projekt - Künstler und Thema, Galerien und Museen).
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Sa., 1. August, bis Mo., 31. August: Vormarsch der Haupt-Armee - Smolensk-Manöver und Schlacht um Smolensk
Smolensk (rund 375 km westlich von Moskau) |
Die Bewegungen der französischen Truppen am Ufer der Dnjepr in der Nacht vom 13. zum 14. August bleiben den russischen
Vor-Posten nicht verborgen. Am frühen Morgen machen Kosaken-Patrouillen die drei über Nacht bei Rasasna (Rossasno, BLR)
montierten Ponton-Brücken und den etwa 15 Kilometer weiter östlich in Bock-Bauweise errichteten Übergang vom Dörfchen
Gerasimenki (RUS) hinüber nach Khomino (heute Wüstung nahe Mikheevka, BLR) aus. Die Meldung, dass unzählige Divisionen der
Invasions-Armee aus Richtung Witebsk heran-marschieren – erste Einheiten bereits in südliche Richtung über den Dnjepr gehen –,
wird von den russischen Offizieren in Krasnoi (auch Krasnoe, heute Krasny, RUS; 45 km süd-westlich von Smolensk; rund 25 km
östlich von Khomino) mit derartigem Unglauben und Unverständnis registriert, dass General Jewgeni Iwanowitsch Olenin,
Standort-Kommandant an der südlichsten Flanke der russischen Armeen, umgehend die beiden ihm zur Seite stehenden Kosaken-Pulks
zur Aufklärung der Feind-Bewegungen aussendet.
General Olenin ist Kommandeur des aus vier Reservisten-Bataillonen bestehenden Smolensker Reserve-Korps. Der pensionierte
General, der selbst erst im Juli wieder in den aktiven Dienst zurückgekehrt war, hat Anfang August den Befehl erhalten, am
äußersten Rand des linken Flügels der vereinten russischen Armeen einen exponierten Beobachtungs-Postens zu beziehen, der
Smolensk im Fall eines überraschenden Flanken-Angriffs der Franzosen recht-zeitig warnen soll. Zur Unterstützung des Korps hat
General Bagration drei der sechs Regimenter der erst im Mai bei Moskau formierten 27ten Infanterie-Division (11., 1tes, 6tes und
11tes Jäger-Regiment), zwei Kosaken-Regimenter und die Don-Artillerie-Kompanie Nr. 1 abkommandiert. Mit der gegen Mittag
eingehenden Bestätigung des Anmarsches übernimmt der Kommandeur des Detachements, General Dmitri Petrowitsch Neverovsky, die
Initiative: Er alarmiert den russischen General-Stab in Smolensk, erklärt, die anrückenden Kolonnen der "Grande Armée"
mit seinen rund 6.000 Soldaten solange aufzuhalten, wie es möglich ist, und lässt Krasnoi zur Verteidigung vorbereiten.

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General Jewgeni Iwanowitsch Olenin (1774-1827) und General Dmitri Petrowitsch Neverovsky (1771-1813) Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
Die Meldung, dass die Corps der "Grande Armée" über Nacht ihre Lager um Witebsk abgebrochen haben, unbemerkt über den
Dnjepr gehen und sich erste Verbände bereits aus süd-östlicher Richtung Smolensk nähern, wird anfänglich auch von Barclay de
Tolly und Bagration angezweifelt. Spekulationen kommen auf, dass der "Usurpator Europas" aufgrund der Schwierigkeiten
bei der Versorgung seiner Armee -, den damit einher-gehenden Auflösungs-Erscheinungen -, auch in Anbetracht der flimmernden Hitze
(seit Ende Juli herrschen Temperaturen um die 30 Grad) und des nicht fassbaren Gegners den Abbruch des Feld-Zuges befohlen hat.
Doch ein Rückzug ohne nennenswerte Siege käme einer Niederlage gleich, und bald erkennen die russischen Generäle die Gefahr:
Nicht nur, dass Napoleon mit dem Marsch über den Dnjepr die erst vor vier Tagen nördlich von Smolensk begonnene Offensive der
russischen Armeen noch vor Beginn der eigentlichen Kampf-Handlungen zum Scheitern gebracht hätte; vielmehr steht die russische
Armee vor der Gefahr, von ihrem Rückzugs-Weg nach Moskau und den Verbindungen zu den Armee-Depots süd-östlich von Moskau
abgeschnitten zu werden...
Vor allem aber ist es den russischen Armeen in dieser Position nicht möglich, einen Angriff auf Moskau zu verhindern.
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Witebsk (125 km westlich von Smolensk)
Seit Beginn des Aufmarsches der "Grande Armée" in und um Witebsk war das Haupt-Quartier der russischen Feld-Armee, das
seit dem 2. August in Smolensk stand, bestrebt, Truppen-Konzentrationen und Stand-Orte des Gegners auszumachen und ankommende
Einheiten zu identifizieren, Schwach-Stellen aufzuspüren und recht-zeitig Anzeichen für den Beginn eines Angriffs und dessen
Stoß-Richtung zu erkennen. Gleichso angespannt biwakierten die Verbände und Einheiten der drei vom Kaiser Anfang August zwischen
Düna und Dnjepr versammelten Corps. Napoleon, mit seinen Garden in Witebsk, bekam in seinem Haupt-Quartier in einem Palast am
linken Ufer der Düna beinahe stündlich Meldungen seiner Vor-Posten auf dem Tisch, die irgendwo mit den scheinbar überall
gegenwärtigen Kosaken aneinander-geraten waren. Alles deutete darauf hin, dass sich Barclay de Tolly an der Grenze zum
alt-russischen Reich zur Entscheidungs-Schlacht stellen wollte. Die Vereinigung der beiden russischen Armeen war nicht mehr zu
verhindern, und Napoleon studierte die Karten der Umgebung und die Pläne der Festungs-Anlagen.
Um die Gefahr zu minimieren, von den russischen Verbänden an den Flanken umgangen zu werden, hatten seine Flügel-Corps am
1. August die Order bekommen, Avant-Garden, Vedetten und vorgeschobene Beobachter soweit an den Ufern von Düna und Dnjepr zu
postieren, dass es den Aufklärern noch möglich war, die Haupt-Armee innerhalb eines halben Tages-Ritts (ca. 120 Kilometer)
alarmieren zu können. Marschall Michael Ney, der mit seinem III. Corps bei Lioszna (heute Ljosna, BLR; gut 40 km süd-östlich von
Witebsk) den rechten Flügel der Haupt-Armee stellte, hatte die 1te, 2te und 3te Infanterie-Division des I. Corps (die der
Kaiser am 28. Juni zur Verstärkung des linken Flügels Murat unterstellt hatte) nach Babinowicze (Babinovichi, BLR; ca. 25 km
südlich von Liozna) verlegt; Einheiten seiner leichten Kavallerie-Division waren von Dubrowna (Dubrouna, BLR) über Tuchino
(Novaya Tukhin, BLR) entlang der Dnjepr-Ufer im Patrouillen-Dienst; die Éclaireurs (Aufklärer) dürften am 2. August die Ankunft
der 2ten (russischen) Armee vor Smolensk – einigen Schilderungen nach mit Marsch-Musik und Gesang – nach Witebsk gemeldet haben
und machten am Tag darauf bei Krasnoi (Krasny, RUS) einen größeren Vor-Posten der russischen Armee aus. Am selben Tag hatte ein
Detachement des 1sten Husaren-Regiments unter Colonel Eugène Antoine François Merlin den äußersten Posten der rechten Flanke bei
Tielowa (Tilevichi, BLR; ca. 100 km süd-östlich von Witebsk) bezogen. Vize-König Eugène mit Haupt-Quartier bei Surazh (Suraz,
BLR; gut 40 km nord-östlich von Witebsk), der mit seinem IV. (italienischen) Corps den linken Flügel der Haupt-Armee bildete,
hatte bereits am 30. Juli General Joseph Martin Madeleine Ferrière mit der 13ten leichten Kavallerie-Brigade nach Welitschewo
(auch Weliji, heute Welisch, RUS; gut 25 km nord-östlich von Surazh) entsandt. Dort angekommen gelang es den italienischen Jägern
zu Pferd, eine Abteilung von 400 Rekruten zu überraschen, die Armee-Depots zu übernehmen und die dort ausgehende Post-Straße
nach Smolensk zu besetzen. Über die hier gelegene Düna-Brücke drang General Jean-Joseph Triaire mit dem Dragoner-Regiment der
Königin der königlich-italienischen Garde am 31. Juli bis nach Ouswiath (auch Uswiata oder Uswjaty, BLR) vor, nahm auf dem Weg
einer russischen Eskorte von 40 Mann über zweihundert mit Mehl beladene Pferde-Wagen ab und bezog am Ziel-Ort den nördlichsten
Beobachtungs-Posten der Haupt-Armee. Von Ouswiath aus sicherten die Dragoner die dort verlaufende Route hinauf zur großen
Heer-Straße von Moskau nach Riga. Eine von Welitschewo weiter in Richtung Osten kommandierte Abteilung konnte auf der Straße nach
Twer eine Kolonne mit rund einhundert Fuhr-Werken einholen und aufbringen, die die in den Magazinen von Welitschewo eingelagerten
Munitions-Vorräte zu retten versucht hatte. Über die von Welitschewo süd-östlich nach Smolensk führende Route erreichte ein
drittes Detachement Jäger am 3. August Borada und stellten die Verbindung mit den Husaren des Königlich preussischen kombinierten
Regiments Nr. 2 in Poretschje (Poriecze oder auch Porech'e, RUS) her, das inzwischen Haupt-Quartier von General Nansouty und dem
I. Kavallerie-Corps war. Marschall Joachim Murat, Kommandeur der Kavallerie, stand mit Haupt-Quartier im Dörfchen Rudnya (auch
Rudnja, RUS; etwa auf halber Strecke zwischen Witebsk und Smolensk) vor dem Zentrum der Haupt-Armee. Täglich bestreiften größere
Kavallerie-Patrouillien den Raum zwischen Poretschje im Norden bis hinunter nach Lubawicze (Ljubawitschi, RUS) im Süden.
Am Vormitag des 4. August war Murats Avant-Garde in der Nähe des Dorfes Molevoy (Molevo, RUS; ca. 15 km östlich von Rudnya) auf
das von Kavallerie-General Matwei Iwanowitsch Platow kommandierte "Fliegende Kosaken-Korps" getroffen und hatte sich
nach kurzen jedoch äußerst erbittert geführten Gefechten mit erheblichen Verlusten wieder nach Rudnya zurück-ziehen müssen. Für
den Kaiser war das Erscheinen von Platows Kosaken, die seit Beginn der Invasion und abgetrennt von der 1ten Armee mehr oder
weniger die Nachhut der 2ten Armee gestellt hatten, Beleg genug, dass beide Armen von nun an gemeinsam gegen ihn operieren
würden. Da jedoch sämtliche der vorgeschobenen Avant-Garden keine Bewegungen der russischen Armeen ausmachen konnten und auch
gefangene Kosaken und zwischen den Linien aufgegriffene Deserteure einhellig berichteten, dass die vereinigten russischen
Streit-Kräfte Smolensk zur Verteidigung vorbereiteten, widmete sich der Kaiser wieder seinen Plänen zum direkten Angriff auf
Smolensk, nach denen die drei Corps der Haupt-Armee (die Garde in der Reserve) die Stadt von nördlicher Richtung -, Marschall
Davout mit den drei Corps des Süd-Flügels die Festung von Süd-Westen kommend umgehen sollten. Zum Treff-Punkt beider
Groß-Verbände bestimmte der Kaiser Vallutina zwischen Dnjepr und Kolodnja (Valutino, RUS), womit die russischen Armeen umfasst,
eingeschlossen und vom Weg nach Dorogobusch abgeschnitten wären; der Weg nach Moskau wäre frei.
Im Morgen-Grauen gingen seine Marsch-Befehle an Davouts Haupt-Quartier nach Orsha ab.
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Das "Smolensk-Manöver"
Am Abend des 4. August biwakierten die beiden russischen Armeen – nur noch vom Lauf des Dnjepr voneinander getrennt – westlich
von Smolensk: Die 1te Armee mit Blick auf die Straße nach Witebsk, die rechte Flanke an der Route von Poretschje, die Vorhut
unter General Peter Petrowitsch von der Pahlen in Kholm (Wüstung Belyi Kholm, RUS), Die 2te Armee stand an der Straße nach
Dubrowna (Dubrouna, BLR), die Vorhut bei Krasnoi, die linke Flanke an der Straße nach Mscislaw (Mszislau, BLR). Nach der Abgabe
des "Fliegenden Kosaken-Korps" von General Matwei Iwanowitsch Platow und der 3ten Kavallerie-Brigade unter General
Ivan Semyonovich Dorokhov und unter Einberechnung der Marsch- und Kampf-Verluste (fast sämtliche polnisch-litauischen Soldaten
waren in den Wäldern am Dnjepr desertiert) verfügte die 2te Armee noch über rund 30.000 Mann; die 1te Armee zählte ohne das 1te
Korps bei Polozk (Polazk, BLR) -, ohne die Smolensker Garnisons-Truppen von etwa 8.000 Mann -, ohne Kosaken und zwischen-zeitlich
formierte Reserve- und Miliz-Einheiten etwa 75.000 Mann; nach Platows und Dorokhovs Rückkehr knapp 90.000 Mann (der russische
Militär-Historiker und Adjudant des Zaren Dmitri Petrowitsch Buturlin [1790–1849] gibt die Stärke der 1ten Armee mit 77.712 -,
die 2te mit 43.407 Mann an; zusammen 121.119 Soldaten und Offiziere).
Im Haupt-Quartier beider Armeen, das im Haus des Gouverneurs von Smolensk im Smolensker Vorort Petersburg eingerichtet worden
war, hatten Barclay de Tolly und Bagration das weitere Vorgehen miteinander abgestimmt. Mit Blick auf das gemeinsame strategische
Ziel, die Haupt-Armee Napoleons zu stoppen und bestenfalls zu zerschlagen – tatsächlich mehr dem Druck des Obersten Militär-Rates
in St. Petersburg als durchdachten operativ-taktischen Erwägungen folgend – hatten sich die beiden Generäle darauf geeinigt, die
momentane Überlegenheit der russischen Armeen zu nutzen und noch vor Ankunft der von Davout geführten Verbände in die Offensive
zu gehen. Das Ober-Kommando über die Armeen und damit auch das Ober-Kommando in den bevor-stehenden Angriffs-Operationen übernahm
Barclay de Tolly; der gleich-rangige und dienst-ältere Bagration, der unter Hinweis auf den Fakt, dass im Hinter-Land noch keine
größeren Reserven gebildet worden waren bzw. auch nicht bewaffnet werden könnten und deshalb für eine Defensiv-Strategie
plädierte, gab sich mit der Stellvertretung zufrieden. Sollte Tollys Vorgehen scheitern, würde die 2te Armee in zweiter Linie
den Rückzug auf Smolensk decken, und Bagration würde das Ober-Kommando in der Verteidigung übernehmen.
Am frühen Morgen des 6. August begann die 2te russische Armee bei Katyn plan-gemäß mit dem Übergang über den Dnjepr und
marschierte in Richtung Nadwa (Nadva, RUS; ca. 20 km westlich von Smolensk). In Krasnoi, auf dem rechten Ufer des Dnjepr,
verbleiben die von General Olenin kommandierten Reservisten-Bataillone, die Bagration noch um drei reguläre Regimenter der
27ten Infanterie-Division unter General Dmitri Petrowitsch Neverovsky verstärkte. Zur gleichen Zeit erhielten die Verbände der
1ten Armee vor Smolensk den Befehl, kolonnen-weise beidseits der Straße nach Witepsk anzutreten. Unter Führung der von General
Pahlen kommandierten Vorhut begann am Vormittag der Abmarsch in Richtung Rudnya (auf halben Weg zwischen Smolensk und Witebsk),
dem Stand-Ort der von Murat geführten Avantgarde-Kavallerie. Rund 60 Kilometer hinter Murat lag das ausgedehnte Zentrum der
gegnerischen Haupt-Armee mit ihren weit gestreckten Flügeln. Strategisches Ziel war es, das Zentrum von Napoleons Armee zu
durch-brechen (zumindest den rechten Flügel abzutrennen) und die Teile anschließend von den Flanken aufzurollen. Über die
Gründe, die dann dazu geführt haben, dass der von Barclay de Tolly konzipierte "Überraschungs-Angriff" von Beginn an
ohne jeden Schwung -, schleppend, unentschlossen und geradezu zaghaft voran-getragen wurde, kann nur spekuliert werden...
Am frühen Vormittag des 8. August erreichte Napoleon die Meldung, dass es nahe Rudnya, inzwischen Haupt-Quartier des von General
Louis-Pierre Montbrun geführten II. Kavallerie-Corps (Montbrun), zu den ersten blutigen Gefechten mit der von Reiter-General
Wassili Wassiljewitsch Orlow-Denissow kommandierten Vorhut der russischen Armee gekommen ist: Gegen 4:00 Uhr morgens hatten die
Kosaken des Leibgarde-Regiments bei Inkovo (In'kovo, RUS) einen vorgeschobenen Beobachtungs-Posten ausgemacht, der von der 8ten
(leichten) Kavallerie-Brigade unter General André Burthe gestellt wurde. General Orlow-Denissow gelang es, die Husaren des 5ten
und 9ten (französischen) Regiments im Dreieck zwischen Inkovo, dem 4 Kilometer südlich gelegenen Dörfchen Molevoy und dem vier
Kilometer westlich gelegenen Flecken Leszno (Leshno, RUS) an der Kleinen Beresina in ihrem Biwak zu überraschen und mit einer
scharfen Attacke in die Flanke zur Flucht in Richtung Rudnya zu zwingen. Hier trafen die Kosaken auf die Masse der inzwischen
vom Gefechts-Lärm alarmierten 2ten (leichten) Kavallerie-Division unter Kommando von General Horace-François Sébastiani, der
sofort den Gegen-Angriff einleitete. Hinter Molevo, nach der Passage eines schmalen Pfades, der beid-seits durch das von Udra,
Lelekva und Natka gebildete Sumpf-Gebiet flankiert wurde, gerieten die Franzosen plötzlich unter heftiges Kartätsch-Feuer von
zwölf leichten Feld-Geschützen, die in der Nähe des Dorfes Zarubenki (Zarubinki, RUS) versteckte Stellungen bezogen hatten. Und
noch bevor Sébastiani seiner Kavallerie den Befehl zum Abschwenken geben konnte, tauchten an beiden Flanken jeweils rund 6.000
Reiter auf, die die leichte Kavallerie-Division in ein verheerendes Kreuz-Feuer nahmen.
Wieder war es den Kosaken-Regimentern und der Don-Artillerie-Kompanie Nr. 2 des von Atamans Matwei Iwanowitsch Platow
geführten "Fliegenden Kosaken-Korps" – diesmal im Zusammen-Wirken mit den drei Husaren-Regimentern Izyum, Sumy und
Mariupol der 3ten Kavallerie-Korps des Generals Peter Petrowitsch von der Pahlen und Denissows Kavallerie – gelungen, den Gegner
mit dem sog. "Venter"-Manöver eine verlust-reiche Niederlage zuzufügen. Berichte beider Seiten stellen hier das
preussische (konsolidierte) Ulanen-Regiment heraus, dessen wiederholte Gegen-Angriffe die vollständige Vernichtung der Division
Sébastiani abgewendet haben (einer Anekdote nach wurde Regiments-Kommandeur Major von Werder vom Kommandeur eines russischen
Husaren-Regiments zum Zwei-Kampf heraus-gefordert).

Angriff des 1ten Baschkirischen Kosaken-Regiments auf die Vor-Posten der 5ten (französischen) Husaren im Fall von Molevoy Bolot (Molevo).

Reiter-Gefecht zwischen Ulanen des preussischen (konsolidierten) Ulanen-Regiments (2tes Schlesisches) und Husaren des Izyumer Regiments bei Molevoy Bolot (Molevo). Illustration(en) von Alexander Yezhov für "Die erste Schlacht bei Krasny" von Andrei Ivanovich Popov (Moskau 2007; online verfügbar bei »MILITERA« [Kriegs-Literatur zur Militär-Geschichte]).
Gegen 14:00 Uhr traf die 14te leichte (2te würtembergische) Kavallerie-Brigade von General Frédéric Auguste de Beurmann samt der
1ten württembergischen Batterie zu Pferd "von Breithaupt" (III. Corps, Ney) am Schau-Platz ein. Kämpfend zogen sich
die nunmehr elf alliierten Kavallerie-Regimenter in Richtung Inkovo zurück, das inzwischen von Murat und Montbrun besetzt worden
war. Das 24te leichte (würtembergische) Infanterie-Regiment, das Marschall Ney zur Bedeckung der Artillerie voran-befohlen hatte,
ging beid-seits der Straße nach Witebsk in Abwehr-Stellung.
Gegen 16:00 Uhr endeten die Kämpfe. Im "13eme Bulletin de la grande armée" gab Napoleon die Höhe der eigenen Verluste
mit lediglich zweihundert getöteten und verwundeten Soldaten an.

Truppen des 2ten Kavallerie-Corps um 1812 Links-seitig dargestellt sind abgekämpfte Angehörige der 9ten Husaren, der 12ten Chasseurs und der 4ten Chevau-légers; rechts im Vormarsch Carabiniers und Kürassiere des 1ten Regiments.
Aquarellierte Zeichnung von Lucien Rousselot, lt. »Auktionshaus Drouot« (Paris, FRA) im Jahr 2017 versteigert.
Napoleon war guter Stimmung. Seine Hoffnung, dass sich die russischen Armeen endlich zur Schlacht stellen würden, schien
endlich in Erfüllung zu gehen. Und besser noch: Die Russen hatten sich offensichtlich für einen Angriff auf das Zentrum seiner
Aufstellung entschlossen, und der Kaiser war sowohl zum Angriff als auch zur Verteidigung bereit (trotzdem ergeht an die Generäle
Charles Antoine Morand, Louis de Friant und Charles Étienne Gudin, Kommandeure der insgesamt etwa 15.000 Mann der 1ten, 2ten und
3ten Infanterie-Division, die Order, zur Unterstützung des III. Corps bis nach Lubawicze (Ljubawitschi, RUS) vorzustoßen und sich
dort für einen Angriff auf die linke (südliche) Flanke der russischen Haupt-Armee bereitzuhalten. Er konnte nicht wissen, dass
Barclay de Tolly am Abend des 8. August während Platows Schilderungen seines geglückten "Venter"-Manövers erste Zweifel
an seiner Offensive bekommen und in einem Schreiben an Bagration zu bedenken gegeben hatte, dass der Feind sich "einzig und
allein zurückziehen könnte, um uns weiter zu ihm zu locken."
Tatsächlich muss Barclay de Tolly erst am Abend des 8. August erkannt haben, dass er seine Armee mit einem weiteren Vormarsch in
die unmittelbare Gefahr bringen würde, vom I. Kavallerie-Corps (Nansouty) und vom IV. (italienischen) Corps unter Eugène de
Beauharnais in der rechten (nördlichen) Flanke angegriffen werden zu können. Noch dramatischer wäre die Situation, so die
"Grande Armée" durch eine einfache Drehung ihrer gesamten halbkreis-förmigen Aufstellung um 90 Grad bei gleich-zeitigem
Nachziehen der von Davout geführten Verbände die russischen Armeen umgehen -, von Smolensk abschneiden und letztendlich
umschließen würde. Um dieses Szenario abzuwenden, befahl der General – wohl von der Befürchtung erfüllt, dass der französische
Angriff über die von Poretschje nach Smolensk führende Straße erfolgen wird – nunmehr seiner Armee einen Schwenk um 90 Grad und
damit den Angriff auf die gegenerische linke (nördliche) Flanke; Bagration erreichte in der Nacht vom 9. August die Weisung,
seine Truppen auf die von der 1ten Armee bis dahin besetzte Position mit Zentrum bei Prikash Vidra (Gebiet zwischen Debritza
und Tschegolewo [Debritsy und Shchegolevo, RUS]) zu verlegen. Der neue Offensiv-Plan sah vor, dass Barclay de Tolly mit dem
1ten Kavallerie- sowie dem 2ten und 4ten Infanterie-Korps – den Verbänden des rechten (nördlichen) russischen Flügels – von
Zakharyno aus (Zakharino, RUS; gut 20 km nördlch von Smolensk) gegen das IV. (italienische) Corps vorgeht; das 3te, 5te und 6te
Korps im Fall eines Scheiterns des Angriffs oder eines zu erwartenden Gegen-Angriffs der französischen Haupt-Armee die operative
Reserve zur Unterstützung Bagrations stellt. In seiner Erwiderung führte Bagration nicht nur eine Vielzahl von Schwach-Stellen
und Gefahren an, sondern setzte den Ober-Befehlshaber in Kenntnis, dass die Corps von Davout inzwischen über drei Routen
nordwärts -, erste Verbände am linken Ufer des Dnjepr in Richtung des Vor-Postens bei Krasnoi ost-wärts gegen Smolensk vorrücken.
Auch machte er deutlich, dass "... jede Langsamkeit unsererseits dem Feind Zeit geben wird, seine Kräfte dort zu
konzentrieren, wo es für ihn vorteilhafter ist, und wir dann noch weiter vorwärts gehen müssen, um herauszufinden, wohin uns
Napoleon führen will."
Die Vorbereitung und Ausführung eines Flanken-Angriffs ist ein äußerst komplexes wie gleichsam kompliziertes Manöver. Dem
Anschein nach beabsichtigte Barclay de Tolly ein Vorgehen nach Vorbild der sog. "Schiefen Schlacht-Ordnung", die dem
preussischen König Friedrich II. in der Schlacht von Leuthen (5. Dezember 1757) den Sieg über die zahlen-mäßig weit überlegene
und vorteilhafter positionierte österreichische Armee gebracht hatte.
Im Verlauf des 9. August beobachteten die französischen Aufklärer auf russischer Seite eine ganze Reihe von Manövern, die auf
eine Umgruppierung der Streit-Kräfte schließen ließen: Hinter einem Schleier von Staub-Wolken, die von der Vorhut-Kavallerie und
einem starken Detachement leichter Truppen vor Rudnya aufgewirbelt wurden und das bei Ljosna stehende III. Corps (Ney)
beunruhigen sollten, versuchte die Masse der 1ten Armee den Angriff auf die linke (nördliche) Flanke bei Poretschje vorzubereiten
und – möglichst unauffällig – geeignete Ausgangs-Positionen zu beziehen, was vielleicht gelungen wäre, so die Armee-Führung die
Koordination der Marsch-Bewegungen nicht den einzelnen Korps-Führungen überlassen -; die operative Ebene neben der Information
der geänderten strategischen Ziel-Setzung auch konkrete Weisungen zum taktischen Vorgehen erhalten hätte und – vor allem – die
einzelnen Brigaden und Divisionen, die teilweise noch vor Smolensk standen, schneller und entschlossener heran-geführt worden
wären.
In der Nacht vom 9. zum 10. August hatten die ersten Verbände der "Grande Armée" ihre Marsch-Befehle erhalten und
sich plan-gemäß – in aller Stille hinter dem Schein der Wacht-Feuer – in Bewegung gesetzt. Doch zur Überraschung des Vize-Königs
Eugène de Beauharnais und seinen Generälen, die eine Schlacht erwarteten, gingen die Divisionen des IV. (italienischen) Corps
nicht gegen die anrückenden russischen Korps in Stellung. Die 13te Infanterie-Division unter General Alexis Joseph Delzons
marschierte zusammen mit den fünf Bataillonen der Garde von Surazh zurück nach Janowischje (Suraz bzw. Janavičy, BLR); die 14te
Infanterie-Division unter General Jean-Baptiste Broussier wurde von Ponizovye nach Kolyschki zurückgezogen (Ponizov'e, RUS, bzw.
Kolyshki, BLR). General Teodoro Lechi bildete mit seiner 15ten Infanterie-Division die Arriere-Garde und wartete in Surazh die
Ankunft der vier bayerischen Chevaulegers-Regimenter der Division Preysing ab, die der Kaiser vor einem Monat dem VI.
(bayerischen) Corps unter Marschall Laurent de Gouvion Saint-Cyr in Wilna entzogen und den Italienern angeschlossen hatte.
Marsch-Ziel aller italienischen Divisionen war der Groß-Raum Liozno, dem Haupt-Quartier von Marschall Ney und dem III. Corps.
Ney begann
Brigade Mourier.
9. leichte Kavallerie. Mouriers Brigade rückt nach Moghilnia (Mogil'no, RUS) vor
Check:
Im Russlandfeldzug 1812 befehligte Bernhard Erasmus von Deroy die 19. Division des VI. Korps unter de Gouvion St.-Cyr, mit dem er im April 1812 bei Płock an der Weichsel eintraf. Nicht nur Prinz Eugen (1817 zum Herzog von Leuchtenberg erhoben) lobte nach einer Heerschau den General Deroy mit dem bayerischen Kontingent wegen seiner Disziplin, Haltung und Waffenfertigkeit, wo bei den Armeen anderer Nationen wegen Krankheiten, Desertion und anderer Übel schwere Missstände eingerissen waren. Während des Übersetzens über den Njemen musterte Napoleon das Bayerische Korps und auch er anerkannte die gute Haltung der Bayern und ihres Generals. Von Napoleon persönlich geführt erhielt das bayerische Kontingent am 5. August den Befehl, nach Polazk vorzurücken, wo er am 7. August eintraf. Bis 17. August war das bayerische Korps von 13.000 Mann wegen Krankheiten und Entbehrungen auf 5.000 Mann unter Waffen zusammengeschmolzen und wurde bei der Ersten Schlacht von Polazk als Reserve eingesetzt. Tags darauf besetzte Deroy Spas und brachte seine Truppen längs der Polota in Stellung. Von dort aus ließ er morgens angreifen und warf bald die feindlichen Vorposten zurück, wurde allerdings von Kavallerie und Artillerie so eingedeckt, dass er nach Spas ausweichen musste. Er erkannte die Gefahr einer Umgehung und ließ das eben eingetroffene 4. Linien-Infanterie-Regiment auf einer Anhöhe aufmarschieren, wo es die russische Armee mit zusammengefasstem Bataillonsfeuer sofort zum Stehen brachte. Deroy sah die Gelegenheit, den Feind zu schlagen, und ließ mit aufgepflanzten Bajonett zum Angriff antreten. Bei der Verfolgung der fliehenden Russen traf ihn eine Musketenkugel im Unterleib. Er gab trotz seiner tödlichen Verwundung noch die entscheidenden Befehle und ließ sich erst vom Gefechtsfeld tragen, als er den Sieg für entschieden hielt. Am 23. August 1812 starb Deroy in den Armen seines Neffen Ludwig von Deroy bei Polozk, wo er im Kirchhof von St. Xaver seine letzte Ruhestätte fand.[1]
https://de.wikipedia.org/wiki/Bernhard_Erasmus_von_Deroy
Bayern entsandte zwei vollständige Armeekorps, die der napoleonischen Armee als 19. und 20. Division des VI. Korps unter dem französischen Befehlshaber Gouvion St. Cyr eingegliedert wurden. Die Infanterie wurde von Bernhard Erasmus Graf von Deroy befehligt, der bereits 69 Lebensjahre zählte. Er war als „Vater Deroy" bei seinen Männern ungeheuer beliebt; die Kavallerie wurde von Karl Philipp Fürst von Wrede geleitet.
Das gute äußere Erscheinungsbild und der militärische Stolz der bayerischen Chevauxlegers-Regimenter beeindruckten den Kaiser bei der großen Parade am 14. Juli 1812 vor der Stadt Wilna so sehr, dass er sie zu seinem IV. Corps des Prinzen Eugène Beauharnais abkommandierte. Seine Grande Armée des Vingts-Nations umfasste zu zwei Dritteln französische Soldaten, dazu kamen unter anderen vier Schweizer Regimenter, Portugiesen und Spanier sowie Kroaten; es waren insgesamt 684 000 Männer, ein ungeheures Heer, das durch Schlesien und Polen zur russischen Grenze bewegt werden musste. Die Bayern erreichten sie am 30. Juni und 1. Juli.
„Unsere Märsche sind bis jetzt in der That Nichts als ein langer ruhiger Spaziergang. Sieht man unsere zahlreichen Haufen, in Form von endlosen Bändern alle Wege bedecken, so sollte man uns für eine Prozession von Pilgrimen nehmen", berichtete ein französischer Offizier am 19. Juli nach Hause. Die Allgemeine Zeitung druckte solche Berichte sofort nach, um ihre Leser über den Feldzug zu unterrichten. Der Alltag des einfachen Infanteristen bestand tatsächlich vorerst nur aus Marschieren. Vier Tage mit gelegentlich sieben oder acht Stunden wechselten mit einem Tag Ruhe, dazu musste nach der Ankunft noch streng exerziert werden. Das war Soldatenalltag, und die Männer hätten das noch hingenommen – wenn die Versorgung gesichert gewesen wäre. Denn das die Logistig erwies sich von Beginn an als das eigentliche Problem.
Napoleon hatte den Feldzug lange geplant und riesige Magazine für Vorräte angelegt, die für ein ganzes Jahr reichen sollten. Nur klappte der Transport nicht. Die Hauptstreitmacht musste nach seinem Willen ungeheure Strecken so rasch wie möglich zurücklegen, denn der Kaiser wollte die Russen mit der ganzen Wucht seiner Armee zu einer schnellen Entscheidungsschlacht zwingen. Die Wagen mit dem Proviant fielen bald zurück, auch behindert durch die großen Herden von Schlachtochsen, die mitgetrieben wurden. Besonders viel Getreide war aufgeladen worden. Schon deshalb verzögerte sich der Beginn des Feldzugs bis in den Frühsommer; das erwies sich als besonders fatal, weil Herbst und Winter zu schnell herein brachen.
Jeder Soldat hatte Anspruch auf 1/2 Liter Bier, 750 Gramm Brot und 1/6 Liter Branntwein täglich. Schon bald sahen die einfachen Soldaten nichts davon. Brot sollte unterwegs gebacken werden – doch dann fehlten Mühlen zum Mahlen des Getreides; sie wurden zwar nachbestellt, aber auch in Frankreich gab es Kriegsgewinnler. Die Mühlen trafen erst im November ein und waren zudem von schlechter Qualität.
Der bayrische „Train" zählte allein schon ohne die 186 Artilleriewagen (Munitions-, Schmiede- und Kohlewagen) weitere 58 Wagenposten wie Kassa- und Registraturwagen, Fahrzeuge der Generäle sowie für die Feldpost. Die Pferde waren von den bayerischen Bauern im Oberland rekrutiert worden, die versuchten, ihre besten Gäule zu verstecken. So waren viele Tiere bei Beginn des Zuges alt oder sogar krank. Bereits in Polen, wo es entweder heftig regnete oder sehr heiß war, blieben sie bis zum Bauch im Morast stecken und waren den Strapazen nicht gewachsen. Ohne Pferde konnten die Wagen aber nicht bewegt und kein Ersatz mehr herangeschafft werden. Auch waren die bayerischen Militär-Behörden knauserig gewesen. Es fehlten bald Schuhe, Brotsäcke und Feldflaschen. Bis der Nachschub ankam, dauerte es zu lange. Die bayerischen Marschierer umwickelten die Füße mit Lumpen und Stroh oder liefen barfuß auf den unbefestigten Straßen. Ihre schweren Tornister von 33 Kilogramm durften sie nicht ablegen; regnete es, sogen sich die Raupen auf den Helmen mit Wasser voll und beschwerten den Kopf. Die Helme waren zudem schwer und passten nicht gut. Beim Laufen mussten sie mit beiden Händen festgehalten werden.
Der Verlust ihrer Kavallerie, die nun die Garde um den Kaiser verstärkte, war der erste Schritt zum Untergang der Bayern in Russland. Neben der eigenen Versorgung durch die Trosswagen hätte die Armee sich aus dem jeweiligen Feindesland bedienen sollen, aber die Bauern in Polen hatten alles versteckt oder das Vieh weggetrieben, und das Land war zu dünn besiedelt, um die Masse der Armee zu versorgen. Wer noch über ein Pferd oder sogar einen Wagen verfügte, konnte natürlich leichter „trainieren", über Land reiten und bei den Bauern nach Essbarem suchen. Auch waren die Offiziere bei weitem besser versorgt. Sie klagten meist nur darüber, dass sie statt Semmeln hartes Brot vorgesetzt bekamen. Außerdem wurden ihnen noch ihre „Tafelgelder" ausbezahlt, mit denen sie etwas erhandeln konnten. Und sie verfügten über Dienerschaft, die ihnen das Leben bequemer machte.
Die einfachen Fußsoldaten dagegen erhielten keinen Sold mehr, weil die Geldkästen im Kassawagen hinter den Truppen zurück blieben. Ohne Geld und Versorgung waren die Soldaten auf sich gestellt. Viele verließen ihre Truppeneinheit, meldeten sich krank oder schlugen sich in die Büsche. Wenn der unbekannte Autor weiter in der Allgemeinen Zeitung schrieb: „Die Bauern können sich nicht über uns beklagen", so war das nicht richtig. Gegen jede Art von Plünderung wurde zwar vorgegangen; Mitte Juli befahl der Kaiser Patrouillen dagegen. Es gab zur Strafe Stockhiebe und sogar Todesurteile, auch bei den bayerischen Fußsoldaten. General Wrede bot schließlich jedem Soldaten einen Gulden Belohnung, wenn er sich nicht von der Truppe entfernte.
Aber jede Androhung von Strafe prallte an den erschöpften und hungrigen Männern ab. Bereits ab Juli war die Lage katastrophal. Katzen und Hunde, Frösche und Kröten, Schlangen und sogar die Hufe von Tieren wurden ausgekocht und verzehrt. Kuhhäute wurden in schmale Streifen geschnitten und gebraten. Die Offiziere wussten, dass man Wasser abkochen musste. Die einfachen Infanteristen tranken in der Hitze Sumpfwasser oder das Wasser aus den Löchern in den Straßen, die bereits von Leichen und Tierkadavern übersät waren. Bald nahm die Zahl der Kranken mit Ruhr und Typhus so zu, dass sie nicht versorgt werden konnten, denn es fehlte den Ärzten und Apothekern an allem. In die Lazarette ging deshalb niemand freiwillig, jedem war bekannt, dass man dort mit Sicherheit sterben würde. Der große Feldzug geriet immer mehr zum verzweifelten Versuch, überhaupt den Tag zu überleben.
Noch hatte es keine Kämpfe gegeben, denn die Russen zogen sich immer weiter ins Land zurück. Zwischen dem 16. und 22. August trafen die bayerischen Korps beim Städtchen Polozk zum ersten Mal auf die russische Armee. Obwohl sie bereits viele Männer verloren hatten, schlugen sich die Bayern dabei tapfer; aber durch den Abzug ihrer Kavallerie konnten sie den zurückweichenden Feind nicht verfolgen. So waren die hohen Verluste bei dieser Schlacht mehr oder weniger sinnlos. Am meisten traf die Bayern der Tod von General Deroy, der am 23. August seinen Verletzungen erlag. Polozk wurde zum „Grab der Bayern". In der sumpfigen Ebene, wo sie wochenlang lagen und Vorpostendienste leisten mussten, starben die Männer wie die Fliegen.
Erschöpfung und die Strapazen waren nicht der einzige Grund. Die Bayern waren in diesem fremden, unwirtlichen Land krank vor Heimweh und Sehnsucht nach ihren Familien. Ob dieser Krieg wirklich um „die Rettung Europens vor der englischen Handelssklaverei" (Allgemeine Zeitung) geführt wurde, war für die wenigsten von Interesse. Das bayerische Kontingent war bereits um die Hälfte zusammengeschmolzen. General Wrede berichtete dem König bereits Anfang August vom erbarmungswürdigen Zustand der einst stolzen Armee: Dass die Soldaten zusammengerissen mit herunter hängenden Lumpen, zum Teil barfuß ein despektierliches Bild bieten würden.
Die Chevauxlegers der Kavallerie-Brigade und der Kavallerie-Division trafen mit dem Kaiser schließlich am 14. September in Moskau ein. Vor der Schlacht von Mozaisk am 7. September hatte der Kaiser den erschöpften Männern „Überfluss, gute Winterquartiere und die baldige Rückkehr ins Vaterland" versprochen, aber der Brand von Moskau machte seine Niederlage grausam klar. Am 19. Oktober wurde heimlich der Befehl zum Rückzug gegeben. Karl von Mannlich berichtete seinem Vater über den Abmarsch mit 60 englischen Wagen, „bepackt mit Bildern, Pendulen, chinesischem Porzellan und manch anderem Beutestück." Die Klügeren hatten sich mit Vorräten und Pelzen aus den gemauerten Kellern der Stadt versorgt.
Noch hatte der Winter nicht begonnen. Der Abmarsch war bei mildem Herbstwetter, das aber bald umschlug und die unzureichend gekleideten und ausgehungerten Fußsoldaten mit Kälte und Schnee überfiel. „... und wir übrigen haben uns beynah alle erfrört", beschrieb in seinen späteren Erinnerungen der Fußsoldat Josef Deifel vom 5. Infanterie-Regiment das Elend.
Hier begann die eigentliche Tragödie, die ihren Höhepunkt im fluchtartigen Übergang über die Beresina fand. Auf Behelfsbrücken, die von den Russen nicht entdeckt wurden, gelang es vom 24. bis 29. November, noch 40 000 Mann über den Fluss zu retten, bevor die Holzstege in Flammen gesetzt wurden. Wer zurückblieb, war verloren.
Fürst Wrede waren noch 3120 Mann geblieben, die sich mit den Resten der Hauptarmee Richtung Heimat schleppten: ein Haufen von Skeletten, mit den seltsamsten Fetzen bekleidet, schwarz von Schmutz und mit erfrorenen Händen und Füßen. Schlief ein Übermüdeter in der Kälte ein, wachte er nicht wieder auf.
Nur 2.297 von insgesamt 35.799 Soldaten (Napoleon hatte kategorisch von Bayern noch Nachschub an Männern und Pferden verlangt) überlebten den Feldzug. 1814 kehrten 890 Männer aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Wie viele entmutigt die Truppen verlassen hatten und in russische Dienste traten, ließ sich nicht klären. Noch Jahrzehnte später hatten die Behörden große Schwierigkeiten mit der Aufarbeitung. Für die vielen Toten und Vermissten gab es keine Urkunden; Vererbungen, Wiederverheiratungen der Witwen und Versorgung der Waisen erwiesen sich als große Hindernisse für die bürokratische Abwicklung dieser größten humanitären Katastrophe des 19. Jahrhunderts. Auch Korporal Josef Layrer, der die wehmutsvolle Zeile zu Beginn dieses Artikels an seine Frau geschrieben hatte, kehrte aus Russland nicht zurück.
Am 28. Februar 1814 wurden durch einen Gnadenakt des Königs stillschweigend alle Männer amnestiert, einfache Soldaten ebenso wie die Offiziere. Im absoluten Chaos dieses Feldzugs ließen sich strafwürdige Taten wie Desertionen oder Befehlsverweigerungen nicht mehr aufklären, und Bayern hatte sich inzwischen im Vertrag von Ried am 8. Oktober 1813 auf die Seite der Allianz gegen Napoleon gestellt.
Für die etwa 30.000 Toten und Vermissten ließ König Ludwig I. am 18. Oktober 1833 den Obelisk am Karolinenplatz errichten, mit Geldern, die ursprünglich als Denkmal für General Graf Deroy und die bis dahin Gefallenen gedacht waren. Er schätzte Frankreich nicht und fühlte sich als „Teutscher". Die politische Lage drehte sich, und Frankreich wurde immer mehr zum erklärten „Erbfeind" Deutschlands. Als im Jahr 1912 der hundertsten Wiederkehr des Feldzugs gegen Russland gedacht wurde, stand bereits die nächste Katastrophe bevor, der dann noch als Folge des Ersten der Zweite Weltkrieg folgen sollte. (Andrea Hirner)
Quelle: http://www.bayerische-staatszeitung.de/staatszeitung/unser-bayern/detailansicht-unser-bayern/artikel/thraenen-und-wehmut.html
https://4-lir.jimdo.com/regimentsgeschichte/
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Sa., 1. August, bis Mo., 31. August: Vormarsch des Süd-Flügels |
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Sa., 1. August, bis Mo., 31. August: Vormarsch der Haupt-Armee |
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Sa., 1. August, bis Mo., 31. August: Vormarsch der Nord-Flanke |
Zu Beginn des Monats August wird das rund 27.000 Mann starke X. Corps des französischen Marschalls Étienne MacDonald, das die
äußerste linke (nördliche) Flanke der "Grande Armée" stellt, als eine "aufgelöste Posten-Kette" mit einer
Gesamt-Länge von rund 800 Kilometern beschrieben. Die diesem Corps angegliederten Einheiten des preussischen Hilfs-Korps ziehen
sich von Tauroggen entlang der baltischen Küste über Memel, Libau, Windau im Nord-Westen (heute Klaipėda, LIT; bzw. Liepāja und
Ventspils, beides LVA) weiter nach Schlock an der Bucht von Riga vor die "Dünamünder Schanze" und nach Keckau über
Dahlenkirchen an der Düna, mit der rückwärtigen Verbindung über Olai nach Mitau (heute Sloka, Vecriga, Ķekava und Doles Baznīcas,
Olaine und Mitava, alles LVA), wo sich die Aufstellung der 7ten (französischen) Infanterie-Division anschließt, die sich über
Friedrichstadt und Jakobsstadt bis zur Festung Dünaburg ausdehnt (heute Jaunjelga, Jēkabpils und Daugavpils, alles LVA).
In der Nacht vom 31. Juli zum 1. August gibt die kleine russische Besatzung des auf dem linken Ufer der Festung Dünaburg
gelegenen Brücken-Kopfes (heute Haft-Anstalt Daugavgrīva, LVA) das sog. "Kronwerk" auf und setzt im Schutz der
Dunkelheit mittels einiger Flach-Boote über die Düna. Ohne jeden Widerstand kann General Étienne Pierre Sylvestre Ricard,
Kommandeur der 2ten (Avantgarde-) Brigade Macdonalds, das Vorwerk samt den hier zurückgelassenen Kanonen am nächsten Morgen
übernehmen. Und obwohl die in den Kasematten aufgefundenen Vorräte an Lebens-Mitteln und Schieß-Pulver größtenteils unbrauchbar
sind, genügten die hier aufgefundenen Kanonen-Kugeln für einen Beschuss der gegenüberliegenden, etwa 500 Meter entfernten
Bastionen der Festung - so Marschall MacDonald ausreichend Pulver und ... Kanoniere herbeischaffen würde.
Am 30. Juli hatte Marschall MacDonald dem Gros der 7ten Infanterie-Division, die bei Jakobsstadt (heute Jēkabpils, LVA) den
Befehl zum Abmarsch in Richtung der etwa 100 Kilometer entfernt gelegenen Festung Dünaburg erteilt. Der Verband passiert am
1. August Poduani und trifft bereits am 2. August auf die nahe Illuxt (heute Podvinka bzw. Ilūkste, beides LVA) stehende
Avant-Garde General Ricards, der nun zusammen mit Marschall MacDonald auf dem Guts-Schloss Kalkunen (heute Kalkūne, LVA; knapp
5 km süd-westlich des Dünaburger Vorwerkes) Quartier nimmt.
verblieb. Diefe Bewegung deg Marfchalls Macdonald vermochte aber den General Wittgenftein, feine weitern Offenfios Abfichten gegen den Marfchall Oudinot wieder aufzugeben, und in feine alte Lauerſtellung bei Osweja zuruͤckzukehren. Auch bier entftand nun eine mebrtägige Baffenrube,

"Lines & Profile plan for a two-gun Gunboat." Bau-Plan eines typischen britischen Kanonen-Bootes für den Kampf-Einsatz in Küsten- bzw. Flussufer-Nähe (um 1808). Bewaffnung: 6- oder 12-pfündiges Schiffs-Geschütz am Bug, 6- oder 12-pfündige Karronade am Heck, Drehbassen nach Bedarf. Bildquelle: ► »National Maritime Museum« Greenwich, UK).
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Sa., 1. August, bis Mo., 31. August: Vormarsch des Nord-Flügels |
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Sa., 1. August, bis Mo., 31. August: Vormarsch der Haupt-Armee |
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xx., xx. August: xxxx.
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xx., xx. Juli: xxxx.
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xx., 15. August: vor Krasnoe (bearbeiten)
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xx., xx. August: xxxx.
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xx bis xx: Haupt-Armee |

"Schlacht bei Borodino." (Angriff des Litauischen Leibgarde-Regiments) Gemälde von Mykola Semenowytsch Samokysch im »Staatlichen Militärhistorischen Panorama-Museum Borodino« (nahe Moskau, RUS). Bildquelle: ► »Art-Katalog« (Sammlung von Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen russischer Museen).
Die größtenteils wieder gesammelte 1te russische West-Armee unter Feld-Marschall Kutusow verlässt Moskau. Während die Kosaken des Reiter-Generals Platow die von Murats Kavallerie gebildete Avant-Garde der "Grande Armée" mit kleineren Scharmützel auf Trab hält, zieht sich die Armee auf der Straße von Moskau nach Rjasan in süd-östliche Richtung weiter zurück. Ziel ist die etwa am Zusammenfluss von Moskwa und Oka gelegene Handels-Stadt Kolomna, in deren stark befestigten "Kreml" – nach dem Moskauer Kreml die zweit-größte Festung Russlands – erhebliche Mengen von Waffen und Munition lagern.
"Graf Rostopchin und der Kaufmannssohn Wereschtschagin im Hof des Gouverneurshauses in Moskau."
Michail Wereschtschagin (1790-1812) war am 27. Juli 1812 wegen der Übersetzung und Verbreitung zweier Artikel einer in Russland
verbotenen Zeitung zu Deportation und lebenslänglicher Zwangs-Arbeit verurteilt worden. Als sich die Grande Armée nach dem Sieg
bei Borodino Moskau näherte, stürmten aufgebrachte Bürger den Amts-Sitz von Militär-Gouverneur Rastoptschin, der immer wieder
die Rettung der Stadt versprochen hatte. Rostopchin erneuerte sein Versprechen. Er ließ Wereschtschagin vor die Menge bringen,
beschuldigte ihn, ein Insurgent und Propagandist des Feindes zu sein, der für Geld Falsch-Meldungen verbreitet hätte, und hetzte
die Masse zum Lynch-Mord auf. Während das Volk Wereschtschagin Schilderungen nach "in Stücke gerissen wird", flieht
der Gouverneur in einer bereit-stehenden Kutsche aus Moskau.
Illustration von Alexei Kiwschenko aus dem Album zum Roman des Grafen L. N. Tolstoi "Krieg und Frieden", 1893. Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
Mo., 14. September: Moskau.
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xx bis xx: Nord-Flanke |
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xx bis xx: Nord-Flügel |
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xx bis xx: Süd-Flügel |
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xx bis xx: Süd-Flanke |
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Sa., 3. Oktober: Tarutino (ca. 100 km süd-westlich von Moskau).
Die russische West-Armee unter Feld-Marschall Kutusow erreicht Tarutino an der Nara. Baracken werden gebaut und Feld-Befestigungen angelegt; insgesamt vierzehn gestaffelte Wall-Anlagen, gedeckt von Bastionen und Lünetten, sichern die nördliche, dem Feind zugewandte Seite des Lagers. In der an Proviant reichen Region sollen sich die von Kämpfen und Märschen erschöpften Soldaten ausruhen; die Einheiten sollen neu geordnet und durch die Eingliederung von Reservisten und Rekruten wieder auf Soll-Stärke gebracht werden.
Tatsächlich gelingt es Kutusow, die Stärke seiner Armee innerhalb der nächsten drei Wochen von etwa 85.000 Mann um ein Drittel auf mindestens 120.000 Mann verstärken zu können (andere Quellen nennen 130.000; darunter 100.000 reguläre Soldaten, 20.000 Kosaken und mehr als 10.000 Mann der Miliz, dazu 622 Kanonen). Damit ist er Napoleon zwar zahlen-mäßig leicht überlegen, doch da die Ausbildung der täglich neu eintreffenden Rekruten nur langsam vorangeht; operativ-taktische Manöver auf der Ebene von Einheiten oder Verbänden traditionell nur sporadisch und dann im Früh- oder Spät-Sommer stattfinden, würde eine Begegnung der russischen Armee mit der angeschlagenen aber kamf-erfahrenen "Grande Armée" nur unter Hinnahme höchster Opfer-Zahlen enden.
Alle Anzeichen lassen vermuten, dass die russische Armee sich auf den Winter vorbereitet.
"Tarutino im Herbst 1812"
Gemälde von Alexander Jurjewitsch Awerjanow im »Staatlichen Historischen Museum 1812« (Malojaroslawez, RUS).
Bildquelle: ► »museum 1812« (Projekt des Museums Malojaroslawez, RUS).
"Das Tarutinsker-Lager" (Tarutinsk; Vorort von Kaluga an der Straße nach Moskau)
Illustration vom Künstler-Kollektiv Alexander Ivanovich Sokolov und Alexander Michailowitsch Semjonow in »Перелом в Отечественной войне 1812 года« (Wendepunkt im Vaterländischen Krieg von 1812) von Salavat Gazimovich Asfatullin; Edition LitRes, 2019. Online teilweise verfügbar bei ► »books.google«.
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xx., xx. Oktober: xxxx.
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Di., 13. Oktober: Moskau.
Im Groß-Raum von Moskau fällt der erste Schnee.
Napoleon, von einer Mischung aus Wut und Verständnislosigkeit erfüllt, verliert immer öfter seine Beherrschung: "Russland ist mitten ins Herz getroffen!" versichert er sich und seinem General-Stab immer wieder. Die russische Hauptstadt ist erobert, die russische Armee ist geschlagen, Kutusow hat sich zurückgezogen, der Krieg ist gewonnen, und Zar Alexander im fernen St. Petersburg zeigt seit nunmehr über zwei Wochen auch auf das zweite Friedens-Angebot des Kaisers keinerlei Reaktion. Als auch der zum zweiten Mal zu Marschall Kutusow entsandte Parlamentär, Napoleons General-Adjutant Alexandre-Jacques-Bernard Law de Lauriston – 1811 Sonder-Gesandter am Petersburger Hof –, am 13. Oktober ohne Nachricht aus dem russischen Haupt-Quartier bei Tarutino zurückkehrt, tobt Napoleon durch die in Beschlag genommenen Zaren-Gemächer: "Ich brauche einen Frieden, der Ehre wegen!"
Vielleicht erinnert sich der Kaiser in diesen Tagen an eine Unterredung mit Armand de Caulaincourt, bis Mitte 1811 französischer Botschafter in St. Petersburg, dem Zar Alexander im Rahmen einer Konsultation im Frühjahr 1811 bezüglich der immer deutlicher werdenden Anzeichen eines französischen Angriffs nicht nur die zu erwartende Reaktion der russischen Armee beschrieben sondern auch eine unmissverständliche Warnung an Napoleon vorgetragen hat: "… es (ist) möglich und sogar wahrscheinlich, dass er (Napoleon) uns schlägt, aber das wird ihm keinen Frieden geben … Wir werden unser Klima, unseren Winter für uns kämpfen lassen … Ich werde mein Schwert nicht zuerst ziehen, aber ich werde es zuletzt in die Scheide stecken. Ich würde mich lieber nach Kamtschatka zurückziehen, als die Provinzen abzutreten oder in meiner eroberten Hauptstadt einen Frieden zu unterzeichnen, der nur ein Waffenstillstand wäre."
Tatsächlich ist die Lage für den selbst-erklärten Sieger alles andere als vorteilhaft; es fehlt an allem. Die zu über siebzig Prozent ausgebrannte Groß-Stadt ist als Winter-Quartier für die auf nur noch knapp 100.000 Mann geschrumpfte "Grande Armée" nicht geeignet. Die hygienischen Verhältnisse sind gleich den medizinischen Bedingungen katastrophal; die rund 5.000 leicht und mittel-schwer Verwundeten können kaum versorgt werden; die etwa 5.000 Schwer-Verundeten und die immer größer werdende Zahl der Fieber-Kranken bleiben sich selbt überlassen. Der Nachschub ist inzwischen vollkommen zusammengebrochen; die von Murat ausgeschickten Streif-Trupps schaffen nicht einmal einen Bruch-Teil der täglich benötigten Proviant- und Fourage-Mengen heran; die bislang in Moskau angelegten Vorräte würden keine Woche ausreichen, und nachdem einige Kommandos die überteuerten Angebote der Marketender für General- und Truppen-Stäbe kurzerhand requiriert haben, handeln auch die Schwarz-Märkte nur noch in geheimen Keller-Verstecken. Infolge der Brände fehlt es an Feuer-Holz; die Soldaten haben keine Winter-Uniformen, frieren und plündern auf der Suche nach Kleidung und Brenn-Holz die herrschaftlichen Häuser in der Nähe des Kremls; blutige Schlägereien und erste Schießereien untereinander werden gemeldet.
Größte Sorge Naoleons ist jedoch die sich abzeichnende Entwicklung, dass die russische Armee ununterbrochen und ungestört Verstärkungen heranziehen kann, während seine Armee nicht nur an Ordnung und Disziplin verliert, sondern auch die Truppen-Stärke und damit die Kampf-Kraft stetig schwindet. Und sollten die bislang ohne strategisch-taktische Führung operierenden Bauern-Milizen und Partisanen-Abteilungen auf die Idee einer Belagerung der Ruinen-Stadt kommen, wäre die Armee binnen Wochen-Frist verhungert.
Napoleon sucht Ablenkung in Regierungs-Geschäften. So regelt er im kaiserlichen Dekret Nr. 8577 bspw. die Schürf-Rechte der Mine von La Voulte, erteilt der Gemeinde Donzac bei Bordeaux die Genehmigung zu einer Vieh-Messe, bestimmt ein Gesetz für die Annahme von Spenden und Vermächtnisse für wohltätige Zwecke und erlässt mit (heute umstrittenen) Datum von 15. Oktober 1812 das "Décret de Moscou de la Comédie-Française", das umfangreiche Verordnungen zur Organisation, Verwaltung, Buchführung, Überwachung und Disziplin des französischen Theaters zum Inhalt hat.
Nach zwei Tagen des Abwägens kommt Napoleon zum Schluss, Moskau verlassen zu müssen.
Doch wohin?
Einstweilig ergeht der Befehl, Fuhr-Werke zu beschlagnahmen und Vorbereitungen zu treffen, die transport-fähigen Verwundeten evakuieren zu können.
"Marschall Louis Davout vor dem Altar des Tschudow-Klosters im Moskauer Kreml"
Gemälde von Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin im »Nationalen Kunst-Museum der Republik Belarus« (Minsk, Weiss-Russland)
Bildquelle: ► WIKIPEDIA.
5. Oktober 1812: "Lauriston im Hauptquartier von Kutusow"
Gemälde von Nikolai Uljanow in der »Staatlichen Tretjakow-Galerie« (Moskau, RUS).
"Napoleon im Alexej Michailowitsch-Turm" (Erlöser-Turm des Moskauer Kremls)
Postkarte nach einem Motiv von Iwan Iwanowitsch Ljwov.
Bildquelle: ► Eigene Sammlung..
"Napoleon und General Lauriston – Frieden um jeden Preis"
Gemälde von Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin im »Staatliches Historisches Museum« (Moskau, RU).
Bildquelle: ► Internet-Projekt »Das Jahr 1812« (russ.).
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Do., 15. Oktober, bis So., 18. Oktober: … zwischen Tarutino und Moskau.
Mitte Oktober wird die russische Armee im Lager in und um Tarutino zunehmend von herumstreifen Reitern Murats gestört. Wiederholt gelingt es französischen Kommandos, Schlacht-Vieh von den Weiden zu stehlen und den Bauern Fourage-Wagen für die russische Kavallerie abzujagen. Und während Napoleon in Moskau die "Comédie-Française" regelt, sind Kutusow und seine Generäle damit beschäftigt, die Details des bereits beschlossenen Angriffs auf die etwa 20.000 Mann starke Avant-Garde Murats abzustimmen, die etwa auf halber Strecke zwischen Moskau und Kaluga am Fluss Chernishnya und damit etwa nur zehn Kilometer vom russischen Haupt-Quartier lagert.
Im russischen Haupt-Quartier ist man sich einig, dass Murats Verband – etwa 12.000 Mann Infanterie und 8.000 Mann Kavallerie; darunter die verbliebenen rund 3.000 Polen von Fürst Józef Antoni Poniatowskis V. Corps (Weichsel-Legion) sowie die außerordentlich hohe Zahl von 197 Geschützen – in erster Hinsicht die Aufgabe hat, dass russische Heer zu beobachten und einen überraschenden Stoß auf Moskau abzufangen; in zweiter Hinsicht aber auch die Straße von Moskau nach Kaluga und damit die erste Marsch-Etappe hin zu den Vorrats-Lagern der russischen Armee offenhalten soll. Und obwohl Kutusow erhebliche Zweifel hat, dass der von seinem Stabs-Chef, Kavallerie-General Graf Levin August Theophil von Bennigsen, und seinem Quartier-Meister, Infanterie-General Karl Wilhelm von Toll, ausgearbeitete Angriffs-Plan gelingen kann, gibt er seinen ungeduldigen Generälen schließlich freie Hand und das Kommando über ein Drittel seiner Armee.
Der komplizierte, von vielen zeitlichen als auch logistischen Faktoren abhängige Angriffs-Plan sieht vor, dass der etwa 36.000 Mann starke Heeres-Verband am Abend des 16. Oktobers aufbricht und in der Nacht in sechs Kolonnen auf drei verschiedenen Haupt-Routen durch die dichten, ausgedehnten Wälder im östlichen Tschechowski-Rajon marschiert. Und während ein Korps unter dem General Michail Andrejewitsch Miloradowitsch acht Kilometer östlich der Straße und damit beinahe auf direktem Weg vorrückt und vor der rechten (westlichen) Seite des französischen Feld-Lagers in Stellung geht, überquert das von Bennigsen geführte Korps die Nara östlich von Tarutino, teilt sich hinter dem Fluß und marschiert in zwei Kolonnen östlich von Dednya und über diesen beinahe doppelt so weiten Weg vor der Mitte und der linken (östlichen) Seite des Lagers auf. Reiter-General Wassili Wassiljewitsch Orlow-Denissow erhält die Aufgabe, seine etwa 6.000 Mann starke Kavallerie-Abteilung über die gut dreißig Kilometer lange Route Stremilovo-Dmitrovka zu führen, das Lager zu umgehen und Murat den Rückzugs-Weg in Richtung Moskau vor dem Dorf Spas-Kuplya zu verlegen. "Alle Truppen müssen noch in der Nacht hinter der Vedettenkette (Vorposten-Kette) anlangen und daselbst in größter Stille bis Tagesanbruch, in Erwartung von drei Signalschüssen, stehen bleiben. Dann hat Bennigsen rasch den Wald zu passieren und den Angriff gegen den linken feindlichen Flügel zu beginnen", verkündet der Armee-Befehl.
Praktisch wird das weitere Geschehen von einer Kette von Missgeschicken und Zufällen, Aufklärungs-, Orientierungs- und Kommunikatons-Fehlern bestimmt.
Murat, dem am 16. Oktober Bewegungen im russischen Lager gemeldet werden, versetzt seine Truppen in Alarm-Bereitschaft und erteilt den Befehl, die nur schwer bewegliche Fuß-Artillerie sowie die mit Beute-Gütern bereitstehenden Wagen umgehend auf den Weg nach Moskau zu bringen, doch der mit der Überführung beauftragte Transport-Offizier verschläft seinen Auftrag. Als der am Morgen erwartete Angriff ausbleibt, gibt Murat Entwarnung.
Kutusow findet am Morgen des 17. Oktobers die für den Angriff vorgesehenen Einheiten schlafend vor. Niemand hat die Divisions-, Brigade- oder Regiments-Kommandeure von den Plänen des Stabes informiert (verschiedenen Quellen nach ist keinem von Kutusowa Generalstabs-Offizieren aufgefallen, dass der für die Mobilisierung zuständige Stabs-Chef der 1ten Armee, General Alexej Petrowitsch Jermolow, bei den Planungen nicht teilgenommen sondern sondern bei einem Souper seines Korps geweilt hat). Nach einem fürchterlichen Wut-Anfall Kutusows fällt die Entscheidung, den Angriff einfach um einen Tag zu verschieben. Während des dann erfolgenden Nacht-Marsches durch die Wälder haben falsche Berechnungen der tatsächlichen Entfernungen, Orientierungs-Fehler in der Dunkelheit und Streitereien unter den Kommandeuren erhebliche Verzögerungen zur Folge. Einzig die zehn zu Bennigsens Korps gehörenden Kosaken-Regimenter des Reiter-Generals Orlow-Denissow sind rechtzeitig an der ihnen befohlenen Position. Als das feindliche Lager erwacht, fürchtet Orlow um den Überraschungs-Moment. Gegen 9 Uhr morgens befiehlt er die Attacke. Die drei eiligst alarmierten Regimenter der 2ten französischen Kürassier-Division unter Kommando von General Horace-François-Bastien Sébastiani (II. Reserve-Kavallerie-Corps) werden hinter die Rjasanowski-Schlucht zurückgeschlagen; die auf der Höhe hinter der Schlucht platzierten Batterien verlieren ihre Deckung; Orlows Kosaken erbeuten insgesamt 38 Geschütze und die Standarte des 1ten Kürassier-Regiments - die erste Trophäe des bald zum "Vaterländischen Krieg" erklärten Feld-Zuges. Murat gelingt es zwar noch, im westlichen und mittleren Teil seines Lagers einige Tausend Reiter verschiedenster Einheiten zu sammeln, die er jedoch kurz darauf gegen die ersten Einheiten des am frühen Vormittag am Wald-Rand nahe Teterinki ankommenden und sofort zum Angriff übergehenden 2ten russischen Infanterie-Korps Benningsens führen muss. Doch nachdem Korps-Kommandeur Karl Gustav von Baggehufwudt vor den Linien des 4ten und 48ten Jäger-Regiments von einer Kanonen-Kugel tödlich getroffen wird, geraten die bereits aufmarschierten Jäger mit den Linien des nachfolgenden Infanterie-Regiments von Tobolsk aus der 4ten Infanterie-Division unter der Führung des Divisions-Kommandeurs Eugen von Württemberg infolge widersrüchlicher Befehle vollkommen durcheinander, werden in kleinen Trupps von französischen Kürassieren niedergehauen und können nur mit Mühe in die Defensive übergehen. Bennigsen, der mit drei weiteren Korps seines Verbandes bis zum Sonnen-Aufgang im Wald herumgeirrt war und sich schließlich am aufkommenden Gefechts-Lärm orientieren kann, erreicht am Vormittag das Schlacht-Feld, wagt es jedoch nicht, ohne Unterstützung des von General Miloradowitsch geführten Verbandes in die Kämpfe einzugreifen. Noch vor dem Mittag gibt er seinen Truppen den Befehl zum vollständigen Rückzug, was wiederum Murat die Möglichkeit eröffnet, sich mit seiner Kavallerie und der Masse seiner Artillerie-Gespanne durch die bereits ihren Sieg feiernden Kosaken zu schlagen. Als gegen Mittag endlich der von General Miloradowitsch geführte Verband – Schilderungen nach "wie zur Parade" – am östlichen Rand des Waldes auftaucht, ist das französische Lager bereits weitestgehend verlassen.
Die Gelegenheit zum Sieg über die französische Avant-Garde ist dahin.
"French Supply Wagon"
Illustration von Giuseppe Rava für »Italeri«-Modell-Figuren..
Bildquelle: ► Giuseppe Rava bei »ITALERI-Models« (RUS)
"Aufbruch von Tarutino"
Gemälde von Alexander Chagadaev in den Sammlungen des »Künstler-Verbandes der Russischen Adelsversammlung« (Moskau, RUS).
Bildquelle: Katalog zur Sonderausstellung zum 200. Jubiläum des Sieges der russisch-österreichischen alliierten Armee über die französischen Truppen von Napoleon Bonaparte in der Ausstellungshalle des Russischen Zentrums für Wissenschaft und Kultur (Wien, September 2011).
"Schlacht bei Tarutino - Graf Orlow führt die Attacke der Kosaken"
Gemälde von Peter Hess in der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
"Angriff bei Tarutino"
Gemälde von Alexei Fjodorow in der Sammlung des »Staatliches Atelier für Militärkünstler« (Moskau, RUS).
Bildquelle: ► Sonder-Ausstellung »1812 - Die Macht des Volkes« im Staatlichen Heimat-Museums Twer (RUS).
"Leibgarde-Kosaken" (Русские гвардейские казаки, 1812-1814)
Illustration von Andrey Viktorowitsch Karashchuk für »Zvezda«-Modell-Figuren.
Bildquelle: ► »Zvezda« (Internet-Präsenz des Herstellers, RUS).
"Sotnik Karpov erobert die Standarte des 1ten Kürassier-Regiments" (Sotnik, russ.: Führer einer Hundertschaft der Kosaken oder der Miliz)
Gemälde von Alexander Jurjewitsch Awerjanow im »Staatlichen Historischen Museum 1812« (Malojaroslawez, RUS).
Bildquelle: ► »Panorama 1812« (Projekt des Museums »Panorama Borodino«, RUS).
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Im Ergebnis der Gefechte bei Tarutino hat die russische Armee zwar ihr strategisches Ziel erreicht, Murats Vorposten zu zerschlagen, taktisch jedoch weitestgehend versagt. Von den insgesamt 36.000 in Marsch gesetzten russischen Soldaten kamen nur 7.000 Kavalleristen und 5.000 Infanteristen zum Einsatz. Die übrigen Truppen hatten sich in den Wäldern verirrt, behinderten sich beim Eintreffen gegenseitig oder wurden im Kompetenz-Gerangel sinnlos herumkommandiert. Bennigsen rechtfertigt seinen Rückzug später mit der Erklärung, dass Miloradowitsch nicht rechtzeitig vor Ort erschienen war. Miloradowitsch verweist dagegen auf den Armee-Befehl, aus dem klar hervorgeht, erst anzugreifen, wenn Bennigsen den Beginn der Schlacht durch drei Kanonen-Schüsse signalisiert hat. Ein Vorwurf, den Bennigsen wiederum zurückweist, denn anstatt den Abzug des Feindes zu verhindern, hatten Orlows Kosaken die Schlacht bei seinem Eintreffen bereits eigenmächtig eröffnet und das Feuer seiner Artillerie, die sich zu dieser Zeit aufgrund der schlechten und vor allem falsch bemessenen Wege noch irgendwo in den Wäldern herumquälte, hätte die eigene Kavallerie gefährdet. Diese Ausrede lässt nun wieder Orlow nicht gelten; allein seine Kosaken haben die Schlacht gewonnen, die französische Arrière-Garde zersprengt und Murats Truppen bis Spas-Kuplya verfolgt, wo ein weiterer Angriff im Sperr-Feuer aus über hundert französischen Kanonen zusammengebrochen wäre.
Am Abend des 19. Oktobers hat Murat rund 15.000 Mann seines Corps wieder gesammelt und bei Voronovo eine stark befestigte Abwehr-Stellung bezogen.
In seiner Meldung an Zar Alexander berichtet Kutusow am 20. Oktober neben 38 eroberten Kanonen und der erbeuteten Standarte, der Übernahme des gesamten Fuhr-Parks samt Beute-Gütern von über 2.500 getöteten Franzosen sowie 1.000 in der Schlacht und weiteren 500 während der Verfolgung gefangenen Feinden. Als eigene Verluste gibt Kutusow 300 Tote und Verwundete an (die Inschrift auf einer Marmor-Platte an der Wand der Moskauer »Christ-Erlöser-Kathedrale« erinnert an 1.183 Tote und Verwundete; der russische Militär-Historiker Modest Iwanowitsch Bogdanowitsch gibt in seinem Werk "Geschichte des Vaterländischen Krieges" russischen Verluste in Höhe von 74 Toten, 428 Verwundeten und rund 700 Vermissten an).
Nach Wochen und Monaten des Rückzuges, der von den Angehörigen des adeligen russischen Offiziers-Korps als erniedrigende und entwürdigende Schande gesehen wird, stärkt der Sieg von Tarutino die Kampf-Moral und das Selbst-Vertrauen der russischen Armee und wird in der sowjetisch-russischen Geschichts-Schreibung als Anfang vom Ende der Napoleonischen Herrschaft gewertet.
… siehe dazu ausführlich: WIKIPEDIA
General Wassili Wassiljewitsch Orlow-Denissow
Gemälde von George Dawe in der »Staatlichen Tretjakow-Galerie« (Moskau, RUS).
Bildquelle: ► »Artchiv« (Künstler-, Sammler- und Galerien-Community).
Joachim "Gioacchino" Murat, König von Neapel und Marschall Frankreichs (in der Uniform der Vélites seiner Garde)
Gemälde von Septimus Edwin Scott nach dem Original von François-Pascal-Simon Gérard, lt. Auktions-Service »LotSearch - Auction Search & Price Archive« seit 2015 in Privat-Besitz.
"Plan der Schlacht am Fluss Chernishnya" (Tarutino)
Kupfer-Stich von J.M. Darmet aus dem Atlas-Band "Histoire militaire de la campagne de Russie en 1812" von D.P. Boutourlin in der Sammlung der »Allrussischen staatlichen Bibliothek für ausländische Literatur. M.I. Rudomino« (Moskau, RUS).
Bildquelle: ► »Artefakt« (Ein Führer zu Museen und Sammlungen in Russland).
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Sa., 24. Oktober: Schlacht von Malojaroslawez (ca. 100 km westlich von Moskau).
Auf dem Marsch in Richtung der süd-westlich von Moskau gelegenen Gouvernements-Hauptstadt Kaluga, in der Napoleon das Winter-Quartier und ausreichend Proviant zur Versorgung seiner Armee zu finden hofft, werden die rund 20.000 Mann des IV. (italienische) Corps unter Vize-König Eugène de Beauharnais, die die Avant-Garde der französischen Haupt-Armee bilden, am frühen Morgen auf der Straße von Moskau nach Brjansk bei Malojaroslawez überraschend von russischen Truppen angegriffen. Obwohl es Beauharnais gelingt, die 13te und 14te Division seines Corps schnell heranzuführen und die leichten Jäger-Bataillone des russischen Reiter-Generals Matwej Iwanowitsch Platow aus der Stadt zu jagen, bleibt der weitere Weg versperrt: Ständig beobachtet von Platows Kosaken ist Feld-Marschall Kutusow über die Bewegungen der französischen Armee bestens informiert. Vorausschauend hatte er dem erfahrenen und taktisch geschickt agierenden General-Leutnant Dmitri Sergejewitsch Dochturow befohlen, den weiteren Vorstoß der Franzosen nach Süd-Westen zu verhindern und die "Grande Armée" bis zum Eintreffen der russischen Haupt-Armee mit den rund 15.000 Mann seines IV. Korps aufzuhalten. Diesem Befehl entsprechend, hat Dochturow hinter Malojaroslawez eine provisorische jedoch gut befestigte Abwehr-Stellung errichten lassen, aus deren Rückhalt wiederum seine Regimenter im Gegen-Angriff die französisch-spanisch-kroatischen Truppen aus der an vielen Stellen in Brand geratenen Stadt werfen.
Im weiteren Verlauf der Kämpfe wird die Stadt fünfmal erobert und wieder zurückerobert. Als am Nachmittag die etwa 10.000 Mann starke Avant-Garde der russischen Haupt-Armee unter General Nikolay Nikolayevich Raevsky eintreffen, ist Beauharnais gezwungen, auch seiner bislang geschonte und als letzte Reserve zurückgehaltene 15te (ital.) Division unter General Domenico Pino den Angriff zu befehlen. Vereint schlagen die drei Divisionen die Truppen Dochturows aus der inzwischen vollkommen zerstörten Stadt zurück.
Im Ergebnis der Kampf-Handlungen, in denen beide Seite jeweils über 6.000 Mann verloren haben, können die französisch-italienischen, spanisch-kroatischen Divisionen zwar die Stadt gewinnen; das strategische Ziel, den Weg in das nur 60 Kilometer entfernte Gouvernement Kaluga frei-kämpfen, bleibt ihnen jedoch verwehrt: Kutusow war es bis zum späten Abend gelungen, die Haupt-Kräfte seiner Armee in Eil-Märschen etwa zehn Kilometer hinter Malojaroslawez in vorteilhafter Position aufmarschieren zu lassen.
… siehe dazu ergänzend: WIKIPEDIA
"Die Schlacht von Malojaroslawez - Kampf um die Spassky-Höhe"
Am Morgen des 24. Oktober eröffnet Oberst Vuich, Kommandeur des 19ten Jäger-Regiments, den Angriff auf französische Avant-Garde vor Malojaroslawez und damit die Schlacht um die Stadt. Im Bild-Mittelpunkt ist Pater Wassili Wassilkowsky dargestellt. Der populäre Priester des Regiments, dessen Stimme den Donner der Kanonen übertönen konnte, wurde bereits bei Witebsk, Smolensk und Borodino schwer verwundet. Auch bei Malojaroslawez blieb er an der Seite der Soldaten und umsorgte anschließend die Verwundeten.
Gemälde von Alexander Jurjewitsch Awerjanow im »Staatlichen Historischen Museum 1812« (Malojaroslawez, RUS).
Bildquelle: ► »Panorama 1812« (Projekt des Museums »Panorama Borodino«, RUS).
"Die Schlacht von Malojaroslawez"
Der französische Divisions-General Alexis-Joseph Delzon an der Spitze der 13ten (franz.) Infanterie-Division. Wenig später wird der durch einen Kopf-Schuss getötet.
Gemälde von Alexander Jurjewitsch Awerjanow im »Staatlichen Historischen Museum 1812« (Malojaroslawez, RUS).
Bildquelle: ► »museum 1812« (Projekt des Museums Malojaroslawez).
"Die Schlacht von Malojaroslawez - Gegen-Angriff der russischen Infaterie"
Gemälde von Mykola Semenowytsch Samokysch im »Staatlichen Militärhistorischen Panorama-Museum Borodino« (nahe Moskau, RUS).
Bildquelle: ► »Art-Katalog« (Sammlung von Gemälden, Zeichnungen und Skulpturen russischer Museen).
"Die Schlacht von Malojaroslawez"
Gemälde von Peter Hess in der »Eremitage« (St. Petersburg, RUS).
"Die Schlacht von Malojaroslawez"
Gemälde von Alexander Jurjewitsch Awerjanow im »Staatlichen Historischen Museum 1812« (Malojaroslawez, RUS).
Bildquelle: ► »museum 1812« (Projekt des Museums Malojaroslawez).
"Die Schlacht von Malojaroslawez"
Gemälde von Oleg Awakimian in der Galerie »Der Vaterländische Krieg von 1812 in den Gemälden der Meister des Ateliers der Militärkünstler. M.B. Grekow« (Verteidigungsministerium der Russischen Föderation).
"Auf dem Dom-Platz von Malojaroslawez am 25. Oktober 1812"
Gemälde von Oleg Awakimian im »Staatlichen Historischen Museum 1812« (Malojaroslawez, RUS)..
Bildquelle: ► »museum 1812« (Projekt des Museums Malojaroslawez).
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xx., xx. Oktober: xxxx.
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Di., 27. Oktober: Die Temperatur erreicht erstmals den Gefrierpunkt.
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Sa., 31. Oktober: Wjasma (ca. 2.500 km östlich von Paris).
Napoleon trifft in Wjasma ein. Die alte Festungs-Stadt, die sich ihm auf den Tag genau vor zwei Monaten kampflos ergeben hatte, war kurz darauf in Flammen aufgegangen. Die überwiegend aus Holz gebauten Höfe liegen in Schutt und Asche; die gemauerten Kaufmanns-Häuser und die Kirchen sind ausgebrannt. Trotzdem befiehlt Napoleon den Halt und nimmt im Täufer-Kloster provisorisches Quartier. Innerhalb der nächsten drei Tage will er hier sein nur langsam nachrückendes Heer sammeln und nach Möglichkeit Positionen, Stärken und Bewegungen der russischen Armeen in Erfahrung bringen.
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So., 1. bis Di., 3. November: … Wjasma (ca. 200 km westlich von Moskau).
Die Avant-Garde der Haupt-Armee erreicht Wjasma. Auf dem gleichnamigen Fluss, einem Neben-Lauf des Dnjepr, treiben erste Eis-Schollen. Über Nacht ist das Wetter umgeschlagen und die Temperaturen sind unter den Gefrier-Punkt gefallen. Obwohl es sonnig ist und nur ein milder Wind weht, bleibt die Temperatur bei -5°C.
Am 2. November bekommt Marschall Ney den Befehl, mit seinem III. Corps die Nachhut zu bilden, den Rückzug des 5. (poln.), 4. (ital.) und 1. (franz.) Corps zu decken und die beiden Armee-Korps der nachrückenden russischen Avant-Garde mit etwa 25.000 Mann unter General Michail A. Miloradowitsch aufzuhalten. Zusammen mit den Resten seiner Garde und dem VIII. (westphälischen) Corps unter Junot verlässt Napoleon Wjasma.
In der klaren Nacht vom 2. zum 3. November fällt die Temperatur auf -10°C. Am Morgen kommt dichter Nebel auf, und von Ney zur Eile getrieben, setzen sich die östlich der Stadt im Schnee entlang der Straße lagernden Soldaten – insgesamt noch etwa 28.000 Mann – wieder in Bewegung.
Gegen 8:00 Uhr morgens hat die Spitze des 5. (poln.) Corps den östlichen Stadt-Rand von Wjasma erreicht. Die langgezogene Kolonne erstreckt sich über eine Distanz von gut zwölf Kilometern, wobei zwischen dem nachfolgenden 4. und dem abschließenden 1. Corps, dem der Schutz der verbliebenen und nur langsam vorankommenden Bagage-Wagen oblag, bald ein etwa drei Kilometer großer Abstand klafft.
Kurz nach 8:00 Uhr werden beidseits des Trains die ersten Kosaken gesichtet. Panik kommt auf. Doch die Entfernung zwischen dem 1. und dem 4. Corps ist inzwischen so groß, dass die voran-marschierenden Truppen im dichten Nebel nicht bemerken, wie sich die reguläre russische Kavallerie in die Lücke schiebt und die etwa 9.000 Mann des 1. Corps von den Resten der Haupt-Armee abschneidet. Kurz darauf trifft auch die russische Infaterie ein, und das 1. Corps ist eingeschlossen.
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Di., 3. November: Die "Nebel-Schlacht" von Wjasma (ca. 200 km westlich von Moskau).
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Sa., 7. November: … östlich vor Smolensk.
Der Schnee fällt weiterhin dicht und überdeckt das Glatt-Eis auf der Marsch-Route, was das Vorankommen weiter erschwert: Infolge von Stürzen erleiden unzählige Soldaten Prellungen und Knochen-Brüche. Mangels Transport-Gerätschaften bleiben die meisten Verletzten unversorgt am Rand des Weges zurück und sich selbst überlassen. Da die Temperatur weiter fällt und auch der eisige Wind anhält, sind viele der Zurückgelassenen binnen Stunden erfroren.
Auf die Nachricht, dass ein Eil-Kurier aus Paris eingetroffen ist, reagiert Napoleon mit großer Überraschung: Anfänglich mehr daran interessiert, ob Smolensk frei von feindlichen Truppen ist, wie die Weg-Verhältnisse westlich von Smolensk sind; ob reguläre russische Truppen, Kosaken oder "Partigiani" den Rückweg verlegen, ob Verpflegung unterwegs ist, nimmt er Meldung von einer Verschwörung und einem beinahe geglückten Umsturz anfänglich nur beiläufig wahr. In Paris war es dem einst populären und gefeierten Revolutions-General Claude François de Malet in der Nacht vom 22. auf den 23. Oktober geglückt, aus der seit 1808 währenden Haft zu entkommen. Mit einem gefälschten Bulletin aus dem Haupt-Quartier der "Grande Armée" in Moskau, das mit Datum vom 7. Oktober 1812 den Tod des Kaisers vermeldete, und vermeintlich amtlich besiegelten Dokumenten, die ihm das Ober-Kommando über die gesamte französische National-Garde sowie sämtliche Garnisonen der Armee verliehen und ihn zur Errichtung einer provisorischen Regierung ermächtigten, wäre es dem energischen Verteidiger der Revolution und schärfsten Kritiker Napoleons beinahe gelungen, die Macht an sich zu reißen. Nur der Aufmerksamkeit des diensthabende Offiziers in der Pariser Militär-Kommandantur, Colonel Jean Doucet, dem ein später datiertes Bulletin vorlag, war es zu verdanken, dass der Staats-Streich vereitelt und Malet sowie die meisten seiner republikanisch gesinnten Mit-Verschwörer wieder arretiert werden konnten.
"Auf der Etappe – Schlechte Nachrichten aus Frankreich"
Postkarte nach einem Motiv von Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin.
Bildquelle: ► Eigene Sammlung..
"Napoleons Rückzug"
Gemälde von Jan van Chelminski, lt. »Christie's« seit 2015 in Privat-Besitz.
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xx., xx. August: xxxx.
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Do., 3. Dezember: 29. Bulletin der Grande Armée.
"Jusqu’au 6 novembre, le temps a été parfait, …" (Bis zum 6. November ist das Wetter bestens gewesen, …).
Mit dieser banal klingenden Eröffnung seines letzten Front-Berichtes gesteht Napoleon unbewusst zumindest einen folgenschweren operativen Fehler seines Feld-Zuges ein, der allein seiner Verantwortung obliegt: Es war seine Entscheidung, fünf Wochen in den Ruinen von Moskau auf die Kapitulation des Zaren zu warten, weil er an der klassischen Tradition festhalten wollte, mit der Eroberung der Hauptstadt des Gegners auch den Krieg gewonnen zu haben, demzufolge den Sieg beanspruchen und die Friedens-Bedingungen diktieren zu können. Hätte er die Realitäten erkannt und den Befehl zum Rückzug bereits nach der ersten Missachtung seines Verhandlungsangebotes oder spätestens mit dem ersten Schnee am 13. Oktober erteilt, wären die Reste seiner Armee bereits zwei bis drei Wochen früher und damit sehr wahrscheinlich noch vor dem Winter-Einbruch in Smolensk eingetroffen. Auch wirft er dem Gegner vor, seine Armee durch ein ständiges Ausweichens zermürbt zu haben (was bedeutet, dass er die Taktik des Gegners zumindest erkannt haben musste).
Der weitere Inhalt vermittelt einen ersten Eindruck vom Ausmaß der Katastrophe: Aufgrund der schlechten Straßen-Verhältnisse konnte die Artillerie der Armee nicht folgen; fehlte in den Schlachten, die aus diesem Grunde nur unter höchsten Verlusten geschlagen werden konnten. Letztendlich musste die gesamte Artillerie aufgrund des Verlustes beinahe sämtlicher Pferde aufgegeben werden. Zigtausende Soldaten sind desertiert, gefangen oder mussten erkrankt zurückgelassen werden. Zigtausende sind infolge der vernichteten Depots oder des fehlenden Nachschubs verhungert oder erfroren. Zigtausende wurden von Kosaken und Partisanen niedergemacht. Zigtausende …
Napoleon kündigt seine baldige Ankunft in Paris an, wo er eine neue Armee aufstellen wird, die den nachrückenden Feind vernichten wird.
Die Schilderungen setzen auch die Legende in die Welt, dass die "Grande Armée" allein durch den russischen Winter besiegt wurde.
… siehe dazu ausführlich: »Von der Bastille bis Waterloo - Wiki«
… komplett zu finden in der »bnf - Bibliothèque nationale de France«
"Vingt-neuvième bulletin de la grande armée"
Das Neunundzwanzigste Bulletin der "Grande Armée" in der »Bibliothèque Méjanes« (Aix-en-Provence; FRA).
"Nachtkwartier te Molodetschno, 3-4 december 1812" (Nachtquartier in Molodetschno)
Gemälde von Johannes Hari im »Rijksmuseum« (Amsterdam, NL).
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Sa., 5. Dezember: … Smorgon, etwa 75 Kilometer östlich von Wilna.
Napoleon erreicht Smorgon (oder Smarhon, auch Smogorni). Der Kaiser ruft seine Marschälle zusammen, übergibt das Ober-Kommando über die verbliebenen französischen Truppen an Murat und erteilt ihm den Befehl, die Armee in Wilna zu sammeln, dort Winter-Quartier zu nehmen und die Stadt mit allen Mitteln zu halten. Spätestens im Frühling – in zwei oder drei Monaten – will der Kaiser mit einer neuen Armee zurückkehren.
Gegen 23:00 Uhr hat Napoleon seine alte Armee verlassen.
Bei 33 Grad Frost -, begleitet von den Generälen Géraud Christophe Michel Duroc, Armand-Augustin-Louis de Caulaincourt, Charles Lefebvre-Desnouettes und Georges Mouton de Lobau sowie seinem Diener und Leib-Wächter Rustam -, eskortiert von einem 30 Mann starken Zug der Jäger zu Pferd seiner Garde und geführt und gesichert von einem weiteren Zug der Chevau-legers Lanciers der Garde unter Leutnant Stanislaw Dunin-Wasowicz fährt Napoleon in seiner beheizbaren Kutsche über die Chaussee nach Oschmjany (heute Aschmjany, BLR) in Richtung Westen.
"Napoleon verlässt Smogorni"
Gemälde von Zygmunt Jordan Rozwadowski im Dwór Krasińskich (Krasiński-Herrenhaus, Opinogóra Dolna, POL; "rote" Version des Gemäldes im Kunst-Museum von Lodz).
Bildquelle: Eigene Sammlung.
"Napoleon verlässt die französische Armee bei Smorgoni"
Illustration nach einem Gemälde von Jan Bogumił Rosen in Band IV »From Life of Napoleon Bonaparte« von William Milligan Sloane, The Century Co., New York, 1896; online komplett verfügbar bei ► "books.google".
"Rückkehr Napoleons auf dem Oschmjaner Trakt 1812"
Возвращение Наполеона на Ошмянском тракте. 1812 год. Le retour de Napoléon par le cours d'Ochmjany 1812.
Postkarte No. 928 der "Edition Richard", St. Petersbourg; nach einem Motiv von Viktor Mazourovsky.
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Sa., 5. Dezember: … vor Riga.
Mit dem von Napoleon an Marschall MacDonald gerichteten Befehl, die Belagerung von Riga abzubrechen, sich mit dem X. Corps auf das westliche Ufer der Memel zurückzuziehen und entlang der Grenze eine befestigte Auffang-Stellung zu errichten, bestätigen sich die bislang nur als Gerüchte kursierenden Meldungen vom Rückzug der "Grande Armée".
Noch am selben Tag erteilt MacDonald die Marsch-Befehle: Die Masse der Kavallerie soll als Avant-Garde umgehend in Richtung der Memel-Njemen-Grenze aufbrechen und den Fluß von Kowno aus bestreifen. Auch General Grandjean erhält den Befehl zum Abzug der 7. Infanterie-Division in Richtung Grenze. Ihm soll sich die (preussische) unter General Massenbach anschließen. General Yorck erhält den Befehl, die Nachhut zu stellen.
General Filippo Paulucci, General-Gouverneur des Ostsee-Gouvernements, lädt den Kommandeur der preussischen "Belagerungs-Truppen" vor Riga, General Johann David Ludwig von Yorck, zu einem Gespräch in seinen Amts-Sitz in der Hafen-Stadt. Im Verlauf des Treffens macht der Gouverneur Yorck den mit Zar Alexander und Feld-Marschall Kutusow abgestimmten Vorschlag, den Kommandeur des X. Corps, den französischen Marschall Jacques MacDonald, gefangenzunehmen, das preussische Truppen-Kontingent mit der russischen Garnison und der nahenden russischen Armee zu vereinen und zusammen die den Preussen "zur Seite gestellten" 9.000 Mann der 7ten Infanterie-Division unter General Grandjean zur Kapitulation zu zwingen. Anschließend könne man dann gemeinsam den preussischen König befreien und den Krieg gegen die französischen Besatzungs-Truppen aufnehmen.
Umgehend sendet General Yorck seinen Adjutanten, Major Anton Friedrich Florian von Seydlitz-Kurzbach, zum Rapport nach Berlin. Der General empfiehlt König Friedrich Wilhelms III. die Annahme des russischen Bündnis-Angebots und bittet um sofortige Instruktionen.
Nachdem zehn Tage später noch immer keine Reaktion aus der über 1.000 Kilometer entfernten preussischen Hauptstadt eingegangen ist, tritt Yorck erneut mit General Paulucci in Kontakt und erklärt, mit Rücksicht auf das Schicksal seines Königs und unter Achtung des von ihm gegebenen Treue-Eides die ihm unterstehenden Truppen zwar hinter die Memel-Grenze zurückzuziehen, jedoch seinen Soldaten zu befehlen, die russischen Truppen während des Rückzugs nicht mehr als Feinde zu betrachten und Kampf-Handlungen zu unterlassen (was praktisch einer eigenmächtigen Neutralitäts-Erklärung gleichkommt). General Paulucci verspricht daraufhin, den Soldaten und Offizieren seiner Garnison und der nahenden Vorhut des Wittgensteinschen Korps unter General Hans Karl von Diebitsch-Sabalkanski die Weisung zu erteilen, dass das Yorck'sche Kontingent einstweilig den Status einer neutralen Partei führt.
Filippo Osipovitsh Paulucci (1779-1849)
General der russischen Armee, General-Adjutant des Kaisers, von 1812 bis 1829 General-Gouverneur der Ostsee-Provinzen.
Gemälde von George Dawe in der »Kaiserlichen Porträt-Sammlung verdienter Generäle des Vaterländischen Krieges« (Hermitage; St. Petersburg, RUS).
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Gemälde von xxxx im lt. »« seit 2015 in Privat-Besitz.
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So., 12. Dezember: … rund 1.300 km östlich von Paris.
Napoleon passierte am 10. Dezember Warschau ohne Aufenthalt, fährt weiter über Lodz und erreicht am Abend Glogau (heute Głogów, POL).
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Gemälde von xxxx im lt. »« seit 2015 in Privat-Besitz.
Bildquelle: ► »«.
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xx., xx. August: xxxx.
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Gemälde von xxxx im lt. »« seit 2015 in Privat-Besitz.
Bildquelle: ► »«.
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So., 20. Dezember: Die Reste der Armee treffen in Königsberg ein.
Bereits am 7. Dezember 1812 hatten die ersten Soldaten der untergegangenen "Grande Armée" die Grenze zwischen Russland und Ost-Preussen erreicht. Im Anblick der zerlumpten, ausgehungerten und vollkommen entkräfteten feindlichen Soldaten, die sich nur in kleinen Trupps und ohne jede Ordnung durch die ärmlichen alt-pruzzischen Dörfer in der Grenz-Region hin zum Sammel-Punkt nach Königsberg schleppten, wandelte sich die infolge der im Juni erfahrenen Plünderungen aufgestaute Wut der Einwohner in Mitleid für die Menschen.
Der Zug war überschaubar. Schon zehn Tage später kamen nur noch wenige Rückzügler; bis zum 20. Dezember waren auch die letzten Nachzügler durchgezogen; am 25. Dezember wurden die ersten Kosaken-Einheiten gesichtet. Insgesamt wurden von preussischer Seite rund 5.000 Soldaten gezählt, die die Grenze passierten.
"Die Trümmer der Großen Armee auf dem Rückzuge aus Rußland 1812."
Illustration von Prof. Carl Röchling u.a. aus »Die Befreiungskriege« (Verlag von Paul Kittel, Berlin 1901).
Bildquelle: ► Eigene Sammlung.
"Mit Mann und Ross und Wagen, so hat sie Gott geschlagen" (Rückkehr der Franzosen aus Russland).
Schulwandbild Nr. K.I.6 aus der Reihe »Ad. Lehmann's kulturgeschichtliche Bilder für den Schulunterricht«, Leipziger Schulbilderverlag von F. E. Wachsmuth, Leipzig.
Motiv nach einem Gemälde von Arthur Kampf für die »Grosse Berliner Kunst-Ausstellung« von 1897, danach im »Schlesischen Museum für bildende Künste«, Breslau (heute Wroclaw, POL), vermisst seit 1922.
Bildquelle: ► »DNB, Katalog der Deutschen Nationalbibliothek«.
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Sa., 26. Dezember: … 15 km westlich von Paris; Schloss Marly-le-Roi.
Während sich der Kaiser nach einer Truppen-Parade in Paris in den ausgedehnten Park-Anlagen um Schloss Marly-le-Roi, das schon von den französischen Königen als Lust-Schloss, Jagd- und Sommer-Sitz genutzt wurde und von Napoleon 1804 als Privat-Wohnsitz und Rückzugs-Ort gekauft wurde, inmitten einer Jagd-Gesellschaft vergnügt; seine Commissaires das Land durchstreifen und Rekruten für eine neue Armee ausheben, ziehen russische Truppen wieder in die Grenz-Städte Bialystok und Brest-Litowski ein. Der Befehl des Zaren, das Territorium des Russischen Reiches bis zum Jahres-Ende vollständig vom Feind zu befreien, ist damit erfüllt. Im Tages-Befehl für die Armee – »Errettung des Vaterlandes« – gratuliert Feld-Marschall Kutusow seinen Soldaten zum Sieg und fordert sie auf, "die Niederlage des Feindes auf seinen eigenen Feldern zu vollenden".
Ersten Schätzungen nach hat die "Grande Armée" an Verlusten mindestens 275.000 Tote und Vermisste und etwa 100.000 Gefangene zu beklagen. Die russischen Verluste werden mit mindestens 210.000 Mann angegeben.
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Mi., 30. Dezember: … ca. 30 km östlich der Memel-Njemen-Grenze; Tauroggen.
Von den ursprünglich 20.000 Soldaten des Preußischen Korps der Grande Armée, das allerdings nur an einem Nebenfeldzug auf
Riga teilgenommen hatte, erreichen immerhin noch 15.000 Soldaten Ostpreußen. Korpskommandeur Generalleutnant Ludwig von
Yorck schließt hier am 30. Dezember 1812 mit dem russischen General Hans Karl von Diebitsch die Konvention von Tauroggen
und erklärt sich und sein Korps für neutral. Damit hat die offene Auflehnung gegen Napoleons Herrschaft auch in Deutschland
begonnen.
30.12.: Die Russen in Memel. Kapitulation zw. Trabenfeld und Paulucci.
https://von-bastille-bis-waterloo.fandom.com/de/wiki/1812#Dezember.
31.12.: Gen. Lieut. v. Massenbach geht über den Niemen zurück und schliesst sich der Kapitulation an.
https://von-bastille-bis-waterloo.fandom.com/de/wiki/1812#Dezember.
"Konvention von Tauroggen - Der preußische General Yorck schließt einen lokalen Waffenstillstand mit Russland."
Gemälde von Georg Marschall um 1895 (wahrscheinlich mit der Zerstörung des Königsberger Schlosses vernichtet).
"30. Dezember 1812 - Der Tag von Tauroggen"
Schul-Wandbild nach einer Darstellung von Max Brösel aus der Reihe "Bilder zur Deutschen Geschichte, Volk und Staat", Tafel 4; hergestellt vom Pestalozzi-Fröbel-Verlag, Leipzig um 1925.
Abgebildet sind der preußische Generalleutnant Johann David von Yorck und der russische Generalmajor Hans von Diebitsch, die am 30. Dezember 1812 die Konvention von Tauroggen unterzeichneten.
Bildquelle: Sammlung des ► »Saarländischen Schulmuseum« (Ottweiler, GER).
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Bilanz und Ausblick
Die große Armee war vernichtet, die Unterwerfung Russlands gescheitert, der russische Krieg um das Vaterland war gewonnen.
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